Wohlstand in Gefahr - Stresstest für Demokraten

Den Deutschen steht angesichts der wirtschaftlichen Turbulenzen eine Prüfung bevor: Werden sie die Demokratie auch dann noch verteidigen, wenn sie plötzlich nicht mehr Wohlstandsgarant ist?

Hält die deutsche Demokratie einen Wohlstandsverlust durch den Ukraine-Krieg aus? / dpa
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Frank A. Meyer ist Journalist und Kolumnist des Magazins Cicero. Er arbeitet seit vielen Jahren für den Ringier-Verlag und lebt in Berlin.

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Zuerst, getragen-gemessen, das Deutschlandlied „Einigkeit und Recht und Freiheit“, dann, feierlich-fröhlich, die Europahymne mit dem Götterfunken „An die Freude“: Joseph Haydn und Ludwig van Beethoven – vereint zu deutsch-europäischer Innigkeit. So verabschiedet Deutschlandradio täglich den Tag. Was könnte das deutsche Herz und den deutschen Stolz stärker bewegen? 

Die deutsche demokratische Kultur ist angekommen: in Europa – im Westen, wie Europas bedeutendster Geschichtsdenker Heinrich August Winkler in seinem Werk „Der lange Weg nach Westen“ erleichtert seufzend feststellt. Der Zusammenklang der radiophonen Mitternachtsmelodien symbolisiert mit verhaltener Feierlichkeit: Deutschland ist Europa – und umgekehrt. 
Also „alles gut“ – um es mit einer gerade angesagten Konversationsfloskel auszudrücken? 

Bisher galt: Am Anfang war das Wirtschaftswunder, das die erste Generation der Bundesrepublik beglückte; dann das Wirtschaftswunder, das die Generation der 68er zur Rebellion provozierte; dann das Wirtschaftswunder, das ihren langen Marsch in die Institutionen beförderte; schließlich das Wirtschaftswunder, das die Kinder der Kinder der Kinder all der Wirtschaftswunder auf die narzisstische Idee brachte, sie seien „die letzte Generation“, festgeklebt an Autobahnauffahrten, um den klimazerstörerischen Verkehr zu stoppen

Vom Nachkrieg zum Kinderkrieg. 

Ist das Wirtschaftswunderland auch das Demokratiewunderland? Bisher galt dies. Die Grundlage lieferte das Grundgesetz – die klug-konsequente Korrektur der Weimarer Verfassung plus Freiheitsinspiration durch die westalliierten Paten Frankreich, Großbritannien und USA. Patriotismus als Verfassungspatriotismus. Vor Deutschland muss sich niemand mehr fürchten. Nicht einmal die Deutschen. 

Der Wandel von der Täternation zur Musternation: Das Demokratiewunder identisch mit dem Wirtschaftswunder, dieses zur Selbstverständlichkeit verwobene Gelingen deutete die Demokratie als wirtschaftlichen Erfolg. Und festigte die Überzeugung: Demokratie bringt wirtschaftlichen Erfolg. 

Doch was nun? Der wirtschaftliche Erfolg bricht gerade dramatisch ein: Energiequellen versiegen, Lebensmittelpreise explodieren, Lieferketten brechen auseinander, Absatzmärkte sind in der Krise, Sommerhitze kündet vom Klimakollaps – dazu von morgens bis abends die Detonationen des Ukrainekriegs. 
Haydn und Beethoven gibt’s erst zur Mitternacht. Durch die heißen Tage aber besingt der Ballermann-Hit „Layla“ eine Puffmutter: Vulgarität in vulgären Zeiten mit vulgären Problemen – müssen die Deutschen mit kaltem Hintern überwintern? Zum ersten Mal seit dem Krieg? 

Demokratie ist nur die Werkstatt

Das wäre vielleicht nicht einmal das Schlimmste, würde es nicht das Nachkriegsprinzip infrage stellen und die Demokratie ihrer Identität mit dem Wirtschaftswunder berauben! Erträgt Deutschland so viel Zeitenwende? Übung hat die bundesrepublikanische Gesellschaft mit einem solchen Verlauf der Zeitläufte keine. 

