Eon-Chef im Interview - „Deutschland braucht ein neues Betriebssystem“

Eon-Chef Leonhard Birnbaum spricht im Cicero-Interview über unterschätzte Probleme der Energiewende, überforderte Behörden und deutsche Besserwisserei. Für ihn ist klar: Ohne Atomkraftwerke kann Europa kein stabiles Energiesystem betreiben.

Leonhard Birnbaum ist seit April 2021 Vorstandsvorsitzender des Energiekonzerns Eon / Marcus Simaitis
Anzeige

Autoreninfo

Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

So erreichen Sie Daniel Gräber:

Anzeige

Leonhard Birnbaum ist promovierter Chemieingenieur. Er startete seine Wirtschaftskarriere als Unternehmensberater bei McKinsey. 2008 wurde er Vorstand des Energiekonzerns RWE. 2013 wechselte er zu Eon. Seit April 2021 ist er dort Vorstandsvorsitzender.

Herr Birnbaum, als zu Beginn des Ukrainekriegs über einen Boykott russischen Erdgases diskutiert wurde, haben Sie vor massiven Schäden für die deutsche Volkswirtschaft gewarnt. Inzwischen kommen wir ohne Gazprom-Lieferungen aus. Waren Ihre Warnungen übertrieben?

Damals hatten wir leere Speicher. Wir wussten noch nicht, wie wir diese Speicher auffüllen. Wir hatten keine Infrastruktur, um alternative Importwege zu erschließen. Und wir hatten keine Importverträge für LNG, keine oder alte gesetzliche Rahmenbedingungen, keine Prozesse, keine Kommunikationswege. Europa war im Frühjahr 2022 komplett unvorbereitet. Hätten wir von europäischer Seite aus einen harten Schnitt gemacht, dann hätten wir das alle bereut.

Dass sich Deutschland in die Abhängigkeit von Wladimir Putin begeben hat, war ein Fehler, den nicht nur die Politik, sondern auch die Energiewirtschaft zu verantworten hat. Wie konnte das geschehen?

Problematisch war nicht, dass wir Energiebeziehungen zu Russland hatten. Vom günstigen Pipeline-Gas aus Russland hat unsere Volkswirtschaft, haben alle Bürger in diesem Land jahrzehntelang profitiert, weil es uns wettbewerbsfähiger gemacht hat. Der Fehler war, dass wir durch den Umbau des Energiesystems über die Jahre immer weniger Alternativen zum russischen Gas hatten. Dadurch haben wir uns erpressbar gemacht. Wir waren uns zu sicher, dass Russland Energie nie als Waffe einsetzen würde. Hinterher sind wir alle schlauer.

 

Mehr zum Thema:

 

Warnungen von Nato-Partnern gab es früh. Spätestens nach der Annexion der Krim 2014 hätte Deutschland sie ernst nehmen müssen. Stattdessen hat auch Ihr Unternehmen bis zum Schluss an der Nord-Stream-Pipeline festgehalten.

Mit Uniper haben wir sämtliche Russlandaktivitäten 2016 abgespalten und dann verkauft. Das haben wir allerdings nicht gemacht, weil wir wussten, was Putin vorhat, sondern weil die Geschäfte nicht mehr zu Eon gepasst haben. Wir wollten uns voll auf die grüne Energiewende fokussieren. Es stimmt: Die meisten haben 2014 in seiner Bedeutung nicht ernst genug genommen. Das gilt für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft gleichermaßen.

Welche Rolle wird Erdgas in Zukunft noch spielen? Bei den Grünen gibt es Pläne, das deutsche Gasnetz zurückzubauen.

Eon betreibt sowohl Gas- als auch Stromverteilnetze. Beim Gas müssen wir uns in der Tat auf eine tendenziell schrumpfende Infrastruktur einrichten, während wir es beim Strom mit einer stark wachsenden Infrastruktur zu tun haben, die wir in den nächsten Jahren massiv ausbauen müssen.

