Nord Stream 1 - Russland liefert wieder Gas – und die Debatte darüber hält an

Seit Donnerstagmorgen leitet Russland nach Wartungsarbeiten wieder Erdgas durch die wichtige Ostsee-Pipeline Nord Stream 1. Entgegen vielen Befürchtungen bewegen sich die Mengen bisher auch im angekündigten Rahmen. Während es aus dem Kreml heißt, Russland wolle ein Garant für die Energiesicherheit in Europa bleiben, fordert unter anderem Greenpeace einen schnellen Gasausstieg.

Die Gasempfangsstation der Ostseepipeline Nord Stream 1 und der Übernahmestation der Ostsee-Pipeline-Anbindungsleitung im Industriegebiet von Lubmin / dpa
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Russland liefert wieder Gas durch die Pipeline Nord Stream 1. Netzdaten vom Donnerstagmorgen lassen darauf schließen, dass die angekündigten Mengen nach der Wartung der Ostsee-Leitung eingehalten werden – das Hochfahren in den ersten Betriebsstunden verläuft nach Angaben des Betreibers bisher jedenfalls nach Plan. Zuvor war befürchtet worden, Moskau könnte nach der zehntägigen Wartung den Gashahn komplett zulassen und so die Energiekrise weiter verschärfen. Mehrere europäische Länder hatten im Anschluss an die Sanktionsverhängung weniger oder teils gar kein Erdgas mehr erhalten.

Zwischen 7.00 und 8.00 Uhr aber floss laut der Nord Stream AG Erdgas, das einer Energie von mehr als 29,28 Gigawattstunden (GWh) entsprach. Das war in etwa so viel, wie das Unternehmen zuvor zugesagt hatte. In der darauffolgenden Stunde nahm der Wert nochmals leicht auf knapp 29,3 GWh zu und überstieg auch den für diesen Zeitraum geplanten Umfang. Zahlen von beiden Empfangspunkten im vorpommerschen Lubmin zeigten, dass die Werte von 9.00 bis 10.00 Uhr in etwa konstant blieben.

Bis zur vollen Transportleistung wird es noch dauern

In der ersten Stunde des Gastages, also zwischen 6.00 und 7.00 Uhr, war das Niveau wegen des Hochlaufs noch unterhalb der Ankündigung geblieben. Ein Nord-Stream-Sprecher erklärte, diese Differenz werde mit Mengen verrechnet, die vor den Arbeiten vor anderthalb Wochen beim Herunterfahren noch nach dem eigentlichen Lieferstopp anfielen. Bis die volle Transportleistung erreicht sei, werde es etwas dauern.

Nord Stream teilte am Vormittag dann auch offiziell mit, man habe „alle geplanten Wartungsarbeiten innerhalb des vorgesehenen Zeitraums erfolgreich abgeschlossen“. Die Lieferungen seien wieder aufgenommen worden. Die Bundesnetzagentur geht davon aus, dass die Pipeline – wie vor der Unterbrechung – zunächst zu etwa 40 Prozent ausgelastet wird. Dies entspräche einem täglichen Gasvolumen von gut 67 Millionen Kubikmetern oder einer Energie von etwa 700 GWh. Vor dem Beginn des Krieges Russlands gegen die Ukraine und den nachfolgenden Sanktionen des Westens gegen die Russische Föderation waren zum Beispiel im Dezember pro Tag noch bis zu 167 Millionen Kubikmeter Gas durch die Leitung gekommen, bei einer Gesamtenergie von bis zu 1755 GWh.

Moskau will Garant für Energiesicherheit Europas bleiben

Nach der Wiederaufnahme der Gaslieferungen nach Deutschland hat der Kreml in Moskau allerdings wissen lassen, dass Russland ein Garant für die Energiesicherheit in Europa bleiben wolle. Präsident Wladimir Putin habe stets betont, dass der Staatskonzern Gazprom alle Verpflichtungen erfülle, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Donnerstag. „Und jedwede technische Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, rühren von den Einschränkungen her, die von der Europäischen Union erlassen wurden. Sie erlauben nämlich nicht, dass die Reparatur der Ausrüstung umgesetzt wird.“ Peskow bezog sich auf die Sanktionen gegen Russland.

