Der Wokeness-Wahn, Teil 4 - Woke Washing: Blendwerk für den politisch korrekten Konsum

Auch in der Wirtschaft treibt die Identitätspolitik die buntesten Blüten. Viele Unternehmen gerieren sich als Verfechter der Political Correctness und bekennen sich werbewirksam zum woken Zeitgeist. Doch nicht selten handelt es sich nur um Lippenbekenntnisse, die soziale Ungerechtigkeiten eher verdecken als bekämpfen. Dann spricht man neuerdings von Woke Washing. Dabei ist das Prinzip nicht neu, sondern funktioniert schon seit Jahren. Aber warum eigentlich?

Illustration: Zoonar, Svetlana Foote/dpa; Fotomontage: Dominik Herrmann
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Autoreninfo

Philipp Fess hat Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften studiert und arbeitet als Journalist in Karlsruhe.

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Im Rückblick ist „Saufen für den Regenwald“ Pionierarbeit gewesen. Fernsehmoderator Günther Jauch war in den frühen 2000er Jahren sowohl Botschafter der deutschen Biermarke Krombacher und deren ehrenvollem Vorhaben, mit jeder Kiste zum Erhalt der grünen Lunge beizutragen, als auch Botschafter einer neuen Ära des Marketings, in der sich passiver Konsum und politischer Aktivismus vermählen sollten. 

„Brand Activism“, wie der seltsame Spross dieser Ehe später getauft wurde, war jedoch nicht unbedingt eine Bereicherung für die Welt, eher im Gegenteil. Denn Kritikern galt die Krombacher-Kampagne als frühe Form des „Greenwashing“, bei dem das Unternehmen einen guten (in diesem Fall eben „grünen“) Zweck als Marketinginstrument missbrauchte und damit seine weniger am guten Zweck ausgerichteten Geschäftsinteressen übertünchte (Engl.: „to whitewash“). Am Schluss floss mehr Geld in die Werbung als in die Rettung.   

Vom Greenwashing zum Woke Washing

Seit dem ersten Regenwald-Spot ist viel Zeit vergangen, und das Prinzip des Greenwashings hat sich – nicht zuletzt dank Greta Thunberg und der UN-Agenda für nachhaltige Entwicklung – erfolgreich auch in solchen Unternehmen etabliert, deren Geschäftsinteressen dem Umweltschutz kaum offenkundiger entgegenstehen könnten. Darunter etwa die Öl-Riesen British Petrol und ExxonMobil, die weltgrößte Schattenbank BlackRock oder zuletzt sogar die deutsche Rüstungsindustrie.

Meist sind es dieselben Unternehmen, die sich nicht nur ökologisches, sondern auch soziales Engagement auf die Fahne geschrieben haben. Im Jahr 2022 ist der Kampf gegen soziale Ungleichheit nicht länger ein Arbeitskampf der 99 Prozent, sondern beschränkt sich weitgehend auf die „Inklusion“ einer Minderheit von identitätspolitischen Interessengruppen (und damit genau darauf, woran die Occupy-Bewegung Beobachtern zufolge gescheitert ist): Diversität will gefördert, Diskriminierung verhindert werden. Werden diese Bemühungen aber nicht konsequent verfolgt, sondern einzig dazu genutzt, sich bei der politisch-korrekten Community anzubiedern, bezeichnen Kritiker das als Woke Washing. 
 

In dieser Reihe bisher erschienen:


Cicero-Leser kennen den Klassiker: Die deutschen Automarken, die zum „Pride Month“ ihre westlichen Social-Media-Accounts mit Regenbogenfarben schmücken, in den homophoben arabischen Ländern aber darauf verzichten, weil ihnen das Geschäft dann doch wichtiger ist als die Solidarität. Es ist außerdem keine Seltenheit, dass dort, wo das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung groß-, Arbeitnehmerrechte wiederum kleingeschrieben werden.

Ein Phänomen, das sich quer durch alle Branchen zieht – ob es sich dabei um Mode, Lebensmittel oder Möbel handelt. Wollten sie wirklich für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen, könnten viele Unternehmen zudem eine ganz einfache Strategie verfolgen: ihre Steuern zahlen. Aber wie konnte es überhaupt zu dieser seltsamen Vermählung von Politik und Konsum kommen, die auch dazu führt, dass deutsche Unternehmen fürs Impfen werben oder die Ukraine-Flagge hissen

Ethischer Konsum    

Im Zeitalter von Internet und Instagram lebt der Mensch mehr denn je in einem „durch Bilder vermittelten Verhältnis zwischen Personen“, wie es die französische 68er-Ikone Guy Debord einmal formuliert hat. Wer in der virtuellen „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ (George Franck) bestehen will, muss sich inszenieren, schließlich: vermarkten. Und, wie Krieg und Kino gleichermaßen lehren, ist der Kampf von Gut gegen Böse der kleinste gemeinsame Nenner, mit dem sich Menschen über soziokulturelle Grenzen hinweg mobilisieren lassen. Wer für das Gute kämpft, bekommt den größten Zuspruch und generiert so das meiste (soziale) Kapital. Daraus ist mittlerweile ein regelrechter Überbietungswettbewerb des „virtue signalling“ entstanden. Aber warum verkauft sich gerade Identitätspolitik so gut? 