Also gehen Sie auch davon aus, dass Gasleitungen stillgelegt werden, weil künftig alle mit der elektrischen Wärmepumpe heizen?

Das kann man nicht pauschal sagen. Es gibt sicher Leitungen, die in Zukunft nicht mehr benötigt werden. Dort wird Gas durch Strom ersetzt. In anderen Bereichen wird Wasserstoff den Weg ins System finden müssen, etwa weil entsprechende Industrie angesiedelt ist. Dort macht es aus unserer Sicht Sinn, Gasverteilnetze als Teil des Systems beizubehalten und auf Wasserstoff umzurüsten, statt eine komplett neue Infrastruktur zu bauen. Diese Diskussion ist gerade in vollem Gange.

Oft ist von einer „fossilen Lobby“ die Rede, die aus wirtschaftlichem Interesse die Wärmewende blockiere. Sind Sie die fossile Lobby?

Steil bergauf: Birnbaum ist leidenschaftlicher Kletterer, hier in den Dolomiten

Ganz klares Nein. Die neue Eon hat als Kern ihrer Strategie, die grüne Energiewende in Europa zu ermöglichen: Infrastruktur, die die Energiewende möglich macht und den Vertrieb und Kundenlösungen. Wir haben keine Kohlekraftwerke mehr, wir fördern keine Kohle und wir verkaufen kein Öl. 

Aber Sie verkaufen noch Gas.

Wir verkaufen auch Gas, wenn unsere Kunden das in der Transformation brauchen. Wenn Sie mit der „fossilen Lobby“ sprechen wollen, sind Sie bei uns auf jeden Fall an der ganz falschen Adresse.

Ihr Hauptgeschäft wird künftig der Stromnetzausbau?

Absolut. Das ist es übrigens auch schon heute. Mehr als 80 Prozent unseres Geschäfts macht die Bereitstellung von Infrastrukturen für die Energiewende aus. Mit weitem Abstand wichtigster Teil hiervon sind die europäischen Stromverteilnetze.

Das heißt, Sie profitieren wirtschaftlich von der Energiewende.

Natürlich. Die Energiewende hat für uns wirtschaftlich nur Vorteile. Je besser die grüne Transformation vorankommt, desto mehr Infrastruktur ist erforderlich. Je mehr Infrastruktur erforderlich ist, desto mehr Wachstumspotenzial hat Eon. Deshalb entwickelt sich auch unser Aktienkurs so gut. Weil der Kapitalmarkt versteht, dass in dieser Dekade der eigentliche Engpass der Ausbau der Infrastruktur ist.

Wenn über Netzausbau geredet wird, geht es meistens um die großen Trassen, die den Windstrom aus dem Norden in den industriereichen Süden bringen sollen. Das andere Problem sind die flächendeckenden Verteilnetze, deren Kapazität nicht ausreicht. Hat man das unterschätzt?

Ja, das wurde insbesondere seitens der Politik lange nicht gesehen. Unsere Branche hat in früheren Jahrzehnten vorausschauend ein Netz mit einer hohen Sicherheitsreserve aufgebaut. Von dieser Reserve haben wir als Land bisher gezehrt. Das heißt, wir konnten den Zubau der Erneuerbaren im bestehenden System anschließen. Aber diese Reserven sind jetzt langsam aufgebraucht. Es kommt daher immer häufiger zu Engpässen im Stromnetz, deren Management zu enormen Zusatzkosten führt – dem sogenannten Redispatch. Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland über zehn Milliarden Euro für den kurzfristigen Ausgleich von Engpässen ausgegeben.

Woran hakt es? Warum reicht das bisherige Stromnetz nicht aus?

