Außerte sich in Davos widersprüchlich zur Zinspolitik: EZB-Chefin Christine Lagarde / dpa

Der Ruf nach Leitzinssenkung kommt verfrüht - Keine Entwarnung an der Inflationsfront

Strukturell stehen die Zeichen weiter auf Inflation. Auch wenn sich an den Finanzmärkten Zinssenkungseuphorie breitmacht, sollte die EZB geldpolitisch gegensteuern. Die jüngsten Äußerungen von EZB-Chefin Lagarde sind leider nicht dazu angetan.

Autoreninfo

Roland Wöller ist Abgeordneter (CDU) im sächsischen Landtag und Professor für Volkswirtschaftslehre. Von 2017 bis 2022 war er Staatsminister des Innern in Sachsen.

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Inflation war lange verschwunden und schien für manche schon endgültig besiegt. Ganze Generationen von Zentralbankern konnten sich weniger auf Erfahrung sondern nur auf wissenschaftliches Lehrbuchwissen oder Diskussionen in akademischen Zirkeln stützen. Opas Hyperinflation vor 100 Jahren, die die junge Demokratie in Weimar nicht nur ökonomisch erschütterte, sondern auch dazu beitrug, diese politisch zu zerrütten, schien weit weg. 

Entsprechend lax wurde der Umgang der EZB mit dem Stabilitätserbe der Bundesbank. Statt die Preisniveaustabilität fest im Blick zu behalten, wie es dem gesetzlichen Auftrag der EZB entspricht, rückten andere Ziele wie die günstige Schuldenfinanzierung von Mitgliedstaaten der Eurozone in den Fokus. Sicher, die Finanzkrise von 2007/8 erforderte entschlossenes Handeln der EZB, der es dann auch gelang, die Märkte durch die Flutung mit viel Liquidität zu beruhigen. Der damalige Chef der US-Notenbank FED, Ben Bernanke, gab die Richtung vor. Wie im 19. Jahrhundert sollte die Notenbank bei einer Bankenkrise, die sich zu einer Finanz- und Wirtschaftskrise auszuweiten droht, Geld drucken und dieses in den Wirtschaftskreislauf pumpen. 

Das von Walter Bagehot 1873 in seinem Buch „Lombard Street“ formulierte Prinzip, die Notenbank könne als monetäre Feuerwehr immer Geld drucken (lender of last resort), war erklärte Blaupause zur Bekämpfung der letzten Finanzkrise. Dafür lassen sich der spätere Wirtschaftsnobelpreisträger Bernanke und Ex-EZB-Chef Mario Draghi bis heute feiern. Was geflissentlich unter den Tisch gekehrt wird, ist die Tatsache, dass der Herausgeber des Economist und Ökonom Bagehot die Liquiditätsflut der Notenbank seinerzeit an drei wesentliche Kriterien geknüpft hat: 1. Darlehen an den Bankensektor nur befristet, 2. gegen hohe Zinssätze und 3. nur gegen gute Sicherheiten. Gemessen daran war die Notenbankpolitik zur Bekämpfung der Finanzkrise keine einmalige (berechtigte) Rettungsaktion sondern monetäres Dauerdoping. Mit entsprechenden realwirtschaftlichen Folgen bis heute. 

Die EZB hat sich von der Politik des Stabilitätsvorbildes der Bundesbank verabschiedet

Banken und hochverschuldete Staaten hingen lange am Tropf von Null- und zeitweise Negativzinsen. Entsprechend hoch sind die Riesenbestände an angekauften Staatsanleihen der Eurozonenstaaten in der EZB-Bilanz. Ein Einstieg in den Ausstieg aus der expansiven Geldpolitik erfolgt aber nur zögerlich und tröpfchenweise. Ebenso spät, für viele zu spät, reagierte die EZB und erhöhte den Leitzins auf 4,5%. Mit 5,9% lag die Inflationsrate in Deutschland im Jahresdurchschnitt 2023 zwar niedriger als ein Jahr zuvor. Gleichwohl ist dies der zweithöchste Wert seit der Wiedervereinigung. Einige verweisen zwar auf den statistischen Basiseffekt der ausgelaufenen Energiehilfen durch den Bund. Dies ist aber für die Verbraucher, die durchschnittlich 12,4% mehr für Nahrungsmittel ausgeben mussten, ein schwacher Trost. 

 

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Und schließlich hat sich die EZB auch von der Politik des erklärten Stabilitätsvorbildes der Bundesbank verabschiedet. Unterschiede in der Bonität der unterschiedlichen Euro-Staaten werden von der EZB einfach nicht mehr gemacht, obwohl der Markt unterschiedliche Risikoeinschätzungen vornimmt. Staatsanleihen, die die Notenbank aufkauft, werden einfach als 100% sicher eingestuft, und das trotz Schuldenschnitt für Griechenland. Damit kann man bequem ohne Limit weiter die Staatsverschuldung besonders der hochverschuldeten Südländer der Eurozone fördern. Darüber hinaus werden auch Anleihen von Unternehmen angekauft, was nie Politik der Bundesbank war. 

Mehr Staatsschulden bedeuten Druck auf das Preisniveau

Fazit: Die EZB ist ebenso weit entfernt von einer stabilitätsorientierten Geldpolitik wie vom erklärten Inflationsziel von 2%. Und strukturell stehen die Zeichen weiter auf Inflation. Das hat mehrere Gründe. Erstens: Durch die milliardenschweren Ankaufprogramme der EZB ist reichlich Überschussliquidität im Markt. Hans-Werner Sinn spricht von „Zunder“. Wird dieses Geld nachfragewirksam, steigt das Preisniveau. Zweitens: Auch von staatlicher Seite kann keine Entwarnung gegeben werden. Mehr Staatsschulden bedeuten Druck auf das Preisniveau. In Deutschland diskutiert die Bundesregierung denn auch weniger über Ausgabenkürzungen und Schuldenabbau, sondern darüber, wie sie die besonders bei Grünen und SPD ungeliebte Schuldenbremse über Bord werfen kann. 

