Visegrád-Staaten - Jetzt auch Wirtschaftsmacht?

Längst sind die Visegrád-Staaten zu einem eigenen politischen Machtfaktor in der EU geworden. Aber auch wirtschaftlich wächst die V4-Region stärker als jede andere in der Union. Werden Ungarn, Tschechien, Polen und die Slowakei zur einflussreichen Wirtschaftsmacht in Mitteleuropa?

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Die Visegrád-Länder streben nach einer Spitzenposition innerhalb der EU. Wird ihnen das gelingen? / Illustrationen: Sebastian König
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Die fünftgrößte Wirtschaft in der EU ist kein Land, sondern die Gruppe der Visegrád-Länder. Die V4 – das sind Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei – haben insgesamt rund 64 Millionen Einwohner. Zusammen sind sie die inzwischen am dynamischsten wachsende Region in Europa. Im Jahr 2018 wuchs das BSP der EU-Länder laut Eurostat um 2,0 Prozent, das der Eurozone um 1,9 Prozent. Die entsprechenden Werte für die V4: Tschechien 2,9 Prozent, Slowakei 4,1 Prozent, Ungarn 4,9 Prozent, Polen 5,1 Prozent.

Ungarn schob sich im ersten Halbjahr 2019 gar an die Spitze der EU-Länder, mit 5,2 Prozent Wachstum – und von den vier am stärksten wachsenden europäischen Wirtschaften waren drei Mitglieder der V4.

Immer weniger „Billiglohnländer“

Die V4-Wirtschaft wächst seit 2012 Jahr für Jahr stärker als der Rest Europas. Prognosen sehen zwar eine allgemein langsamere Konjunktur in den kommenden zwei Jahren, aber relativ zum Rest der EU dürften die V4 weiterhin schneller prosperieren. Dank teilweise zweistelliger Lohnsteigerungen in den vergangenen Jahren stützt die Binnennachfrage ihre Märkte. Sie werden immer weniger „Billiglohnländer“ und steigen in der Wertschöpfungskette stetig auf. Zugleich treiben die Staaten inzwischen sehr viel effizienter ihre Steuern ein. Die Staatsschulden sinken, und es ist deutlich mehr Geld in den Staatskassen.

All das ist eigentlich so, wie man es sich immer wünschte in der EU: Die einst so verarmten Ostblockländer schließen zum Westen auf. Was man aber offenbar nicht bedachte, sind die politischen Folgen. Die V4 sehen sich immer mehr als „Zugpferd“ der EU und koppeln daran auch politische Strategien: Sie wollen mehr Einfluss. Und sie wollen ein anderes, konservativeres, aber gleichzeitig auch ein moderneres Europa.

Jüngst haben sie bei den Verhandlungen um den nächsten EU-Haushalt vorgeschlagen, die Beiträge der Mitgliedsländer von gegenwärtig 1,0 Prozent des Nationaleinkommens auf 1,3 zu erhöhen – eine Steigerung um 30 Prozent.

Neue Töne

Die Visegráder behaupten, sie können sich das leisten. Ausgerechnet Deutschland sagt, es könne sich das nicht leisten. „Utopisch“, so ein deutscher Diplomat. „Das sind für uns gleich zehn Milliarden Euro mehr. Das muss man innenpolitisch erst mal durchsetzen können.“ Das klingt neu: Die gern als „EU-skeptisch“ verschrienen „Osteuropäer“ wollen mehr Geld für die EU geben, und das vorgeblich EU-begeisterte Deutschland bremst.

