50 Jahre Jom-Kippur-Krieg - Der Konflikt und die Zeit danach

Mit einem Angriff auf Israel begannen Ägypten und Syrien vor 50 Jahren den Jom-Kippur-Krieg. Die USA setzten damals auf eine rasche Beendigung der Kämpfe und auf Diplomatie. Im Ergebnis hatten sie nach Kriegsende Kredit bei beiden Parteien: Israel siegte militärisch, und Ägypten konnte sein Gesicht wahren.

Israelische Soldaten 1973 auf den Golanhöhen / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Oberst a. D. Ralph Thiele ist Vorsitzender der Politisch-Militärischen Gesellschaft in Berlin. Er diente unter anderem im Planungsstab des Verteidi­gungsministers, im Private Office des Nato-Oberbefehlshabers sowie als Direktor an der Führungsakademie der Bundeswehr. Thiele ist Herausgeber des Buches „Hybrid Warfare“ ( 2021 ). Foto: ispsw

So erreichen Sie Ralph Thiele:

Anzeige

Der Krieg in der Ukraine ist für die meisten deutschen Akteure in Politik, Medien und Streitkräften ihr erstes Rendezvous mit einer rauen, unvorstellbar mörderischen Wirklichkeit. Was muss man bedenken? Wie kann man sich vorbereiten? Was hat Priorität?

Der Jom-Kippur-Krieg oder Oktoberkrieg von 1973 gibt relevante Hinweise. Sein Beginn jährt sich in dieser Woche zum fünfzigsten Mal. Die dramatischen Ereignisse von damals veränderten den Kurs der Nahostpolitik grundlegend. Sie führten zum ägyptisch-israelischen Friedensvertrag von 1979. Sie ebneten der Neuausrichtung Kairos den Weg – weg von der Sowjetunion und hin zu den Vereinigten Staaten. Bis heute ist der Jom-Kippur-Krieg ein Lehrbeispiel für den Einsatz militärischer Mittel zu politischen Zwecken. Die Hauptbotschaft: Im Konflikt braucht man einen unverstellten Blick auf den Krieg, das Konfliktende und die Zeit danach. Der politische Sieg ist weitaus wichtiger als der militärische.

Krieg und Frieden

Am 6. Oktober 1973 griffen Ägypten und Syrien zeitgleich auf der Sinai-Halbinsel und den Golanhöhen an. Sie hatten jordanische Unterstützung. Die israelischen Streitkräfte waren nicht vorbereitet. In Minimalbereitschaft feierten sie wie ganz Israel das Jom-Kippur-Fest.

Auslöser des Krieges waren die ungelösten Probleme des Sechstagekriegs von 1967. Israel hatte damals u.a. die Sinai-Halbinsel und die Golanhöhen erobert und weigerte sich beharrlich, die eroberten Gebiete aufzugeben. Aus politischen, wirtschaftlichen und militärischen Erwägungen wollte Kairo die Kontrolle über die Sinai-Halbinsel und den Suezkanal zurück. Präsident Sadat wollte damit den Nationalstolz Ägyptens wiederherstellen, dessen regionale Stellung verbessern und die eigene innenpolitische Position stärken.

Als die ägyptischen und syrischen Truppen angriffen, zeigte sich Israel zur Überraschung der Weltöffentlichkeit völlig überrumpelt. Die wenigen verbliebenen israelischen Soldaten an der „Bar-Lev-Verteidigungslinie“ konnten die Stellungen östlich des Suezkanals nicht halten. Als israelische Verstärkung heranrückte, hatten die Ägypter ihre Brückenköpfe längst befestigt und einen Teil der Sinai-Halbinsel zurückerobert.

Der israelische Gegenangriff vom 8. Oktober scheiterte unter schweren Verlusten. Bereits in der ersten Woche verloren die israelischen Streitkräfte 44 Flugzeuge und 40 Prozent ihrer Panzer. Die 162. Panzerdivision verlor beispielsweise am 8. Oktober 83 ihrer 183 Panzer bei dem Versuch, die ägyptischen Streitkräfte in einem frontalen Panzerangriff zu schlagen. Nach einem fragilen Beginn, bei dem es zeitweise um sein Überleben fürchtete, gelang es Israel Mitte Oktober, das Blatt zu wenden. Die syrische Armee wurde zurückgedrängt. Am 16. Oktober überquerten die israelischen Streitkräfte den Suezkanal und rückten bis auf 101 Kilometer an Kairo heran.