Drittens: Die geopolitischen Spannungen mit Kriegen in der Ukraine und in Nahost haben die Risiken der Globalisierung schonungslos offengelegt. Energiesicherheit, höhere Transportkosten und Reintegration von Wertschöpfungsketten (reshoring) führen zu höheren Produktionskosten und niedriger Produktivität. Viertens: Die Demografie hat einen dämpfenden Effekt auf das globale Güterangebot. In China schrumpft im zweiten Jahr hintereinander die Bevölkerung und damit das Arbeitskräfteangebot. In Deutschland kommt trotz starker Zuwanderung nur ein geringer Teil auf dem Arbeitsmarkt an. Dies liegt auch an stark steigenden Transferzahlungen wie dem Bürgergeld, das die Anreize, arbeiten zu gehen, stark dämpft, trotz hoher Nachfrage nicht nur nach Fachkräften. Ein sinkendes Arbeitskräfteangebot und damit Güterangebot übt bei gleichbleibender Nachfrage eher Druck auf das Preisniveau aus. 

Ergo: An der Inflationsfront kann alles andere als Entwarnung gegeben werden. Auch wenn sich an den Finanzmärkten Zinssenkungseuphorie breitmacht, sollte die EZB geldpolitisch gegensteuern. Nicht nur tatsächlich, sondern auch rhetorisch. Die jüngsten Äußerungen von EZB-Chefin Lagarde sind leider nicht dazu angetan. Einerseits warnte sie auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, „dass das größte Risiko wäre, wenn wir die Zinsen zu schnell senken würden“. Andererseits spekulierte sie bei Bloomberg-TV, sie halte es „für wahrscheinlich, dass der EZB-Rat im Sommer oder bereits zuvor mehrheitlich für erste negative Zinsschritte stimmt“. Bei so viel Widersprüchlichkeit kommen Erinnerungen an den legendären US-Notenbankchef Alan Greenspan auf, der gesagt hat: „Wenn sie meinen, ich hätte mich klar ausgedrückt, dann haben sie mich möglicherweise falsch verstanden.“

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Karl-Heinz Weiß | Mo., 22. Januar 2024 - 16:20

Danke für diese prägnante Zusammenfassung des Problems. Dazu könnte man das Bonmot von Herrn de Maizière leicht abwandeln : "Erkenntnisse der EZB könnten die Bevölkerung beunruhigen". Die durch die Nullzinspolitik ausgelöste Immobilienkrise ist noch lange nicht ausgestanden. Und mir ist weiterhin unklar, wo die Milliardenhilfen für Griechenland, Italien & Co. letztendlich versickern.

Henri Lassalle | Mo., 22. Januar 2024 - 16:25

nicht darf. Das Kernproblem ist der Euro, das Luftschloss "Vereintes Europa" und die de facto-Verschuldung der sogen. Südländer. Es war eine naive Illusion zu glauben, diese Länder würden bald das Niveau der übrigen Industriestaaten erreichen, Subventionen und Kredite würden es schon richten.
Die Ungleichheiten bezüglich Wirtschaftleistungen in Europa u. ihre Auswirkungen lassen auch künftig nicht Gutes ahnen. Das Geld wird weiter an Wert verlieren.
Schon die "Lateinische Währungsunion", die bis 1914 und in der Schweiz darüber hinaus existierte (Deutschland war nicht Mitglied), war mit Schwierigkeiten belastet, obwohl sie auf dem Goldstandard beruhte: Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Unterschiede waren zu gross für eine gemeinsame Währung. Ohne das Gold hätte es überhaupt nicht funktioniert.
Die Inflation wird also nicht wesentlich gedämpft, es wird teurer, die Mieten werden weiter steigen......Ich wünsche den Bürgern Courage. Die geringen Einkommen tragen die Hauptlast.

Tomas Poth | Mo., 22. Januar 2024 - 17:19

Um die Inflation richtig zu messen müßte der sog. Warenkorb, der als Vergleichsmaßstab gilt, erst mal auf reale Füße gesetzt werden!
Vielleicht brauchen wir verschiedene Warenkörbe, die die Realität verschiedener Verbraucher/Nutzergruppen widerspiegeln.
Zusätzlich vielleicht auch regelmäßig die Preissteigerungen nach Warengruppen öffentlich darstellen.
Wirtschaftstheorien gibt es viele, als Grundlage aller Missverständnisse und Fehlinterpretationen, keine ist der Weisheit letzter Schluß.

Tomas Poth | Di., 23. Januar 2024 - 11:08

Antwort auf von Tomas Poth

Täglich erfahren wir gegen 20:15 über das Wetter für die nächsten Tage.
Dann macht doch einmal die Woche an selber Stelle das "Wirtschaftswetter".

Christoph Kuhlmann | Mo., 22. Januar 2024 - 23:33

a) Die steigende LKW-Maut, b) die Co2 Steuer, c) die zusätzliche Belastung der Bauern, die mit ihren Landmaschinen überwiegend auf dem eigenen Acker fahren und deshalb von einem Teil der Dieselsteuer ausgenommen wurden. Ich rechne mit steigernder Inflation.