Energiewende - Der Blick fürs Machbare

Bauingenieurin Lamia Messari-Becker bringt mit, woran es anderen Energiewende-Experten oft fehlt: Praxiserfahrung und Pragmatismus.

Lamia Messari-Becker ist Professorin für Gebäudetechnologie und Bautechnik an der Universität Siegen / Zino Peterek
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Merkwürdigerweise wird in Deutschland über etwas so Nüchternes, aber elementar Wichtiges wie die Bereitstellung von Strom, Wärme und Fortbewegungsenergie mit einem Eifer und einer Leidenschaft gestritten, als gelte es, einen heiligen Krieg zu gewinnen. Dabei kann man schnell zwischen die Fronten geraten. Lamia Messari-Becker versucht, genau das zu vermeiden.

Die Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik an der Universität Siegen beschäftigt sich seit Beginn ihrer Karriere mit Nachhaltigkeit im Gebäudesektor. Und sie wirbt dafür, die Energiewende realistischer, ganzheitlicher, sozialverträglicher und technologieoffener anzugehen. Dass man das Bauen und Heizen unbedingt mit einbeziehen muss, wenn die Dekarbonisierung gelingen soll, fordert sie schon seit Jahren. Schließlich stammen 30 Prozent der Kohlendioxid­emissionen aus diesem Bereich. Doch die deutsche Energiewende habe „lange Zeit den falschen Fokus gesetzt“, kritisiert Messari-Becker, nämlich ausschließlich auf Strom.

Klimaschutz als Ersatzreligion

Jetzt ist das Thema mit Robert Habecks Wärmepumpenoffensive zwar ganz oben auf der politischen Tagesordnung gelandet. Aber so handstreichartig, wie es sich der Wirtschafts- und Klimaschutzminister vorstellt, werde die Wärmewende nicht gelingen, mahnt die Expertin: „Man muss so etwas langsam vorbereiten. Mit den Hauseigentümern und Mietern, nicht gegen sie. Mit den Handwerkern und Unternehmen, nicht gegen sie. Und vor allem darf man nicht den Fehler machen, sich überwiegend auf eine einzige Technologie, nämlich strombetriebene Wärmepumpen, zu beschränken.“

Die gebürtige Marokkanerin hält die Klimaschutzdebatte hierzulande für zu einseitig und zu ideologisch aufgeladen. „Manchmal habe ich den Eindruck, Klimaschutz dient als Ersatzreligion. Denn es geht oft mehr um Verzicht und darum, dass Menschen ihr Verhalten ändern sollen, als darum, nach technologischen Lösungen zu suchen.“ 

 

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Schon in der Schule hatte Messari-­Becker ein Faible für naturwissenschaftliche Fächer. Ihr Vater war Schuldirektor und Kommunalpolitiker, ihre Mutter stolze Hausfrau. Die beiden unterstützten sie, als sie nach dem Abitur Anfang der 1990er Jahre nach Deutschland ging. Sie studierte Bauingenieurwesen an der Technischen Universität Darmstadt, promovierte und arbeitete in international tätigen Ingenieurbüros.

Mit dem Blick für das Machbare

In ihrer Doktorarbeit, die sie in Kooperation mit Wirtschaftswissenschaftlern verfasste, widmete sie sich dem Emissionshandel im Wohngebäudebestand. „Viele Ingenieurskollegen haben das damals nicht verstanden“, sagt Messari-Becker. „Aber mir war es wichtig, bei Gebäudesanierungen die ökonomische Perspektive mit einzubeziehen. Denn es reicht nicht, sich etwas auszudenken, das wirtschaftlich nicht umsetzbar ist.“ 

Dieser Blick für das große Ganze, das Mach- und Durchsetzbare ist es, der die als Politikberaterin gefragte Wissenschaftlerin wohltuend von anderen Energiewende- und Klimaschutzexperten unterscheidet. Das zeigte sich etwa, als Messari-Becker 2019 innerhalb des Sachverständigenrats für Umweltfragen auf Opposition zu den übrigen Mitgliedern ging.

Das Beratungsgremium der Bundesregierung forderte damals in einem Sondergutachten, das politische System zu verändern: Ein „Rat für Generationengerechtigkeit“ sollte ein aufschiebendes Vetorecht im Gesetzgebungsverfahren erhalten, um eine „unumkehrbare ökologische Krise“ abzuwenden. Messari-Becker widersprach öffentlich. „Ein Vetorecht für ein nicht demokratisch legitimiertes Gremium würde eine Schwächung des Parlaments bedeuten“, erklärte sie ihre abweichende Meinung. 2020 wurde sie nicht erneut in den Sachverständigenrat berufen, dafür aber in den Club of Rome.

Kritische Energieexperten sind gefragt

In zahlreichen anderen Fachgremien ist die Nachhaltigkeitsforscherin zudem aktiv, tritt im Bundestag bei Expertenanhörungen auf – und in jüngerer Zeit zunehmend in Talkshows und Interviews. Denn es wächst in der Öffentlichkeit der Wunsch nach differenzierten Expertenstimmen zur Energiepolitik. Lange kamen in den Medien vor allem Wissenschaftler zu Wort, die das bestätigten, was Politiker gerne hören wollen. Inzwischen werden sie kritisch hinterfragt.

Für Messari-Becker ist die Einmischung in politische Debatten eine Gratwanderung. Sie, parteilos, will zwar Position beziehen und darauf aufmerksam machen, wenn aus ihrer Sicht etwas falsch läuft. Aber sie will sich dabei von keiner Seite vereinnahmen lassen. „Mir geht es darum, die Debatten zu versachlichen. Denn sie werden von Leuten geprägt, die keine Praxiserfahrung haben. Es fehlt oft die technische Perspektive der Ingenieurin.“ 

 

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

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