Outsourcing-Standort Philippinen - Wenn ein deutsches Glasfasernetz in Manila geplant wird

Erst haben westliche Firmen einfache Arbeiten in günstigere Länder verlagert. Jetzt folgen anspruchsvolle Jobs. Digitalisierung und Fachkräftemangel sind die Treiber dieser Entwicklung. Ein Profiteur: die Philippinen.

Blick über Manila / dpa
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Felix Lill ist als Journalist und Autor spezialisiert auf Ostasien.

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„Hmmm“, flüstert Jonnine Bautista vor sich hin, als sie den Scheideweg in Schwäbisch Gmünd abfährt. „Ich glaube, hier können wir nicht bohren.“ Die Bäume, die dort am Wegesrand stehen, kennt sie zwar nicht beim Namen, hat sie aber in vielen anderen Orten schon gesehen. „Unterm Grund haben die eher tiefe Wurzeln“, weiß die 30-Jährige und überlegt: „Dann müssen wir die Löcher eben irgendwo in der Nähe bohren.“ 

Bautista plant das Glasfasernetz für Schwäbisch Gmünd, damit die Menschen der baden-­württembergischen Stadt schneller im Internet surfen können, die Betriebe wettbewerbsfähiger werden. „Prinzipiell könnten wir so etwas schnell erledigen“, sagt Bautista. „Aber für die Bohrungen und die Verlegung der Rohre und Kabel brauchen wir natürlich eine Genehmigung.“ Und die Behörden seien manchmal unberechenbar.

Mit den Besonderheiten der deutschen Flora, der Planungsämter und dem nötigen Durchmesser von Bohrlöchern kennt sich Jonnine Bautista bestens aus. Obwohl die Ingenieurin noch nie in Deutschland war. Sie sitzt am Schreibtisch eines Wolkenkratzers in Makati, einem Geschäftsviertel der philippinischen Hauptstadt Manila, und klickt sich durch 3-D-Karten deutscher Kommunen. „Es kommen regelmäßig neue Aufträge“, berichtet Bautista. Und sie weiß: Ohne ihre Arbeit wäre man am anderen Ende der Welt aufgeschmissen. Die Filipina arbeitet für das mittelständische Planungsbüro Seim & Partner aus Wiesbaden, das auf den Glasfaserausbau spezialisiert ist. Aber sie arbeitet eben nicht, wie man es vermuten würde, von der Zentrale in der hessischen Landeshauptstadt aus. Denn dort sind Menschen mit ihren Qualifikationen kaum noch zu finden. 

Das Problem ist akut

Wie in jeder Industrienation machen sich auch in Deutschland die Folgen des demografischen Wandels bemerkbar. Das Bundeswirtschaftsministerium erwartet, dass die Arbeitsbevölkerung bis 2060 um ein Drittel schrumpfen wird, sofern der Alterungstrend nicht durch massive Einwanderung aufgefangen wird. Zahlreiche Studien zeigen gar, dass Deutschlands Wirtschaftsleistung schon heute deutlich höher wäre, gäbe es keinen Fachkräftemangel. 

Das Problem ist akut, und zwar in allen möglichen Branchen. Das Wirtschaftsministerium schreibt in einem Report: „352 von 801 Berufsgattungen sind aktuell mit Fachkräfteengpässen konfrontiert.“ Das Wirtschaftsforschungsinstitut ifo dokumentiert mit seiner Konjunkturumfrage unter 9000 deutschen Betrieben, dass es rund 40 Prozent von ihnen an Arbeitskräften mangelt. In der Rechts- und Steuerberatung liegt dieser Anteil gar bei drei Vierteln, im Verkehrs-, Architektur- und Ingenieursbereich bei zwei Dritteln. Jeder zweite Betrieb sieht hierin die größte Zukunftsgefahr. 

Denn wie soll man Geschäftsprozesse – und damit die Funktionsfähigkeit einer Gesellschaft – noch aufrechterhalten, wenn es keine Leute gibt, die die Jobs erledigen? Längst nicht jede Tätigkeit lässt sich bedenkenlos automatisieren. Darum wackelt auch der Wirtschaftsstandort Deutschland: Wo Menschen fehlen, wird oft weniger investiert.

Gibt es Lösungen? Auf den ersten Blick sind da die üblichen Stellschrauben, an denen Regierungen diverser Industriestaaten bereits zu drehen versuchen: die Förderung von erhöhter Vollzeitbeschäftigung von Frauen und Alten, eine an die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts angepasste Um- und Ausbildung jüngerer Menschen sowie Arbeitsloser, erleichterte Arbeitsbedingungen für Flüchtlinge sowie eine verstärkte Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland. Nur: Angesichts des schieren Ausmaßes der demografischen Alterung wird all das die größer werdenden Lücken kaum schließen. 