Auch anderweitig setzen die V4 ihren neuen Wohlstand ein, um an Einfluss zu gewinnen. Polen will jährlich rund eine Milliarde Euro ausgeben, um amerikanische Truppen im Land zu stationieren. Ungarn kauft für viel Geld deutsche Panzer und deutsch-französische Kampfhubschrauber. Der Lohn ist ein neues Wohlwollen in Berlin, sichtbar seit dem sehr herzlich geratenen Besuch der Bundeskanzlerin Angela Merkel in Ungarn am 19. August. Und da die deutsche Wirtschaft derzeit schwächelt, deutsche Unternehmensniederlassungen in Ostmitteleuropa aber gedeihen, wächst die wirtschaftliche und daher auch politische Bedeutung der V4-Region für Deutschland. Noch vor wenigen Jahren redete niemand über sie als Macht- und Kraftzentrum.

Ein echter Machtfaktor in der EU

Inzwischen aber geht ohne sie politisch kaum noch etwas in der Europäischen Union. In der Migrationspolitik haben sich die Positionen der V4 nach langem Streit weitgehend durchgesetzt. Ursula von der Leyen verdankt ihre Wahl an die Spitze der EU-Kommission nicht zuletzt den Visegrád-Ländern. In ihrer Parteienfamilie, der EVP, sind 39 von 182 Europaabgeordneten aus diesen Ländern, und in vielen Fragen treten sie geschlossen auf.

Politisch sind die V4 zu einem echten Machtfaktor in der EU und in der stärksten europäischen Parteienfamilie EVP geworden. Aber können sie tatsächlich auch eine Wirtschaftsmacht werden? Und welche Folgen hätte das für die europäische Politik? Der Wille ist auf jeden Fall da. Den Visegrádern schwebt eine EU vor, in der sie nicht mehr mit dem Entzug von Kohäsionsgeldern bedroht werden können, weil sie inzwischen Nettozahler sind – wie sie hoffen, wird das ungefähr um 2030 herum eintreten. Das tschechische Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt liegt bei 90 Prozent des EU-Durchschnitts (1995: 70 Prozent), das slowakische bei 78 Prozent. Polen und Ungarn liegen bei jeweils 71 und 70 Prozent – 1995 waren es nur 50 Prozent.

Allgemein wird es als Erfolg der europäischen Konvergenzpolitik gefeiert, ärmere Länder durch Kohäsionsgelder zu stärken. Der Ökonom Thomas Piketty sieht die V4 aber nicht nur als Empfänger. 2018 rechnete er aus, dass die EU-Zuwendungen für Ungarn im Zeitraum 2010 bis 2016 im Jahresdurchschnitt 4 Prozent des BSP betrugen, aber die Abflüsse von Profiten und sonstigen Einkünften westlicher Investoren 7,1 Prozent. Ähnlich sah es Piketty zufolge bei den anderen V4-Staaten aus. So gerechnet, bekam die West-EU im Durchschnitt vom Osten doppelt so viel, wie sie gab.

„Korruption“ in Gestalt von Regelverstößen

Das mag der Hintergrund sein für das am heißesten umstrittene Wirtschaftsthema zwischen West- und Osteuropa: „Korruption“ in Gestalt von Regelverstößen bei der Bewerbung um und Verwendung von EU-Kohäsionsmitteln. Brüssel und insbesondere westliche Medien kritisieren die V4-Regierungen, weil sie bei Ausschreibungen heimische, politisch loyale Großunternehmer begünstigen.

Im Endeffekt bedeutet es oft genug, dass das auf diese Weise „zugeschobene“ Geld im Land bleibt, statt dass ein wettbewerbsfähigerer westlicher Konzern den Auftrag bekommt und ein Teil der Profite wieder ins Ausland fließt. „Neomerkantilismus“ nennt Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán seine Wirtschaftspolitik – einheimische Akteure stärken, ausländische Investoren nur dort bevorzugen, wo sie Dinge können, die die eigene Wirtschaft nicht kann. Etwa Autos bauen.

