Transformation des Wirtschaftssystems - „Ökonomen sind keine Wachstumsfetischisten“

Die EU-Kommission will ihre Konjunkturanalysen um ein Maß des „Wohlbefindens“ ergänzen – ein Vorwand, um in das Leben der Bürger einzugreifen, meint der Ökonom Stefan Kooths. Im Cicero-Interview spricht er über die Missverständnisse der Wachstumsskeptiker und die Rolle des Staates in einer freien Wirtschaft.

Paolo Gentiloni und Ursula von der Leyen wollen ein neues Wirtschaftsmodell für die EU / dpa
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Autoreninfo

Lukas Koperek ist Journalist und lebt in Mannheim und Berlin.

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Stefan Kooths ist Vizepräsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft und Direktor des Forschungszentrums Konjunktur und Wachstum.

Herr Kooths, warum braucht es Wirtschaftswachstum?

Das ist weniger eine Frage des Brauchens als des Wollens. Wirtschaftliche Aktivität dient dazu, Güter hervorzubringen, mit denen wir unsere menschlichen Bedürfnisse befriedigen können. Unsere Bedürfnisse sind unstillbar. Wir haben immer mehr Bedürfnisse als wir befriedigen können. Deshalb müssen wir auch wirtschaftlich agieren, also überlegen: Was ist uns am wichtigsten und was ist weniger wichtig? Wirtschaftliches Wachstum bedeutet nichts anderes als dass wir uns mehr Möglichkeiten erschließen, unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Das kann eine große Spannbreite sein, von Ernährung über Medikamente und Heizungen bis hin zu Urlaubsreisen und Unterhaltung. Die Mittel, mit denen wir unsere Bedürfnisse befriedigen können, nennen wir Güter. Wenn die Anzahl der hergestellten Güter steigt, verzeichnen wir ein wirtschaftliches Wachstum.

Bedürfnisse zu befriedigen – das ist wohl im Interesse der allermeisten Menschen.

Wer das nicht möchte, ist ja nicht gezwungen, in irgendeine Tretmühle einzusteigen. Jeder kann frei entscheiden, sich weniger am wirtschaftlichen Prozess zu beteiligen. Natürlich muss man dafür aber auch ein geringeres Einkommen in Kauf nehmen und kann dann eben auf weniger Güter zugreifen, die andere herstellen. Übrigens ist Freizeit seinerseits ein Bedürfnis des Menschen. Wir wollen möglichst wenig arbeiten müssen, um unsere sonstigen Bedürfnisse befriedigen zu können. Wenn wir mal in die Welt schauen und über einen längeren Zeitraum beobachten, was in den verschiedenen Ländern passiert, dann sehen wir typischerweise, dass Gesellschaften, wenn sie wohlhabend werden, einen Teil der Wachstumsmöglichkeiten in mehr Freizeit umsetzen. Sie verwenden ihre Produktivitätszuwächse also dafür, weniger arbeiten zu müssen.

Wie kommen wir zu neuem Wirtschaftswachstum?

Die knappste Ressource des Menschen ist die Zeit. Wenn wir mehr Güter hervorbringen und damit ökonomisch wachsen wollen, müssen wir die Arbeitsproduktivität erhöhen. Das ist der einzige Weg. Im Gegensatz zu anderen Lebewesen ist der Mensch in der Lage, sich Werkzeuge zu schaffen, die seine Arbeitszeit produktiver machen. Diese Werkzeuge nennen wir Kapitalgüter. Sie erlauben es uns, alle möglichen Naturkräfte, zum Beispiel die Gravitation oder Photosynthese, in unsere Produktionsprozesse einzuspannen. Durch sie wird unsere Arbeitszeit produktiver. Der Wissensfortschritt ist die Voraussetzung dafür, um neues Wachstum zu erschließen, indem wir weiteren Naturgesetzen und ihrer ingenieurtechnischen Umsetzung auf die Spur kommen. Die Kapitalgüter, mit denen dieses Wissen in die Praxis umgesetzt wird, können vielfältige Formen annehmen – zum Beispiel Maschinen, Gebäude, Infrastrukturen oder Software. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie unsere Arbeitskraft produktiver machen.

Kürzlich hat der EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni Schlagzeilen gemacht. Bei der Vorlage der Wachstumsprognose für die europäische Wirtschaft sagte er, die rein am Bruttoinlandsprodukt orientierte Konjunkturanalyse müsse um den Faktor des „wirtschaftlichen Wohlbefindens“ ergänzt werden. Wie bewerten Sie diese Aussage?