Hyperlokale Tätigkeiten ganz woanders

Doch es gibt noch einen weiteren Ansatz – und den verkörpert etwa Jonnine Bautista. Die junge Frau mit langen, schwarzen Haaren, einem sportlichen T-Shirt und einem konzentrierten Blick, der sich stundenlang auf die Flurkarten von Schwäbisch Gmünd richtet, ist eine von zehn Angestellten, die Seim & Partner in Manila beschäftigt. Die Kollegen sind wie Bautista Elektro­ingenieure oder Architekten und Geografen – alle möglichen Qualifikationen, die in Deutschland zusehends Mangelware sind. 

„Wir sind heilfroh, dass wir über die vergangenen Jahre mehrere Prozesse verlagert haben“, sagt Thomas Weidlich. Er ist bei Seim & Partner für die strategische Planung zuständig, seit vier Jahren agiert er auch als Geschäftsführer der Tochterfirma in den Philippinen. „Zuvor hatten wir in Wiesbaden über ein Jahr Stellen offen, die wir für die Erfüllung unserer Aufträge besetzen mussten. Aber es fehlten einfach die Leute.“ Irgendwann bahnte sich Notstand an, und der machte erfinderisch. 

„Wir nutzen jetzt die Lidar-Technologie“, erklärt Weidlich nicht ohne Stolz: „Das ist eine Methode für 3-D-Aufnahmen, durch die sich später am Computer erkennen lässt, wie hoch, breit und tief jede gegebene Stelle eines abgebildeten Ortes ist.“ Seitdem fahren Mitarbeiter in Deutschland mit einer Spezialkamera die Orte ab, die ein neues Glasfasernetz erhalten sollen, und schicken die Lidar-Aufnahmen nach Manila. Dort klicken sich die Ingenieure durch die Straßen und machen Vorschläge, wo man die nötigen Bohrungen vornehmen könnte.

Selbst hyperlokale Tätigkeiten wie Raumplanung ans andere Ende der Welt zu verlagern, ist mittlerweile keine Seltenheit mehr. „Über die vergangenen Jahre ist das zu einem florierenden Geschäftsprinzip geworden“, sagt Holger Görg, Direktor des Kiel Institut für Weltwirtschaft und Experte für Outsourcing. Im Vorpandemiejahr 2019 betrug der globale Outsourcingmarkt gut 92 Milliarden US-Dollar, was in etwa einem Fünftel der österreichischen oder einem Viertel der singapurischen Volkswirtschaft entspricht. 

Anfang der 2000er Jahre

Outsourcing ist also Big Business. Wobei der Großteil der auslagernden Unternehmen aus den USA stammt, aber auch anderswo holt die Geschäftswelt auf. Görg schätzt, dass weltweit im Schnitt rund ein Drittel der Komponenten eines üblichen Produkts auf Outsourcing beruhen. Der weltweit bedeutendste Standort hierfür ist Indien, gefolgt von China, Malaysia, Indonesien, Brasilien und den Philippinen. 

Grundsätzlich ist das keine neue Entwicklung. Bereits als Adam Smith, Vater der modernen Volkswirtschaftslehre, im Jahr 1776 sein heute als Klassiker bekanntes Buch „The Wealth of Nations“ veröffentlichte, begann die Welt, die Möglichkeit von Effizienzsteigerungen durch Arbeitsteilung zu verstehen. Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert wurde maßgeblich durch dieses Prinzip vorangetrieben, ähnlich wie ab der Mitte des 20. Jahrhunderts die Massenproduktion von Textilien oder Konsumentenelektronik. 

Doch in jüngerer Zeit zeigt sich eine neue Qualität dieser Prozesse. „Früher wurden vor allem einfache Produktionsprozesse ausgelagert, wie Fließbandarbeit oder der Job an Nähmaschinen, weil sich so durch günstigere Lohnniveaus anderer Länder viel Geld sparen ließ“, sagt Ökonom Holger Görg. Heute werden zunehmend Tätigkeiten ausgelagert, die nur Experten beherrschen. 

Der Trend begann Anfang der 2000er Jahre mit der Diagnose anhand von Röntgenbildern. Kliniken in den USA schickten erstmals Aufnahmen nach Indien, wo fachkundiges Personal die Analysen machte. Das Internet hatte den schnellen Versand von Bilddateien ermöglicht. Und Indien wurde zum globalen Hub für die Auswertung hochspezialisierter Aufnahmen. Heute gilt Ähnliches für Informatiker und Buchhalter. Auch dass ein Ingenieurbüro wie Seim & Partner Planungsaufgaben an Mitarbeiter in Südostasien geben kann, ist dem technischen Fortschritt zu verdanken. Noch vor wenigen Jahren, als die Lidar-Technologie nicht existierte, wäre das Unternehmen an seine Grenzen gestoßen. 