 

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Gazprom hatte zuletzt mehrfach kritisiert, dass Siemens Energy – Russland spricht immer nur von Siemens – eine in Kanada reparierte Gasturbine für den Betrieb von Nord Stream 1 nicht zurückgegeben habe. Die kanadische Regierung hatte die Turbine trotz der Sanktionen gegen Russland wegen Putins Krieg in der Ukraine auf Bitten der Bundesregierung freigegeben. Unklar ist aber, wo sie im Moment ist. Deshalb wurde die Gasdurchleitung durch die Ostsee-Pipeline am Donnerstag wieder nur zu 40 Prozent aufgenommen – wie bereits vor Beginn der nun beendeten zehntägigen Wartung.

Kreml spricht von politischem Druckmittel gegen Russland

Der Kremlsprecher wies in diesem Zusammenhang auch Vorwürfe zurück, dass sich Russland einen Vorwand suche, um die Gaslieferungen künstlich niedrig zu halten. Es gebe objektive technische Gründe, die auch von Siemens fixiert seien, sagte Peskow. Kremlchef Putin hatte davor gewarnt, dass die Lieferungen weiter sinken könnten – und zwar auf 20 Prozent oder 33 Millionen Kubikmeter täglich, wenn die Turbine nicht bis nächste Woche wieder eingebaut werde. Dann müsse ein weiteres Aggregat zur Reparatur, sagte Putin.

„Wir hören in den vergangenen Tagen viele Vorhaltungen. Vertreter der EU werfen Russland vor, dass es die Lage um das Gas zum Erpressen benutzt, als politisches Druckmittel“, sagte Peskow. „Das ist eine absolut nicht haltbare Behauptung, wir weisen das kategorisch zurück.“ Gazprom wolle seine Vertragspflichten erfüllen. „Russland ist als Lieferant von Energieträgern ein sehr wichtiger und unentbehrlicher Faktor der europäischen Energiesicherheit.“

Liefermenge schlägt sich wohl auf Gaspreise nieder

Die Liefermenge in den kommenden Monaten dürfte große Auswirkungen auf die deutsche Industrie, aber auch auf Privatkunden haben, weil sie sich aller Voraussicht nach auf die Gaspreise niederschlägt. Sie könnte auch ausschlaggebend dafür sein, wie weit Deutschland seine Gasspeicher vor der kalten Jahreszeit auffüllen kann und ob es zu einer Mangellage kommt. Kremlchef Wladimir Putin hatte in der Nacht zum Mittwoch vor einer Drosselung Ende Juli gewarnt und technische Gründe angeführt. Die Bundesregierung hält diese für vorgeschoben.

Den letzten Speicherstand für die gesamte Bundesrepublik gab die Datenbank des Netzwerks Gas Infrastructure Europe für Dienstag (19. Juli) mit rund 65,1 Prozent an. Im größten deutschen Speicher im niedersächsischen Rehden waren es nur knapp 34,7 Prozent.

Noch kein Grund zur Entwarnung

Der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, sagte der Deutschen Presse-Agentur, er sehe trotz der Wiederaufnahme der russischen Gaslieferungen durch Nord Stream 1 noch keinen Grund zur Entwarnung. Wenn in den nächsten Wochen etwa 40 Prozent der Kapazitäten der Pipeline ausgelastet würden, wären die schlimmsten Befürchtungen zwar nicht bestätigt. Aber Putin habe jüngst Aussagen getroffen, die auf ein Absinken in Richtung 20 Prozent hindeuten könnten. „Wir sind Russland momentan ausgeliefert, weil sie darüber entscheiden, wie viel Gas Nord Stream 1 an uns weiterleitet“, so Müller. Umso wichtiger seien daher Einsparungen und der Bezug aus anderen Quellen.

 

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Bei ihren Prognoseberechnungen geht die Bundesnetzagentur von einem durchschnittlichen Winter 2022/23 aus. Sie nimmt außerdem an, dass die ersten eigenen Terminals für verflüssigtes Erdgas (LNG) an der Nordsee ab Januar 2023 einsatzbereit sind. Falls der Winter jedoch kalt werde und die Terminals nicht schnell genug in Betrieb gehen sollten, „müsste das durch zusätzliche Einsparungen kompensiert werden, um eine Gasmangellage zu vermeiden beziehungsweise zu niedrige Füllstände im Frühjahr zu vermeiden“, warnte Müller.

Auch bei anderen Gasabnehmern deutete sich am Donnerstag zumindest vorläufig etwas Entspannung an. Der italienische Versorger Eni teilte mit, Russlands Energieriese Gazprom habe ihm eine Erhöhung der täglichen Mengen angekündigt. Italien ist ebenfalls stark abhängig von dem Energierohstoff – vor dem Krieg kamen knapp 40 Prozent der Importe aus Russland. In Deutschland entfiel über lange Zeit mehr als die Hälfte des gesamten Gasverbrauchs auf russische Quellen.