Der Krieg endete mit einem Waffenstillstand am 25. Oktober 1973 auf Grundlage einer Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. In einem Rückzugsabkommen einigten sich Ägypten und Israel darauf, ihre Streitkräfte von den Frontlinien zurückzuziehen und Pufferzonen einzurichten. Das Abkommen von Camp David bildete im Jahr 1978 dann die Grundlage für einen historischen Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel. Der am 26. März 1979 unterzeichnete Friedensvertrag formalisierte die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern, führte eine vollständige Normalisierung ein und festigte die Rückgabe der Sinai-Halbinsel an Ägypten.

Politik mit anderen Mitteln

Vor dem Krieg sah sich Israel in einer klar dominierenden Position. Die überwältigenden Siege gegen arabische Streitkräfte in den Jahren 1948, 1956 und 1967 hatten bei der israelischen politischen und militärischen Führung den Eindruck eigener militärischer Überlegenheit gefestigt. Israels militärische Geheimdienstchefs klammerten sich an Interpretationen von Informationen, die „bestehende Vorstellungen“ bestätigten, während sie alternative Einschätzungen verwarfen.

„Die Situationen, die Sie sehen, sind nicht die, die ich sehe“, tadelte ein General einen seiner Offiziere, der am frühen Morgen des 1. Oktober Alarm schlug. Ein anderer Offizier verfasste ein Memorandum, das die ägyptischen Übungen als verkappten Aufmarsch bewertete. Doch seine Vorgesetzten weigerten sich, diese Einschätzung weiterzuleiten. Als Israel erfuhr, dass die Sowjetunion am 5. Oktober ihre Bürger in Ägypten und Syrien evakuierte, spekulierte der Generalstabschef der israelischen Streitkräfte, dass dies auf einen sowjetisch-arabischen Streit zurückzuführen sei.

 

Das könnte Sie auch interessieren: 

 

Insgesamt ging die israelische Führung davon aus, dass Ägypten keinen Krieg gegen Israel beginnen würde, solange es nicht ausreichend Luftstreitkräfte für einen Angriff in der Tiefe beschafft hatte, um Israel anzugreifen. Es sah für Ägypten lediglich die Wahl zwischen einem totalen Krieg, den Ägypten verlieren würde, oder einem endlos fortwährenden Status quo. Doch Präsident Sadat entschied sich für eine dritte Option. Er wollte einen begrenzten Krieg führen, der nicht auf die militärische Befreiung des Sinai zielte, sondern stattdessen den belastenden Status quo beendete. Dieser begrenzte Krieg sollte militärisch die Voraussetzungen für einen politischen Prozess schaffen und in der Folge zum Rückzug Israels aus dem Sinai führen.

Anwar Sadat, von 1970 bis 1981 ägyptischer Präsident, war nach dem Tod von Gamal Abdel Nasser an die Macht gekommen. Gegenüber dem eher konfrontativen Ansatz Nassers initiierte er einen Strategiewechsel mit begrenzten politischen Zielen, um verlorene Gebiete zurückzugewinnen und die nationalen Interessen Ägyptens in einem pragmatischen und flexiblen Ansatz zu sichern. Präsident Sadat spielte sein Blatt exzellent aus. Der erfolgreiche Eröffnungsangriff verschaffte ihm das innenpolitische Kapital, um mit Israel zu verhandeln, und brachte ägyptische Interessen gegenüber Israel und den Vereinigten Staaten auf Augenhöhe.

Performante Diplomatie

Bereits am ersten Kriegstag betonte US-Außenminister Henry Kissinger gegenüber dem Stabschef des Weißen Hauses: „Es gibt keine Entschuldigung mehr für eine Verzögerung. Nachdem wir die Kämpfe beendet haben, sollten wir dies als Mittel nutzen, um die Diplomatie in Gang zu bringen.“

Er managte den Verlauf der Feindseligkeiten geschickt, um die Möglichkeiten der Nachkriegsdiplomatie zu wahren. Im Krieg selbst ging es ihm um zwei entscheidende Punkte. Zum einen wollte er Israels Gegnern die Sinnlosigkeit eines von der Sowjetunion unterstützten arabischen Militarismus demonstrieren, indem er die Niederlage des israelischen US-Verbündeten verhinderte; zum anderen wollte er den Kontakt mit beiden Kriegsparteien aufrechterhalten, um die späteren Ereignisse beeinflussen zu können.