An die Grenze ihrer Kapazitäten

Die Philippinen sind eine besondere Outsourcingdestination. Rund ein Zehntel der Volkswirtschaft geht auf ausgelagerte Produktionsprozesse zurück. Sie reichen von eher einfachen Tätigkeiten wie Callcenterjobs bis zu Logistik oder eben Infrastrukturplanung. Denn während Outsourcing historisch vor allem der Kosteneinsparung wegen begann, ergeben Umfragen mittlerweile, dass fast die Hälfte aller outsourcenden Unternehmen dies deshalb tut, weil sie sonst an die Grenze ihrer Kapazitäten stießen. 

„Die philippinische Regierung hat dies erkannt und investiert jetzt in die Ausweitung der Telekommunikations- und Netzinfrastruktur, um die Digitalisierung weiter zu fördern“, sagt Charlotte Bandelow, stellvertretende Vorsitzende der deutschen Außenhandelskammer in Manila. Mit Steueranreizen und konkreten Bemühungen, auch die Bürokratiekosten zu senken, versucht die philippinische Regierung, sich für Auslagerungen anzubieten.
 

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Zumal der lokale Arbeitsmarkt dies noch einige Jahre ermöglichen dürfte. Die philippinische Bevölkerung wächst pro Jahr um 1,5 Prozent. Und immer mehr Unternehmen aus dem Ausland nutzen das. „Vor zehn Jahren gab es nur sehr wenige deutsche Firmen im philippinischen Markt“, erinnert sich Bandelow. „Inzwischen sind zahlreiche große deutsche Firmen mit ­Shared Service Centern vor Ort.“ Man spricht mittlerweile immer häufiger von „Knowledge Process Outsourcing“, also der Verlagerung von wissensbasierten Tätigkeiten. 

Patric Lengacher versteht das nur allzu gut. Auch er hat ein Geschäft daraus gemacht. Der Schweizer sitzt leger in einem Café in Makati und füllt auf seinem Laptop Personallisten aus. „Überall werden händeringend IT-Kräfte gesucht“, sagt Lengacher, ein groß gewachsener Typ mit blondgrauem Vollbart, und nickt selbstsicher. „Unser Versprechen ist: Wir finden sie binnen weniger Wochen.“ Im Jahr 2021 gründete Lengacher in Manila das Unternehmen Amihan Solutions, das sich darauf spezialisiert hat, für europäische Unternehmen passende philippinische IT-Teams zusammenzustellen. 

„Die Philippinen haben eine eher junge Bevölkerung, die Mehrheit spricht Englisch, und es gibt viele Entwickler, die auch noch deutlich günstiger als die Konkurrenz in Europa sind“, sagt er. Amihan Solutions tritt quasi als Talentvermittler auf: Da ist zum Beispiel ein deutscher Autoimporteur, der eine digitale Vertriebslösung aufbauen wollte, dies aber nicht mit eigenen Kräften stemmen konnte. Amihan Solutions sucht und evaluiert auf dem lokalen philippinischen Markt geeignete IT-Kräfte, die den Anforderungen der Kunden entsprechen. 

Im Wohnzimmer in Pampanga

Ein solcher heiß begehrter Programmierer ist Donald Carreon. Der junge Mann sitzt in seinem Wohnzimmer in Pampanga, nördlich von Manila, und arbeitet für einen Gesundheitsdienstleister aus Prag: „Ich bin der Teamleiter hier auf den Philippinen, wo wir den Onlineauftritt leiten. In unserer Truppe haben wir mehrere Programmiersprachen vereint, sodass wir auf alle möglichen Probleme, die entstehen, schnell reagieren können.“ 

Carreon wurde in der Pandemie von einem philippinischen Versicherungsunternehmen abgeworben. „Zuerst mussten wir alle von zu Hause arbeiten, wofür aber anfangs noch die Infrastruktur fehlte. Und als dann alles halbwegs machbar geworden war, sollten wir wieder täglich ins Büro kommen.“ Aber beim chaotischen Verkehr von Manila verbrachte Carreon täglich zwei bis drei Stunden in Kleinbussen. „Nach der Erfahrung im Homeoffice wollte ich das nicht mehr.“ Dann kam der Anruf von Amihan Solutions. 