Diese Politik mag ein Grund dafür sein, warum die Wirtschaften der Visegrád-Länder neuerdings deutlich stärker wachsen als in den Jahren davor. Untersucht hat das aber noch niemand. Ein wirtschaftlich stärkeres und politisch einflussreicheres Ostmitteleuropa dürfte jedenfalls den Ton des europäischen Narrativs ändern: Weniger moralisierende Themen, stattdessen Fokus auf Wirtschaft und Modernisierung. In einer Rede in Berlin, wo er gemeinsam mit dem deutschen Außenminister Heiko Maas der Grenzöffnung 1989 gedachte, betonte Ungarns Außenminister Péter Szijjártó am 10. September „Mitteleuropa“ genau so inbrünstig, wie Maas „Europa“ beschwor. Aber während „Europa“ für Maas definiert war durch „Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“, ging es bei Szijjártó vor allem um Handel und Wettbewerbsfähigkeit.

Die Regionen sind dependent

Der ungarische Außenminister wies zufrieden darauf hin, dass der Handel der V4 mit Deutschland das Handelsvolumen Deutschlands mit Frankreich 2018 „um 73 Prozent überstieg“. Das ist die Botschaft der Visegráder an Deutschland: Lasst uns gemeinsam zum wirtschaftlichen Schwerpunkt Europas werden, statt Frankreich zu umarmen.

Ein Realitäts-Check zeigt: Zwar wächst die Region schneller als der EU-Durchschnitt. „Aber die wesentlichen Faktoren dafür sind EU-Gelder und die vielen Produktionsstätten deutscher Unternehmen“, sagt der regierungsnahe ungarische Politikexperte Zoltán Kiszelly. Die Regierungen hätten nur begrenzt Möglichkeiten, auf nationaler Ebene oder durch gezielte Zusammenarbeit Einfluss zu nehmen. Der frühere ungarische Nationalbankchef Péter Ákos Bod fasst es für Cicero so zusammen: „Die Wirtschaften der Region sind ‚dependent‘, sie hängen vor allem von Deutschland ab. Wenn das entwickelte Kerneuropa eine Krise erlebt und das BSP schrumpft, dann schrumpft es in der Peripherie um das Doppelte. Wenn Kerneuropa wächst, wächst die Peripherie doppelt so schnell. Alles ist dort viel volatiler.“

Zum Großteil „konzern­interner Handel“

Das passt zu Stimmen in Deutschland und Europa, die ein nachhaltiges politisches oder wirtschaftliches Eigengewicht der V4 nicht gelten lassen wollen. Eigentlich seien diese Länder nämlich politisch gar nicht so homogen und wirtschaftlich nur dank der EU und deutscher Investitionen im Aufwind. Das stimmt teilweise. Der Handel zwischen den V4 und Deutschland – inzwischen weit umfangreicher als der zwischen Deutschland und China – ist zum Teil „konzern­interner Handel“, wie ein deutscher Diplomat etwas herablassend anmerkt. Deutsche Unternehmen beschäftigen in den V4-Ländern eine Million Arbeitnehmer, davon 250 000 allein in Ungarn.

Da deutsche (und sonstige westeuropäische) Investitionen sowie EU-Gelder eine tragende Rolle spielen beim Wirtschaftswachstum der Visegrád-Länder, erlaubt das immerhin Projektionen in die Zukunft. Im aktuellen Haushaltsrahmen der EU wurden den V4 insgesamt rund 150 Milliarden Euro zugedacht. Im nächsten Haushalt sollen es nach ersten Entwürfen etwa 20 Prozent weniger werden. Zum einen, weil die EU nach einem Austritt der Briten weniger Geld haben wird. Zum anderen, weil die V4 wirtschaftlich gewachsen sind. Bisher galt für die Vergabe der Mittel die Regel: Je ärmer das Land, desto mehr Geld bekommt es. Die Visegráder bekämen also schon deswegen weniger, weil ihr BSP schneller als der EU-Durchschnitt gewachsen ist.

Andere Wege suchen

Der gegenwärtige Entwurf sieht jedoch eine ganze Reihe neuer Kriterien vor – unter anderem Rechtsstaatlichkeit, Jugendarbeitslosigkeit, finanzielle Belastung eines Landes durch die Aufnahme von Flüchtlingen – die in der Praxis darauf hinauslaufen würden, vor allem die derzeitigen „Problemländer“ der Eurozone zu stützen, etwa Italien und Griechenland.