Der Ökonom Stefan Kooths / Foto: privat

Mir kommt das ziemlich naiv vor. Ich möchte klarstellen: Ökonomen sind keine Wachstumsfetischisten. Ich habe ja eingangs erwähnt, dass der Mensch sich als strebendes Wesen immer mehr Möglichkeiten erschließen will, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Das zeichnet menschliches Handeln aus. Der Wachstumsprozess ist nur die Begleiterscheinung davon. Maße wie das Wohlbefinden sind keine Alternative zur Messung der Wirtschaftsleistung, hängen aber eng mit dem Wachstum zusammen – kein Wunder, denn wir wachsen ja nicht zum Selbstzweck, sondern weil wir uns Güter erschließen wollen, die uns wichtig sind. Zum Beispiel kann man beobachten, dass die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung überproportional mit dem Wohlstand zunehmen. Ökonomen sprechen hier von einem superioren Gut. Gesundheit wird uns immer wichtiger, je mehr sonstige Bedürfnisse schon befriedigt sind. Manche Bedürfnisse sind sogar das Ergebnis vorangegangener Wohlstandserfolge. Wenn Sie vor 100 Jahren ein Alzheimer-Medikament auf den Markt gebracht hätten, wäre das ein ziemlicher Flop geworden, weil die Menschen gar nicht alt genug geworden sind, um in großer Zahl an der Krankheit zu leiden. Heute haben wir eine deutlich verlängerte Lebenszeit, und zwar weltweit. Das führt dazu, dass wir an neue Grenzen stoßen, die wir überwinden wollen.

Das Wohlbefinden ist also an den Wohlstand und damit an das Wachstum geknüpft.

Ja. Niemand wird wohl dagegen sein zu erfassen, welche Wohlstandserfolge wir erreicht haben, aber das allgemeine Wohlbefinden kann niemals ein Maß für die wirtschaftliche Aktivität sein wie das Bruttoinlandsprodukt. Der wirtschaftliche Wohlstand ist die Voraussetzung für das Wohlbefinden. Insbesondere diejenigen, die fiskalisch breitspurig unterwegs sind und den Staat in der Verantwortung sehen, Förderausgaben zu tätigen, sollten sich klarmachen, dass man nur wirtschaftliche Aktivität besteuern kann und nicht irgendwelche Glücksmaße.

Kann der freie Markt alle Lebensbereiche abdecken, oder braucht es die staatliche Handhabe?

Es braucht allein schon für marktwirtschaftliche Prozesse eine staatliche Grundlage, nämlich die Eigentumsordnung über die Justiz. Man kann nur Güter tauschen, die einem auch gehören. Das heißt, alle marktwirtschaftlichen Prozesse sind darauf angewiesen, dass es Eigentumsrechte gibt und diese auch durchgesetzt werden. Um das effizient zu gewährleisten, muss das Gewaltmonopol beim Staat liegen. Im libertären Spektrum gibt es einige Stimmen, die behaupten, man könne alles privatisieren, also etwa auch die Polizei und das Militär. Solche brachialen Vorschläge überzeugen mich nicht.

Es gibt aber auch viele Probleme, etwa im Bereich der Bildung, die ein freiheitliches System mit mehr Wettbewerb vielleicht überwinden könnte.

Allerdings. Wenn der Staat Dinge an sich zieht, bei denen er als Koordinator schlechter funktioniert als marktwirtschaftlicher Wettbewerb, leidet der Wohlstand. Und man wird kaum behaupten können, dass wir den Staat in den vergangenen Jahrzehnten auf Magerkost gesetzt hätten. Wir sind jetzt bei einer Staatsquote angekommen, die fast bei 50 Prozent liegt. Fast jeder zweite Euro, der in diesem Land erwirtschaftet wird, wird in der einen oder anderen Weise durch die staatlichen Kassen geschleust. Man kann also nicht sagen, wir hätten hier das Ideal eines Minimalstaats realisiert. Das ärgert mich zum Teil auch an der wirtschaftspolitischen Debatte. Aus dem interventionistischen Lager wird immer der Eindruck erweckt, die westliche Welt sei ein lupenrein liberales System, und deswegen könne man der liberalen Sozialphilosophie alles Ungemach der rauen Wirklichkeit in die Schuhe schieben. Viele unserer Probleme sind auf ein erhebliches Staatsversagen zurückzuführen und auf Überregulierungen durch den Staat.