Im Ergebnis hatten die USA nach Kriegsende Kredit bei beiden Parteien: Israel war dankbar für die massive militärische Luftbrücke der USA in den Stunden der Not; Ägypten war den USA dankbar, dass sie Israel stoppten, als es sich aufmachte, seinen Siegeszug zu vollenden.

Kissinger hielt während des Konflikts fast täglich Kontakt mit seinen ägyptischen Gesprächspartnern. Er versicherte Kairo, dass sich die Vereinigten Staaten nach dem Krieg für einen politischen Prozess einsetzen würden. Seinen Worten folgten Taten, als er der von Israel eingekreisten Dritten Armee Ägyptens zu Hilfe kam. Deren Vernichtung hätte zu einer ganzen Kaskade von Katastrophen führen können, darunter auch das Risiko eines Konflikts zwischen den beteiligten nuklearen Großmächten.

Fazit

Im Jom-Kippur-Krieg hat Israel trotz erheblicher Blessuren militärisch klar gewonnen. Ägypten gelang demgegenüber ein politischer Coup.

Was können wir – auch mit Blick auf den Konflikt in der Ukraine – für die Krisen- und Konfliktbewältigung politisch und militärisch lernen? Vier Erkenntnisse ragen heraus:

•    Der politische Sieg ist wichtiger als der militärische.
Sadat und Kissinger haben dies damals verstanden. Im Ukrainekonflikt fehlt bislang ein vergleichbares Verständnis, zudem nachhaltiger Einsatz und erkennbarer Ehrgeiz für politische Lösungen.

•    Man braucht von Anfang an eine klare politische Zielsetzung für das Konfliktende und die Zeit danach.
Ägypten, die USA und später auch Israel hatten im Oktoberkrieg eine kongruente Nachkriegsvision. Im Ukrainekrieg gibt es dagegen bislang nur vage Vorstellungen und diese auch nur zur Zukunft der Ukraine. Was ist mit den anderen Beteiligten, Betroffenen und Regionen?

•    Eine valide Lagebeurteilung verträgt keine Voreingenommenheit.  
Die israelische Überheblichkeit und Voreingenommenheit spielten vor allem den Ägyptern in die Hände. Sie finden heute ihr Pendant in der Selbstüberschätzung des Westens einschließlich der Nato und der Geringschätzung russischer Fähigkeiten und Optionen sowie der weitgehenden Ausblendung der Auswirkungen des Ukrainekonflikts auf die geopolitische Zeitenwende außerhalb Europas.

•    Militärische Operationskunst rechnet sich für Politik.
Nach 1967 hatten die ägyptischen Streitkräfte ihre militärischen Hausaufgaben gemacht – materiell und auch konzeptionell. Sowohl Kairo als auch Damaskus erwarben von ihrem sowjetischen Schutzherrn hochentwickelte neue Waffen, darunter Boden-Luft-Raketen und Flugabwehr-Artillerie. Hinzu kamen revolutionäre – auch für den Nachtkampf geeignete – Systeme zur Abwehr israelischer Panzerverbände. Operativ hatten die Ägypter Rommel studiert, aber auch israelische Operationskunst. Mit wachsendem professionellem Können wuchs die Kampfmoral. Die ägyptischen Streitkräfte waren 1973 fit für die Umsetzung der politischen Vorgaben ihres Präsidenten.

Die Streitkräfte des Westens zeigten sich beim russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 insbesondere hinsichtlich der eigenen Einsatzbereitschaft nur mangelhaft vorbereitet. Noch immer sind sie nicht fit für eine ggf. eskalierende russische Aggression. Verstehen die deutschen politischen Schlüsselakteure inzwischen, dass sie auch eigene leistungsfähige und -bereite Streitkräfte als Mittel der Politik brauchen?

Anzeige