Aber die Visegrád-Länder haben auch erkannt, dass sie das neue europäische Klimawandel-Fieber zu Geld machen können, um den Ausfall auszugleichen. Eine CO2-neutrale Wirtschaft, wie Ursula von der Leyen sie anstrebt, sei teuer, sagen sie. Aber wenn man ihnen das Geld dazu gebe, dann gerne.

Bemerkenswerterweise hat Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrem Besuch in Ungarn am 19. August angedeutet, dass Deutschland sich nun doch dafür einsetzen wolle, beim alten Rezept zu bleiben und die Höhe der Kohä­sionsgelder an die Höhe des BSP zu koppeln. Es heißt also abzuwarten, wie der Haushalt am Ende tatsächlich aussieht. Klar aber ist: Einen noch größeren Geldsegen können die V4 kaum erwarten. Um ihre wirtschaftliche Dynamik zu erhalten, müssen sie andere Wege suchen.

Gefahr globaler Handelskriege

Was die Rolle der ausländischen Investitionen betrifft, insbesondere der Industrie, so bestehen da ernst zu nehmende Risiken, wenn globale Handelskonflikte die Autoindustrie schwächen, wenn weiterhin die besten Arbeitskräfte aus Ostmitteleuropa abwandern und die Löhne dementsprechend stark ansteigen (weil die Unternehmen die knappen Arbeitskräfte nur so an sich binden können).

Aber der bedeutendste Faktor für die ausländischen Unternehmen ist neben der guten Infrastruktur, den gut ausgebildeten Arbeitskräften und der positiven Arbeitsmoral „vor allem die Steuerbegünstigung durch die Regierungen“, meint Kiszelly. BMW und Mercedes planen vor allem deswegen je eine neue große Fabrik in Ungarn. Das hat Folgen für die EU-Politik. Nicht mehr, sondern möglichst wenig Integration in der Steuerpolitik ist die Voraussetzung für anhaltendes Wirtschaftswachstum in den V4. Brüsseler Pläne für eine Harmonisierung der Unternehmenssteuern lehnt man deswegen ab.

Wie positioniert sich Deutschland?

Die tiefe Einbettung der V4 in die deutschen Wertschöpfungsketten hat auch Folgen für die deutsche Politik. Die Region ist abhängig von der deutschen Wirtschaft, aber umgekehrt diese auch von den V4. Die strategischen Wirtschaftspartner fordern politisches Entgegenkommen. „Die große Zukunftsfrage in Europa ist, wie Deutschland sich positioniert – wendet es sich uns zu, nach Osten, oder von uns ab, nach Westen, zu Frankreich?“, sagt eine ranghohe Quelle in Budapest. Falls Deutschland statt auf Entgegenkommen auf Druck und Dominanz setzt, „dann wird die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen in der Region leiden“, formuliert der Gesprächspartner fein. Es kann auch als leise Drohung verstanden werden.

Eigene Dynamik können die Länder letztlich nur über nationale Wirtschaftspolitik und Kooperation untereinander entfalten. Das kann ein Widerspruch in sich sein – sie sind beispielsweise Konkurrenten um ausländische Investitionen und agieren an der Front eher gegen- als miteinander. Aber für die Bedeutung der V4 insgesamt ist es eigentlich egal, ob eine neue Fabrik in Polen, Tschechien oder Ungarn gebaut wird. Es bleibt ja in der Familie. Tatsächlich sind sie seit drei Jahren voll und ganz darauf fokussiert, ihre Wirtschaften zu vernetzen und kollektiv zu stärken.