Der Gasmarkt bleibt aber angespannt

Die deutsche Gasbranche hält ein rechtzeitiges Auffüllen der Speicher zum Winter nach dem Wiederanlaufen von Nord Stream 1 jedenfalls für möglich, weist jedoch auf anhaltende Risiken hin. „Mit den reduzierten Gasmengen aus Russland können die angestrebten Füllstände erreicht werden, die Lage auf dem Gasmarkt bleibt aber angespannt“, sagte der Vorstand des Verbands Zukunft Gas, Timm Kehler, am Donnerstag. Deutschland müsse Energie sparen und den Betrieb der ersten LNG-Terminals als Lieferalternative sichern, „damit wir den Winter unter den aktuellen Annahmen gut überstehen“.

Insgesamt sehe sich die Gasindustrie auch nach dem Ende der Wartung der Ostsee-Pipeline großen Herausforderungen gegenüber. „Um das Gassystem wieder zu entlasten, müssen die schwimmenden LNG-Terminals bald in Betrieb gehen und Genehmigungen für die stationären Anlagen, die ab 2026 verfügbar sein werden, erteilt werden“, forderte Kehler. Zum Jahreswechsel sollen in Wilhelmshaven und Brunsbüttel die ersten Anlandestellen verflüssigtes Erdgas (LNG) aufnehmen – zunächst auf Spezialschiffen. Kehler glaubt: „Durch Beschaffung über LNG-Terminals wird uns mittelfristig wieder ausreichend Gas zur Verfügung stehen, was dann auch zu einem niedrigeren Preisniveau führen wird.“

Lieferstopp würde enorme Einnahmeverluste für Russland bedeuten

Unterdessen sieht die Energieökonomin Claudia Kemfert in der wieder angelaufenen Gaslieferung durch die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 einen Beleg für die russische Abhängigkeit von Gasexporten nach Europa. „Dass Russland wieder Gas liefert – wenn auch gedrosselt –, schafft  für den deutschen Gasmarkt Entspannung. Es ist aber auch Ausdruck davon, dass Russland den Bogen nicht überspannen kann, insbesondere aus wirtschaftlichen, aber vor allem politischen Gründen“, sagte die Energie-Expertin vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) der Rheinischen Post.

Kemfert zeigte sich optimistisch: „Wenn es weiterhin gelingt, Gas einzusparen, können wir die Speicher bis zu 90 Prozent zum November füllen. Das Verhalten Russlands zeigt, wie abhängig Russland selbst von den Gasverkäufen nach Europa ist.“ Laut Kemfert würde ein kompletter Lieferstopp erhebliche Einnahmeverluste für Russland bedeuten.

„Dieses Risiko kann Russland nicht eingehen. Zudem würde ein Lieferstopp die Energiewende hierzulande noch weiter beschleunigen und die Unabhängigkeit Deutschlands von Russland weiter voranbringen. Deutschland soll nicht zu schnell unabhängig von Russland werden“, meinte die Ökonomin. Und weiter: „Man will die Abhängigkeit weiter aufrechterhalten, um so Deutschland auch weiterhin erpressbar zu halten.“

Erdgas als Brücke zu den Erneuerbaren

Umwelt- und Klimaschützer sehen im Wiederanlaufen der Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 derweil keine tragfähige Entlastung in der europäischen Energiekrise. „Niemand darf sich von dieser Nachricht beruhigen lassen“, sagte Reenie Vietheer von Greenpeace am Donnerstag zur Inbetriebnahme der Leitung nach zehn Tagen Wartungspause. „Sicherheit vor Putins Machtspielen mit fossilen Energien gibt es nur durch einen möglichst schnellen Gasausstieg.“ Dabei müssten Menschen mit geringem Einkommen mehr Hilfen erhalten, forderte sie in Richtung Bundesregierung. Auch seien entschlossenere Anreize zum Energiesparen nötig, etwa zur Nutzung von Wärmepumpen.

Umweltorganisationen sehen die Nutzung von Erdgas tendenziell kritisch. Andererseits soll es als „Brücke“ genutzt werden, bis regenerative Träger ausreichend viel Strom für das gesamte Netz beitragen. Der Chef des Umweltverbands BUND, Olaf Bandt, kritisierte das Festhalten an dem Rohstoff: „Das Gas fließt wieder, die Probleme für den Herbst bleiben. Die Situation führt uns schmerzlich vor Augen, wie stark wir auf fossile Energieträger, allen voran Erdgas, angewiesen sind.“

Quelle: dpa

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