Den Zubau an Windkraft und Solar, der jetzt kommen soll, können wir nur bewältigen, wenn wir massiv Transportkapazitäten bauen und deutlich mehr in die Verteilnetze investieren. Stellen Sie sich einen Landkreis in Bayern vor: Dort leben 5000 Menschen, die brauchen fünf Megawatt Leistung. Plus 10.000 Kühe, noch mal fünf Megawatt. Also brauche ich für diesen Landkreis zehn Megawatt. In der Vergangenheit hat Eon dort eine Leitung hingebaut und einen Trafo mit zwölf Megawatt, um etwas Reserve zu haben. Jetzt braucht derselbe Landkreis immer noch zehn Megawatt. Aber zwischendurch liefert er 400 Megawatt Solarstrom.

Weil jeder Bauer eine Fotovoltaikanlage auf dem Scheunendach hat?

Genau, weil der Ausbau dezentraler erneuerbarer Erzeugungsanlagen schon gut vorangekommen ist. Für uns bedeutet das, dass wir alle Mittelspannungstrafos in unserem Netzgebiet austauschen müssen. Das sind Tausende. Wir müssen die bestehende Netz-Infrastruktur komplett ertüchtigen, damit sie mit dieser völlig neuen Situation zurechtkommt. Nur so können wir unsere Versorgungsaufgabe auch in Zukunft erfüllen.

Für Sie, Ihre Mitarbeiter und Aktionäre sind das gute Nachrichten. Aber der Stromverbraucher muss, sofern nicht der Staat einspringt, diese Investitionen über die Netzentgelte bezahlen.

Am Ende zahlen wir alle für eine umweltfreundliche, zuverlässige und sichere Versorgung mit Energie, ob als Steuerzahler oder Stromkunde.

Die weitverbreitete Erzählung, dass Ökoenergie quasi kostenlos sei, ist also ein Märchen?

So negativ würde ich es nicht formulieren, aber: Wir können die reine Erzeugung nie losgelöst betrachten. Wir werden demnächst rund 300 Gigawatt an Erneuerbaren in Deutschland installiert haben. Bei einer Spitzenlast, also dem maximalen Verbrauch, von 80 Gigawatt. Wenn dann die Sonne scheint und der Wind weht und wir diese 300 Gigawatt in der Produktion haben, dann kostet der Strom in dem Moment wirklich nichts mehr. Aber wir brauchen immer zusätzlich Back-up-Kraftwerke und Leitungen, die den Strom transportieren. Die Erwartung, dass der Strom dauerhaft billig wird, nur weil die erneuerbare Erzeugung so günstig ist, teile ich nicht.

Aus der Hauptstadt: Der Berliner Bär grüßt in Birnbaums Essener Büro

Zumal sie nicht immer zur Verfügung steht.

Eben. Die letzte Auktion in Irland für die Errichtung eines Offshore-Windparks hat bei 80 Euro pro Megawattstunde geschlossen. Da Windstrom nicht sicher verfügbar ist, müssen Sie als Betreiber des Windparks überlegen: Was kostet es noch, diesen Windstrom so auszugleichen, dass man die Produktion dieses Windparks zum Beispiel an ein Unternehmen verkaufen kann, das durchgehend Strom braucht, auch wenn der Wind nicht weht. Dann landen Sie bei deutlich über 100 Euro pro Megawattstunde.

Weil man dazu noch herkömmliche Kraftwerke braucht, als Absicherung für windstille Zeiten?

Ja, das sind diese Zusatzkosten – der Ausgleich der Volatilität der Erneuerbaren hat schlichtweg seinen Preis.

Zurück zum Netzausbau. Sie haben neulich beklagt, dass Sie damit kaum vorankommen, weil die Genehmigungsbehörden komplett überfordert seien.

Wir haben in Deutschland eine Komplexität der Regelwerke und der Gesetzgebung gefunden, die letztlich alle überfordert, inklusive der Verwaltung.

Reden Sie nur vom Energiebereich?