Zum einen zeigen Umfragen, dass wir in einer tendenziell eher apolitischen Zeit leben, in der die Hintergründe politischer Entscheidungen als schwer durchschaubar und die Entscheidungsträger als wenig vertrauenswürdig erlebt werden. In solchen Zeiten befriedigen identitätspolitische Themen (auf linker wie auf rechter Seite des politischen Spektrums) das Bedürfnis nach einem Politisierungs- und Ermächtigungsangebot, das schnell und unkompliziert konsumiert werden kann. Perfekt zugeschnitten auf eine Welt, „in der es für das Bekenntnis zu sozialer Gerechtigkeit nicht mehr braucht, als einen Facebook-Status“, wie der weißrussische Digitalisierungskritiker Evgeny Morozov 2011 schrieb. Er nannte das „slacktivism“ (von Engl.: „slack“ = schlaff).

 

 

Andererseits könnte auch das eine entscheidende Rolle spielen, was der slowenische Philosoph Slavoj Žižek in Bezug auf die US-amerikanische Café-Kette Starbucks 2010 den „Kauf der eigenen Absolution“ genannt hat: Im „kulturellen Kapitalismus“ sei der Kunde bereit, einen höheren Preis zu zahlen, wenn ihm suggeriert werde, dass er als „ethischer Konsument“ nicht Teil des Problems, sondern sogar Teil der Lösung ist. Im Marketing spricht man vom „brand purpose“, der „corporate social responsibility“ oder „Unternehmen mit Haltung“. Im Geschäftsportfolio entsprechender PR-Agenturen liest sich das in etwa so: Die neue Chance für Marken besteht nicht nur darin, zusätzliche Produktvorteile zu vermarkten, sondern einen höheren Zweck zu verkörpern, der dem Streben der Verbraucher nach einem guten Leben dient.

Žižek nennt das in Anlehnung an den tschechoslowakischen Kommunistenführer Alexander Dubcek „Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“. Eine Marketingstrategie, bei der der Neoliberalismus die Werte seiner Widersacher kapert, um sich gegen deren Kritik zu immunisieren. Eine Strategie, die man Žižek zufolge auch beim sogenannten Philanthrokapitalismus und privaten NGOs beobachten kann, wie sie etwa vom eBay-Gründer Pierre Omidyar oder dem Investor George Soros gefördert werden, der Žižek zufolge „mit der einen Hand einreißt, was er mit der anderen baut“. 

Grenzen und Grenzüberschreitungen

Bei alledem soll nicht unerwähnt bleiben, dass es Unternehmen geben mag, die es mit der „corporate social responsibility“ tatsächlich ernst meinen und aus voller Überzeugung für gewisse Werte und Ziele eintreten. Auch Krombacher bemüht sich mittlerweile offenbar darum, ein „grünes“ Image aufzubauen, das den Namen auch verdient hat. In vielen Fällen lässt sich aber nur schwer herausfinden, wann die Firmen es ernst meinen – und wann es sich nur um den im Kapitalismus allgegenwärtigen „ideologischen Mechanismus [handelt], der die Verbraucher glauben machen will, dass eine Ware einen symbolischen Wert hat, der über ihrem wirtschaftlichen Wert liegt“, wie es der Soziologe Christian Fuchs einmal auf den Punkt gebracht hat.

Darüber hinaus gilt es zu bedenken, dass Woke Washing auch ziemlich in die Hose gehen kann. Der Begriff soll ja kurioserweise auch nicht von den Kritikern aus der Zivilgesellschaft, sondern 2019 vom Chef des Lebensmittelmultis Unilever salonfähig gemacht worden sein, als er davor warnte, dass fadenscheinige Bekenntnisse zum politisch-korrekten Zeitgeist dem Ruf eines Unternehmens mehr schaden als nutzen können – vor allem, wenn allzu plumpes Woke Washing auffliegt, so wie zuletzt bei der Kampagne des kanadischen Pipeline-Unternehmens TC Energy, das sich mit indigenen Testimonials die Absolution für seine Eingriffe in die Natur erteilen wollte. 

Hinter der Annäherung an den woken Zeitgeist muss aber gar nicht immer die Absicht stehen, sich auf dessen Kosten zu bereichern. Denn zur Wahrheit gehört auch, dass Unternehmen, die sich von (vermeintlichen) Affronts gegen die woke Community nicht ausreichend distanzieren, Gefahr laufen, (teilweise durch sogenannte pressure groups) öffentlich in Misskredit zu geraten und zahlende Kunden zu verlieren. Prominente Beispiele sind die Eskapaden um Netflix und den US-Komiker Dave Chapelle, Spotify und den Podcast-Moderator Joe Rogan sowie – in Deutschland – die mutmaßlich geschäftspolitisch motivierte Reaktion des Springer-Chefs Mathias Döpfner auf einen Artikel, der den medialen Umgang mit dem Phänomen der Transidentität kritisiert hatte. 

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