Der Staat sollte also regulieren, sich aber auf grundsätzliche Vorgaben beschränken.

Man kann eine lange Debatte darüber führen, welche Rolle der Staat in der Wettbewerbspolitik spielen sollte. Er sollte aber auf jeden Fall nicht kleinteilig interventionistisch agieren, denn dadurch schafft er immer wieder neue Privilegien, die sich letztendlich die gut organisierten Interessengruppen zunutze machen. Kurz gesagt: Staatliche Eingriffe fördern den Lobbyismus. Dadurch wird das Leistungsprinzip des Marktes ausgehöhlt. Derjenige, der sich am besten politisch organisieren kann, bekommt die Subventionen. Das ist das Hauptproblem. Wir wären also gut beraten, nicht immer neue Interventionstatbestände zu schaffen, sondern uns auf allgemeine Regeln zu beschränken. Das, was wir derzeit unter dem Stichwort „Industriestrompreis“ diskutieren, geht genau in die falsche Richtung. Am Ende werden die mit der stärksten Lobby profitieren, alle übrigen dürfen die Rechnung bezahlen. Und, schlimmer noch: Wir bekommen Produktionsstrukturen, die uns insgesamt ärmer machen, wegen verzerrter Preise und überbordender Bürokratie. Es ist also nicht mal ein Nullsummen-, sondern ein Negativsummenspiel.

 

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Noch einmal zurück zu dem Einfall der EU-Kommission, Konjunkturanalysen durch einen Faktor „Wohlbefinden“ zu ergänzen. Die Wachstumsprognosen für dieses und nächstes Jahr sind bescheiden. Was bezwecken Gentiloni und die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit so einer Idee?

Ich denke, man sucht sich neue Begründungen, stärker in die Lebensentscheidungen der einzelnen Menschen einzugreifen. Das ist dann eine Grundsatzfrage: Traut man erwachsenen Menschen zu, dass sie wissen, was gut für sie ist und was nicht? Wenn es dann heißt: Wir haben hier eine ganze Batterie an Indikatoren, die angeblich Wohlbefinden messen, und es wird zum Staatsziel erhoben, diese Indikatoren zu verbessern, dann sind natürlich erst einmal alle Maßnahmen, die ihnen auf die Sprünge helfen, politisch erwünscht. Das Problem: Wenn man eine Planzahl zum Ziel macht, dauert es nicht mehr lange, und sie misst nicht mehr das, was sie ursprünglich einmal messen sollte.

Wie meinen Sie das?

Ich spitze es mal ein bisschen zu: Die DDR ist an Planübererfüllung zugrunde gegangen. Jede Planzahl wurde übererfüllt, allerdings so, dass sie nichts mehr aussagen konnte, weil die Qualität der produzierten Waren vernachlässigt wurde. Man hat also gesagt: Wir müssen soundso viele Autoreifen produzieren – wie lange die halten, ist egal, Hauptsache die Stückzahl wird erreicht. Alles wird auf die Maximierung dieser Kennzahlen ausgerichtet. Damit verlieren die Kennzahlen ihre eigentliche Aussagekraft.

In einem Artikel für die IfW-Publikation Kiel Focus aus dem Jahr 2016 schreiben Sie: „Wachstumskritik hat Dauerkonjunktur.“ Das ist heute, da Klimawandel so viele unserer politischen Debatten bestimmt, noch zutreffender als vor sieben Jahren. Woher kommt der Trend zur Wachstumsskepsis?

Diese Wachstumsskepsis rührt meines Erachtens von zwei Missverständnissen her. Das erste ist eine Unkenntnis davon, was ökonomische Wachstumsprozesse ausmacht. Oft wird von Wachstumskritikern die Analogie des Krebsgeschwürs verwendet: Unendliches Wachstum sei gefährlich und unnatürlich, weil das einzige, was in der Natur exponentiell wachsen könne, der Krebs sei, an dem der Organismus schließlich zugrunde geht. Das Missverständnis besteht darin, dass es im ökonomischen Kontext weniger um quantitatives, sondern vor allem um qualitatives Wachstum geht. Wir haben heute nicht statt einer Schreibmaschine zehn davon, sondern völlig neue Technologien mit anderen Funktionen.