Im Mittelpunkt: die wirtschaftliche Kooperation

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán kündigte im Sommer 2018 an, das strategische Ziel für die nächsten Jahre sei „der Aufbau Mitteleuropas“ – politisch, kulturell, ökonomisch. Mittlerweile geht es bei fast jedem der immer häufigeren Treffen der Regierungschefs zumindest auch um Fragen der wirtschaftlichen Kooperation – sogar dann, wenn es nicht öffentlich auf der Agenda steht. Am 12. September etwa gab es ein V4-Gipfeltreffen in Prag unter Teilnahme der Regierungschefs der Westbalkanländer zum Thema EU-Erweiterung und Integration des Westbalkans. Daneben stimmte man gemeinsame Positionen ab zur anstehenden Postenvergabe in Brüssel unter der neuen EU-Kommission – die Visegráder fordern hier informell eine „V4-Quote“. Vor allem aber ging es um wirtschaftliche Kooperation untereinander und mit dem Westbalkan. Infrastruktur, Interkonnektivität, Finanzen, Bildungspolitik und Humankapital wurden besprochen.

Am 22. und 23. Oktober kommt schon der nächste V4-Gipfel in Breslau, diesmal mit Deutschland, und auch da wird es vorrangig um wirtschaftliche Fragen gehen. Auch mit Großbritannien strebten die V4 einen baldigen Gipfel an, um über den Brexit und dessen Folgen zu sprechen. Aber in London ist man vorerst mit sich selbst beschäftigt und winkte ab.

Ziel ist ein Spitzenplatz in Sachen Innovation

Der wirtschaftspolitische Fokus spiegelt sich in entsprechenden gemeinsamen Initiativen der vier Länder. Im April 2018 einigten sie sich auf eine gemeinsame Strategie „Industrie 4.0“. Dabei geht es unter anderem darum, Automatisierung, Robotisierung und Digitalisierung in der Industrie zu fördern, nicht zuletzt um den chronischen Arbeitskräftemangel auszugleichen. In Tschechien und der Slowakei ist die Robotisierung weiter fortgeschritten als im Rest der EU, Ungarn und Polen wollen dieses Niveau auch erreichen. „Wenn wir ein neues Produkt planen, ist unsere erste Überlegung: Wie können wir das ohne Arbeitskräfte machen?“, sagt Ottó Sinkó, Ko-CEO des ungarischen Videoton-Konzerns, wo man unter anderem Autoelektronik produziert. „Beim Haushaltselektronikhersteller Elektrolux wird gerade geplant, 600 Angestellte zu entlassen, bei Autoherstellern in Westungarn sind mehr als 1000 Entlassungen geplant als Folge der Automatisierung“, sagt Ex-Nationalbankchef Bod.

Großes Ziel der V4 ist es, in Sachen Wettbewerbsfähigkeit und Innovation einen Spitzenplatz in Europa zu erlangen. Gezielt werden dafür Start-ups sowie Forschungs- und Innovationsprojekte gefördert. Unter anderem wird dafür ein Geldtopf umgewidmet, der ursprünglich für Kulturförderung gedacht war – der im Jahr 2000 gegründete Visegrád Fund. Über dessen Förderprogramme werden junge Unternehmer nach Israel geschickt, wo es weltweit die offenbar dynamischste Start-up-Szene gibt. Auf Regierungsebene haben die V4 mit Israel eine Zusammenarbeit bei der Entwicklung von Navigationstechnik für selbstfahrende Autos vereinbart – israelische Firmen sind in dem Bereich Weltspitze. In der westungarischen Stadt Zalaegerszeg entsteht eine neue Teststrecke für Autopilotwagen, zur großen Freude der deutschen Autoindustrie.

„V4 Start up Force“

Zugleich wird die Vernetzung junger Unternehmer innerhalb der Region ermutigt, mit einem Programm namens „V4 Start up Force“. Dabei bekommen die Teilnehmer auch Gelegenheit, ihre Ideen vor großen Unternehmen zu präsentieren. Es ist typisch für die V4-Kooperation: schlanke Organisation, keine Bürokratie, und ein Bemühen, mit möglichst wenig Geld möglichst große Wirkung zu erzielen. Der Visegrád Fund verfügt über gerade einmal acht Millionen Euro im Jahr – zwei Millionen aus jedem der vier Länder.