Ich rede von allem. Der Energiebereich ist hier leider keine Ausnahme. Wenn Sie heute als privater Bauherr einen Bauantrag stellen, dann fragen Sie sich: Warum dauert das eigentlich so lange? Warum dauert es Ewigkeiten, einen Antrag überhaupt erst mal vollständig zu bekommen? Die Verwaltungen sind aus meiner Sicht überfordert. Ein Verfahren, das zehn Jahre dauert, ist per Definition schlecht. In zehn Jahren verändert sich so viel, dass man wieder von vorne anfangen muss. Es gibt natürlich die Möglichkeit, ein schlechtes System besser zu bedienen – das hat uns im vergangenen Jahr punktuell der Bau der LNG-Terminals gezeigt. Das muss aber politisch gewollt sein.

Dieser Wille fehlt sonst?

Das ist unterschiedlich. Bayern geht zum Beispiel mit den Herausforderungen besser um. Dort laufen die Prozesse schneller. Sie können froh sein, wenn Sie bei Ihrem Anliegen eine bayerische Verwaltung vor sich sitzen haben. Wir bekommen dort eindeutig bessere und schnellere Genehmigungen.

Dabei muss doch Bayern gerade immer wieder als Sündenbock herhalten, weil dort angeblich die Energiewende blockiert werde.

Ich kann Ihnen nur sagen, der Netz­ausbau funktioniert in Bayern besser als im Rest der Republik. Aber insgesamt ist das Problem: Die Anzahl der Genehmigungen, die wir brauchen, um die Infrastruktur für die Energiewende auszubauen, ist so groß, dass es aus meiner Sicht vollkommen ausgeschlossen ist, dass wir das mit den momentanen Verwaltungsverfahren hinbekommen. Für das Gelingen der Energiewende braucht Deutschland keine Ausnahmen von bestehenden Regelungen, sondern ein neues Betriebssystem.

Vor kurzem wurden Sie zum Präsidenten des europäischen Branchenverbands Eure­lectric gewählt. Wird die Energiewende in Deutschland nicht zu sehr als nationale Nabelschau betrieben?

Wir müssen die Energiewende europäisch angehen, weil es keine nationalen Energiemärkte mehr gibt. Vom europäischen Strommarkt hat im vergangenen Jahr insbesondere Frankreich profitiert, als die dortigen Kernkraftwerke reihenweise nicht zur Verfügung standen; beim Gas hat Deutschland während der Energiekrise stark profitiert. Je größer man ein Energiesystem macht, desto effizienter ist es. Je kleiner Sie es machen, desto mehr Reserve müssen Sie in das System hineinpacken – desto teurer wird das System. Zudem können Sie Energiemärkte bald nicht mehr von den anderen Märkten trennen. Wasserstoff, CO2-freier Stahl, Elektromobilität – das wird in allen Branchen relevant. Das heißt, wenn Sie einen europäischen Binnenmarkt haben wollen, geht das nicht ohne einen Binnenmarkt für Energie. Deswegen muss Europa der Maßstab für jeden sein, der sich mit dem Thema beschäftigt.

Mit dem Festhalten am Atomausstieg hat Deutschland den Rest Europas vor den Kopf gestoßen.

Den deutschen Ausstieg versteht außerhalb Deutschlands niemand.

Aber wir erklären noch den anderen, dass auch sie keine Kernkraftwerke bauen sollen – sind aber heimlich froh, wenn sie es doch tun.

Wir werden in Europa ohne Kernkraftwerke kein stabiles Energiesystem in den nächsten Jahren betreiben können. Wir werden auch den Umstieg auf die Erneuerbaren nicht hinbekommen, wenn wir keine stabilisierenden Elemente haben. Die Kernkraft ist ganz klar ein stabilisierendes Element. Ich glaube, wir sollten anderen weniger erklären, was richtig ist, sondern mit ihnen zusammenarbeiten, um gemeinsam ein besseres Energiesystem zu schaffen. 

Also mehr Europa wagen?

Ja! Ich bin davon überzeugt, dass wir nur mit einer durchdachten und solidarischen europäischen Energiepolitik eine sichere Energieversorgung gewährleisten können und so den Wirtschaftsstandort Europa auf Dauer im Wettbewerb mit anderen Weltregionen halten können. 

 

Dieser Text stammt aus der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige