China-Verhältnis - Mehr Realismus wagen

China ist für Deutschland ein wirtschaftlicher Rivale. Doch wer die bilateralen Beziehungen mit Peking nur durch die Linse dieser Rivalität sieht, der verkennt, dass sich die Interessen unserer Länder in vielen Bereichen überlappen. Uns eint mehr als uns trennt.

Pekinger Skyline / picture alliance
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Autoreninfo

Henrik Bork hat 30 Jahre lang als Asienkorrespondent für deutsche Medien gearbeitet, zuletzt als Büroleiter der Süddeutschen Zeitung in Tokio und Peking. Seit 2012 schreibt er als freier Autor und berät internationale Konzerne bei ihrer Chinastrategie. 

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Wie konnte China so schnell so tief sinken? Gestern noch war es richtig „in“, das Lieblingsland deutscher Politiker und Manager, stets in einem Atemzug genannt mit Stichworten wie „Zukunft“ oder „Dynamik“. Heute ist es plötzlich „out“, eine Gefahr für Demokratie und Wohlstand, wird mit „wirtschaftlicher Abhängigkeit“ oder dem „Wettbewerb der Systeme“ verknüpft und soll mit einer „wertebasierten Außenpolitik“ eingedämmt werden. Es gibt zu viele Extreme in dieser deutschen China­debatte, zu viel Schwarz und Weiß, kaum Grautöne. Das Pendel der Chinawahrnehmung ist mal wieder ganz am anderen Ende der Amplitude angekommen. Verwundern muss uns das allerdings nicht, denn es war schon immer so. 

Das Chinabild der Europäer schwankt seit der Renaissance zwischen zwei Polen hin und her wie das Pendel einer Kuckucksuhr. Ludwig der XIV. ließ sich im Garten von Versailles einen mit chinesischen Motiven verzierten Pavillon bauen, für die Treffen mit seiner Mätresse Madame de Montespan. Etwa 1670 war das. Damals war China in Europa gerade Objekt uneingeschränkter Bewunderung. Der deutsche Adel äffte den Sonnenkönig nach, indem er seine Schlösser ebenfalls mit „Chinoiserien“ füllte.

Bei der sogenannten Hunnenrede des deutschen Kaisers Wilhelm II., im Juli 1900, waren wir am anderen Ende des Spektrums angekommen. Denn mit den „Hunnen“ meinte unser Kaiser die Chinesen, die seiner Meinung nach eine „gelbe Gefahr“ waren. „Pardon wird nicht gegeben!“, soll Wilhelm den Offizieren seines Expeditionskorps zugerufen haben.

Wahrnehmung schwankt zwischen den Extremen

Dann die jüngere Geschichte: Nach dem Pekinger Massaker vom 4. Juni 1989, als die Kommunistische Partei Chinas Panzer gegen das eigene Volk rollen ließ, war China ein paar Jahre lang international geächtet. In einem Linienflug von Hongkong ins chinesische Hangzhou, ein paar Wochen nach dem Massaker, war ich damals der einzige Fluggast. Ich machte mir, so ganz allein in der Economy-Klasse sitzend, Sorgen um chinesische Freunde, die in Peking für Demokratie demonstriert hatten. China zu isolieren, war gerade en vogue. Ich hielt das damals schon für falsch. Ein paar Jahre darauf, im November 1995, reiste der deutsche Kanzler Helmut Kohl als erster europäischer Regierungschef wieder nach China und konnte sich gar nicht tief genug verbeugen. Es war das abrupte Ende der Eiszeit in den bilateralen Beziehungen.

Es reichte Kohl nicht, Chinas Politikern die Hände zu schütteln, wofür es ja gute Gründe gab, sondern er besuchte noch demonstrativ eine Kaserne der Volksbefreiungsarmee. Ich lief damals als Journalist hinter Kohl durch die Baracken von Tianjin, wäre aber lieber vor Scham im Boden versunken. Mehr Kotau ging nicht.

Jahrzehntelang habe ich die Pendelschläge dieser zu stark aufgezogenen Kuckucksuhr als Auslandskorrespondent mit verfolgt und bin zu der Überzeugung gelangt, dass die extremen Schwankungen der deutschen Chinawahrnehmung mehr mit uns selbst zu tun haben als mit China. Dieses Land in regelmäßigen Abständen zu verteufeln, mag zwar Spaß machen, ist aber einfach dumm. Es ist, auf die aktuelle Debatte bezogen, äußerst kontraproduktiv, uns allein auf den Aspekt der Rivalität zu fokussieren. Das ist nicht zu Ende gedacht, greift viel zu kurz.

Ohne China geht es nicht

China hat zwar viel selbst dazu beigetragen, dass die Stimmung in Berlin momentan schon wieder fast an Chinafeindlichkeit grenzt. Staats- und Parteichef Xi Jinping hat den wirtschaftlichen Reformkurs seines Landes beendet, pflegt einen an Mao erinnernden Personenkult, ist von Allmachtsfantasien besessen. Sein „Volkskrieg gegen das Virus“ und seine Null-Covid-Politik sind nach drei Jahren großer wirtschaftlicher Verluste kläglich gescheitert.

Auch Pekings Säbelrasseln gegenüber Taiwan und die andauernden Repressalien gegen ethnische Minderheiten in Tibet und Xinjiang sind schlimm und werden zu Recht kritisiert. Und doch ist China schlicht zu groß, als dass man es sich selbst überlassen könnte, in verärgerter Isolation, um „in seinen Fantasien zu schwelgen, seine Hassgefühle zu hegen und seine Nachbarn zu bedrohen“, wie es Richard Nixon schon 1967 sagte. Dies sei heute immer noch so, schreiben die Autoren des Global China Policy Brief vom November, veröffentlicht von der Brooking Institution. 
 

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Ob es uns nun gefällt oder nicht: Wir brauchen China zur Bewältigung aller großen Herausforderungen der Gegenwart. Dazu zählen der Klimawandel, der durch den Ukrainekrieg verschlimmerte Hunger von Millionen von Menschen, die Armutsbekämpfung im globalen Süden, der Arten- und Umweltschutz, die Eindämmung der nuklearen Proliferation, die weltweite Cybersecurity und der Kampf gegen globale Epidemien.

„Wertebasierte“ Versuche der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock, die sich in China vor allem für Menschenrechte einsetzen will, sind gut gemeint. Zu Hause lässt sich damit auf jeden Fall politisch punkten. Die Deutschen mögen so etwas. Aber ist diese Politik klug, solange sie nicht mit einer intensiven Pflege der deutsch-chinesischen Beziehungen bei allen anderen Themen einhergeht?

China ist Partner und Rivale

China ist mit seiner riesigen Bevölkerung für fast ein Drittel aller Kohlendioxidemissionen der Erde verantwortlich, Deutschland für knapp 2 Prozent. Bei allem Respekt für den deutschen und europäischen Eifer beim Klimaschutz – diese Zahlen allein verdeutlichen, dass unsere Macht, etwas zu bewirken, ohne China sehr beschränkt ist. 

Wir brauchen allein schon mit Blick auf den Klimawandel eine Politik, die klaräugig und realistisch unsere eigenen nationalen Interessen auf den obersten Platz der To-do-Liste setzt. Mehr deutsche Umwelttechnologie und insgesamt mehr deutsche Hochtechnologie für China hilft nicht nur den Chinesen bei ihrem berechtigten Versuch, ihr eigenes Land zu entwickeln. Es liegt auch in unserem eigenen Interesse.

Denn wir können viel mehr zur Rettung des Weltklimas beitragen, wenn wir unsere Wirtschaftsbeziehungen zu den Chinesen vertiefen und mit ihnen so viel unseres Know-hows wie möglich teilen, als mit noch so vielen neuen Fahrradwegen in unseren Innenstädten oder Geschwindigkeitsbegrenzungen auf deutschen Autobahnen. Selbst die gesamte deutsche Energiewende, wenn sie denn jemals gelingen sollte, verblasst im Vergleich zur Wichtigkeit einer Kooperation mit China beim Klimaschutz.