Um die V4 – und den Handel zwischen ihnen – besser zu vernetzen, soll die historisch von West nach Ost verlaufende europäische Infrastruktur um eine neue Nord-Süd-Achse ergänzt werden. Es ist ein ehrgeiziges Langzeitprojekt, das teilweise im Rahmen der V4 und teilweise im Rahmen der breiter angelegten osteuropäischen „Drei Meere“-Initiative verwirklicht werden soll. Das ist eine Art erweiterte Super-V4 – alle früheren Ostblockstaaten (außer der damaligen Sowjetunion und ihrer Nachfolgstaaten) sind darin vertreten, von der Ostsee bis zum Mittelmeer und zum Schwarzen Meer. Daher „Drei Meere“. Mittlerweile gibt es auch einen „Drei Meere“-Investitionsfonds, mit einem angestrebten Kapital von fünf Milliarden Euro.

Reserven gegen den Abschwung

Die USA widmen dieser 2015 von Polen und Kroatien angestoßenen Initiative große Aufmerksamkeit und unterstützen sie. Denn den Amerikanern gefällt ein starkes Ostmitteleuropa, als Gegengewicht sowohl gegen zu großen russischen Einfluss in der Region, aber auch als EU-internes Gegengewicht zur West-EU. Vor einem Jahr hat Deutschland sich als Ostseeanrainer entschlossen, ebenfalls mitzumachen. Im Mai wiederum unterzeichneten die Visegrád-Länder eine Vereinbarung über den Bau eines Hochgeschwindigkeitszuges, der alle vier Länder verbinden soll. Ebenfalls im Rahmen der Drei-Meeres-Initiative entsteht eine Nord-Süd-Autobahn von Litauen bis nach Griechenland. Sie führt auch durch drei der Visegrád-Länder, ohne Tschechien. LPG-Terminals in Polen und Litauen werden mit dem in Kroatien entstehenden LPG-Terminal verbunden – das verringert die Abhängigkeit von russischem Erdgas.

Allen Prognosen zufolge werden die nächsten Jahre weltweit wirtschaftliche Probleme mit sich bringen. Die Visegrád-Länder haben deshalb bereits Reserven gebildet, um einen Abschwung abzufedern. Es ist nicht so wichtig, ob die Wirtschaft stark oder weniger stark wächst; Ziel ist es vielmehr, dass das BSP Jahr für Jahr über dem EU-Durchschnitt liegt – Orbán nennt gar das Ziel von „2 Prozent über dem EU-Durchschnitt“ für die kommenden zehn Jahre.

„Die Öffnung nach Osten ist vorerst gescheitert“

Als „illusorisch“ bezeichnet dieses Vorhaben allerdings Ex-Nationalbankchef Bod – wegen der Volatilität und der Deutschland-Abhängigkeit der export­orientierten Wirtschaft. Versuche, die Wirtschaft nach Osten zu diversifizieren und die alten Märkte aus Ostblockzeiten wiederzuentdecken, scheitern bislang an den EU-Sanktionen gegen Russland. China ist eine Option, aber nimmt auch gern mehr als es gibt. Die USA und Afrika wiederum bleiben für die Ostmitteleuropäer schwer zugänglich.

„Die Öffnung nach Osten ist vorerst gescheitert“, meint Politologe Kiszelly. Die Visegrád-Staaten suchen ihr Glück deswegen weiterhin vor allem innerhalb der EU, in enger Anlehnung an Deutschland. Dort erkennt man vielleicht allmählich, was man am östlichen Nachbarn hat: einen Partner der dieselben wirtschaftlichen Grundüberzeugungen teilt – solides Wirtschaften, Haushaltsdisziplin, harte Arbeit.

Dieser Text ist in der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können. 

 

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