Und das zweite Missverständnis?

Das zweite Missverständnis geht davon aus, dass wir für den Wachstumsprozess immer mehr natürliche Ressourcen einsetzen, die aber endlich sind, und dass wir deshalb den Planeten „leerwachsen“. Diesem Trugschluss ist auch der Club of Rome vor 50 Jahren aufgesessen, als er die Prognose aufstellte, dass wir bald keine Ressourcen, etwa Metalle und fossile Rohstoffe, mehr haben werden. Was bei diesen Desaster-Prognosen vergessen wird: Je mehr wir von einem Rohstoff bereits verwendet haben, desto knapper wird er und desto höher wird sein Preis. Damit produziert das marktwirtschaftliche System automatisch Anreize, sparsamer mit diesen Rohstoffen umzugehen und nach Alternativen zu suchen. Hinzu kommt, dass unser Rohstoffverbrauch nicht proportional zu unserem Wirtschaftswachstum steigt, da der Verbrauch mit der Weiterentwicklung unserer Technologien effizienter wird. Im Ergebnis sehen wir auch absolut eine Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch.

Diese Marktlogik, die Sie beschreiben, versucht man ja auch für den Klimaschutz zu nutzen. Stichwort: Emissionshandel. Durch ein Zertifikat erkauft man sich etwa eine bestimmte Menge an CO2, die man ausstoßen darf. Dadurch soll ein Anreiz zur CO2-Reduktion geschaffen werden.

Im Bereich der CO2-Emissionen haben wir allerdings ein Problem. Das liegt nicht an der ökonomischen Knappheitsproblematik, sondern daran, dass wir es hier mit einem globalen Kollektivgut zu tun haben. Solange wir uns nicht auf globale Eigentumsrechte verständigen können, wird auch der Emissionshandel nicht global funktionieren. Das Problem hätten wir aber bei jedem wirtschaftlichen System. Das ist keine Schwäche des Marktsystems, sondern eine Frage der internationalen Koordination. Und die ist nun mal schwierig.

Aber wie realistisch ist es, dass wir so etwas wie globale CO2-Eigentumsrechte definieren können? China zum Beispiel baut derzeit hunderte neue Flughäfen und Kohlekraftwerke. Da scheint es wie ein Tropfen auf dem heißen Stein, wenn in Deutschland der CO2-Ausstoß durch ein Tempolimit reduziert werden soll.

Das sind natürlich reine Symboldebatten. Es gibt da einen Elefanten im Raum, nämlich die Frage: Ist die CO2-Reduktion allen Nationen gleich wichtig? Die Antwort ist ziemlich klar: nein. Das hängt auch mit den enormen Entwicklungsunterschieden zwischen den Ländern zusammen. Wenn wir in der westlichen Welt unseren Konsum um zehn Prozent einschränken müssten, um CO2-Neutralität zu erreichen, dann würde das für Länder wie Indien bedeuten, dass sie ihren Konsum um fast 50 Prozent einschränken müssten, weil sie auf einem viel niedrigeren Entwicklungsstand sind. Und deshalb sind dort die Prioritäten anders gesetzt.

Welche Lösung sollte man also anstreben, um die CO2-Reduktion auch in solchen Ländern zu fördern? Die technologische Innovation antreiben, um eine Richtung vorgeben zu können?

Genau. Wenn man dieses Problem lösen möchte, muss man sich fragen: Warum setzen denn die Menschen auf fossile Energien? Der Grund ist ganz simpel: Weil es die billigste Energieform ist, die wir uns erschließen können, solange externe Effekte außen vor bleiben. Menschen wählen natürlich die einfachsten Mittel, um ihre Ziele zu erreichen, denn dann bleiben mehr Mittel für andere Ziele übrig. Es bräuchte also eine Energieform, die so billig ist, dass sie die Fossilen am Markt unterbieten kann. Niemand kann uns sicher voraussagen, dass wir solche Energieformen finden werden, aber die Mittel dort zu konzentrieren, wäre sicher der bessere Weg als zu sagen: Wir dekarbonisieren jetzt Europa und Nordamerika, koste es, was es wolle, und die übrige Welt wird uns dann folgen. Denn das wird sie kaum tun, wenn sie sieht, mit welchen Wohlstandseinbußen das verbunden sein kann.

Das Gespräch führte Lukas Koperek.

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