Patric Lengacher ahnte: Variable Arbeitsarrangements, die die Flexibilität von Büro- und Homeoffice-­Arbeit bieten, könnten viele hoch qualifizierte Fachkräfte ansprechen. Und natürlich höhere Gehälter – aber da besteht selbst im wissensbasierten Outsourcing ohnehin ein eklatanter Lohnunterschied. „Wir haben hier eine Fülle an hoch qualifizierten IT-Profis, die hervorragende Leistungen erbringen“, sagt der Schweizer. „Und wenn man diese Tätigkeiten in die Philippinen outsourct, spart man mindestens 65 Prozent seiner Lohnkosten.“

So gelingt es den Recruitern von Amihan Solutions, binnen einiger Wochen Mitarbeiterteams zusammenzustellen, die sich genau auf die Bedürfnisse der Kunden abstimmen. Lengacher erzielt so monatlich Einnahmen durch einen Aufschlag auf das Basisgehalt, das die europäischen Betriebe an die philippinischen Arbeitskräfte zahlen. Von diesen Erlösen weitet Amihan Solutions sukzessive seine Kapazitäten für die Personalgewinnung aus. Die bisher gut 20 Unternehmenskunden sind noch lange nicht das Ende, glaubt Lengacher. „Betriebe wie meinen gibt es hier viele. Aber es gibt auch noch viel Potenzial.“ 

Hafen von Manila / dpa

Über Jahrzehnte hatte Outsourcing in den westlichen Industrienationen einen eher schlechten Ruf. Der Vorwurf an Unternehmen war, dass sie nur ihre Gewinne steigern wollen und deshalb heimische Arbeitsplätze abbauen. Donald Trump gewann 2016 auch damit die Wahl zum US-Präsidenten, indem er versprach, diesem Trend ein Ende zu setzen. Nur: Hält die übliche Kritik am Outsourcing auch dann noch stand, wenn Betriebe nicht wegen Effizienzverbesserungen ins Ausland verlagern, sondern wegen bloßer Existenzbedrohungen? Weil es schlicht nicht mehr anders geht?

Handelspolitische Abhängigkeiten

Der Ökonom Holger Görg glaubt: „Es ist gut möglich, dass der Ruf des Outsourcings in den kommenden Jahren positiver wird.“ Thomas Weidlich vom Infrastrukturplaner Seim & Partner gibt jedoch zu bedenken: „Die Prozesse laufen oft nicht reibungslos ab. Unsere Kräfte auf den Philippinen können zum Beispiel nicht mit Behörden in Deutschland kommunizieren. Da kommt es zu Übersetzungsbedarf.“ Das Ganze lohne sich dennoch. Aber die Reibungsverluste seien nicht zu unterschätzen.

Patric Lengacher berichtet Ähnliches: „Die philippinischen Arbeitskräfte haben nicht das Ausbildungsniveau, wie es in Deutschland oder der Schweiz herrscht.“ Überspitzt gesagt seien sie oft um ein Drittel weniger produktiv. Wobei auch er sagt: „Im Endeffekt ist Outsourcing auf jeden Fall eine lohnenswerte Option, selbst wenn die entsprechenden Arbeitskräfte auf dem heimischen Arbeitsmarkt verfügbar wären, da die Lohnunterschiede deutlich größer sind.“ So befürchten Experten mit Blick auf Südostasien, dass ansässigen Firmen über die kommenden Jahre massenhaft Arbeitskräfte durch westliche Unternehmen abgeworben werden, was dort neue Probleme verursachen würde.

Holger Görg ist zudem skeptisch, dass verstärktes Outsourcing künftig im Westen als Allheilmittel gelten wird: „Mit weiterem technologischen Fortschritt wird es ganz bestimmt mehr Sektoren geben, die Tätigkeiten ins Ausland verlagern. Womöglich werden irgendwann auch Roboter für Hüft- oder Knie-OPs aus der Ferne gesteuert.“ Versucht wird dies bereits. „Aber über die vergangenen Jahre haben wir schmerzlich erfahren, dass wir uns ökonomisch nicht allzu abhängig von anderen Ländern machen sollten.“

Mit dem neuerlichen Angriff Russlands auf die Ukraine seit Februar 2022 sowie den wiederholten Drohungen Chinas, irgendwann Taiwan anzugreifen, haben westliche Staaten mit De-Risking begonnen: Die handelspolitische Abhängigkeit von China und Russland soll reduziert, wichtige Produktionsprozesse sollen zurück nach Europa verlagert werden. „Wer kann zum Beispiel sicherstellen, dass Indien auch in Zukunft ein verlässlicher Partner bleiben wird? Oder die Philippinen?“ Wenn irgendwann fast alle IT-Experten, die für deutsche Unternehmen arbeiten, in diesen Ländern sitzen, wird man ihnen auf diese Weise ausgeliefert sein.

 

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