Wenn die Demokratie plötzlich nicht mehr leistet, was man ihr zugeschrieben hat – Wohlstand für alle, soziale Sicherheit für immer, Zukunftsaussichten für die Jugend –, was bleibt dann von der Demokratie? Wer liebt sie noch unter solch misslichen Umständen? Die große Mehrheit? Eine Mehrheit? Nur mehr eine Minderheit? 

Darum geht es bei dem Lernprozess, der gerade einsetzt: zu erkennen, dass Demokratie zu keiner Leistung verpflichtet ist. Sie garantiert die Freiheit des Einzelnen und der Gesellschaft. Sie bildet die Struktur, in der freiheitliche Politik gedeihen und gestalten kann. Sie ist, wie Winston Churchill feststellte, „die Werkstatt“ der offenen Gesellschaft. 
Wenn in dieser Werkstatt taugliche Möbel hergestellt werden, ist das die Leistung der Handwerker. Werden darin untaugliche Möbel hergestellt, kann die Werkstatt nichts dafür. 

Nicht die Demokratie hat zu leisten – sondern die Demokraten. 

Zugegeben, das klingt banal. Doch ist die Weimarer Demokratie nicht zuletzt an dem Missverständnis gescheitert, sie leiste wirtschaftlich zu wenig. 
Dieses Missverständnis klingt wieder an, wenn vom deutschen „Geschäftsmodell“ zu hören und zu lesen ist, womit man im Grunde das fortwährende Wirtschaftswunder meint. Gibt es nicht „Geschäftsmodelle“ ohne Demokratie, beispielweise das global erfolgreiche China, wo sich Volkswagen mit Produktion wie Absatz pudelwohl fühlt, KP-Diktatur hin oder her? Auch Singapur wäre ein Beispiel für ökonomische Leistung durch autoritäre Verhältnisse, wie ein Zürcher Professor empfiehlt: Dort werden die „Leistungen der Regierung anhand von Leistungskennzahlen gemessen und in regelmäßigen Abständen überprüft und beurteilt“. Wie verführerisch wirken solch hochaktuelle Narrative auf verunsicherte Bürgerinnen und Bürger?

Olaf Scholz führt in sehr, sehr gewöhnungsbedürftigen Zeiten eine sehr, sehr ungewöhnliche Koalition an: drei Parteien von akzentuierter Unterschiedlichkeit, ungeübt im gemeinsamen Regierungsgeschäft – irgendwie schweizerisch, regieren in der Eidgenossenschaft doch vier Parteien gemeinsam, allerdings schon seit 1959, als Lernbeispiel für die deutsche Polit-Kultur also nur bedingt verwendbar. Der Bundesrepublik, dieser vorbildlich großzügigen EU-Nation, fehlen tiefer wurzelnde demokratische Tugenden als Wert an sich, als Freiheitsraum ohne Verpflichtung zu irgendeiner Legitimation. Die Schweizer riefen ihre Republik am 12. September 1848 aus, angeführt von Freisinnigen, also Liberalen, also Radikalen – alles im reinen Geiste der freien Entfaltung souveräner Bürger, gefolgt von einer pragmatischen Geschichte demokratischer Vernunft und direkter Demokratie. 
Alles sehr bewundernswert. Leider nicht nachahmbar. 

Die Ampelkoalition steht am Anfang eines ganz eigenen Schweizer Weges: Überzeugt sie mit der Entwicklung einer exekutiven Viel-Parteien-Kultur, einer Kultur der transparenten Debatte unter programmatisch konträr aufgestellten Partnern, dann macht sie den entscheidenden Schritt zur gesicherten westlich-deutschen Demokratie – einer Demokratie, die politisches Misslingen erträgt, weil sie mehr ist als wirtschaftliches Gelingen. 

Demokratie ist ein lernendes System – oder sie ist nicht. 

Gelernt wird, jeder weiß es, vor allem aus Fehlern. Was nicht jeder weiß: Demokratische Kultur besteht darin, dass Citoyennes und Citoyens die Fehler nicht dem System anlasten, dass sie ihren gewählten Regierenden sogar Fehler zugestehen, ohne in kollektive Schreikrämpfe zu verfallen. 

Die tastende, stolpernde, diskutierende, sich widersprechende und unablässig selbst korrigierende Ampel: eine Chance für Deutschland. Der frühere französische Präsident François Mitterrand hat gesagt: „Man muss der Zeit Zeit lassen.“ 
Deutschland Zeit lassen in neuer Zeit.

 

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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