Das heißt nicht, dass die Kritiker Pekings keine gültigen Argumente hätten. China ist für Deutschland, auch für die USA, zunehmend ein wirtschaftlicher Rivale. Noch dazu einer, der nicht immer fair spielt. Doch wer die bilateralen Beziehungen mit China nur durch die Linse dieser Rivalität sieht, der verkennt, dass sich die Interessen unserer Länder in vielen Bereichen überlappen, gegenseitig ergänzen. Uns eint viel mehr, als uns trennt – selbst jetzt, während China auf dem Weg aus der Diktatur in den Totalitarismus ist.

Protektionismus hat noch nie geklappt

Die Hoffnung auf „Wandel durch Handel“ plötzlich als naiv zu bezeichnen, ist falsch. Enge Wirtschaftsbeziehungen und der Austausch mit China auf allen Ebenen bleiben wichtig. Dies ist noch immer die beste in einem Korb von Optionen, in dem keine perfekte Lösung bereitliegt. Genau wie die Ostpolitik von Willy Brandt unabhängig von allen ideologischen Differenzen und militärischen Ängsten richtig war, so ist heute das Engagement gegenüber China richtig. Und dabei spielt es keine Rolle, ob es gerade Menschen, deren Herz ganz stark für die Menschenrechte schlägt, ins Außen- und Wirtschaftsministerium in Berlin geschafft haben. 

Keinesfalls sollten wir Donald Trump und Joe Biden auf ihrem Irrweg folgen, China mit Boykotten fortschrittlicher Halbleiter wirtschaftlich zu bekämpfen. Das wird dort und in vielen anderen Ländern Asiens als Reaktion eines Landes verstanden, das Angst hat, bei Zukunftstechnologien wie künstliche Intelligenz (KI), Elektromobilität und erneuerbare Energien das Rennen gegen China zu verlieren. Protektionismus hat sich noch nie bewährt, ist ein Eingeständnis der Schwäche.

Unser Autor Henrik Bork auf dem Platz des Himmlischen
Friedens, bevor ihn die chinesische Regierung 1995 aus
dem Land warf / dpa

Die USA schießen sich mit ihrem Handelskrieg gegen China ins eigene Knie. Die modernen KI-Chips, die Wa­shington nun auf seine schwarze Liste für China gesetzt hat, werden auch in Windturbinen und Solaranlagen, in E-Autos, Energiespeichern und Datenzentren gebraucht. Jeder einzelne Chip, den China nicht bekommt, der durch sein Fehlen die Modernisierung des Landes verzögert, torpediert den globalen Kampf gegen die Erderwärmung. Und amerikanische Chiphersteller wie Nvidia oder Intel zu schwächen, indem man ihr Chinageschäft schädigt, wird sich langfristig nicht auszahlen. „Dual use“, also auch für militärische Zwecke einsetzbar, ist fast jede Hochtechnologie. Doch selbst wer geostrategisch argumentiert, ist mit guten Beziehungen zu Peking besser beraten als mit einer herbeigeredeten, unnötigen Abkühlung.

Deutschland kann sich Großmachtsfantasien nicht leisten

Die Sorge um Taiwan ist berechtigt, aber sie ist nicht neu. Peking sagt, dass es eine friedliche Wiedervereinigung anstrebt, aber den Einsatz von Gewalt nicht ausschließt, sollte sich Taipeh in Richtung einer formellen Unabhängigkeit bewegen. Wer hier weiterhin mäßigend Einfluss ausüben will, braucht gute bilaterale Beziehungen. Eine Invasion Taiwans steht nach Meinung gut informierter Beobachter nicht unmittelbar bevor. Und Gedankenspiele nach dem Motto „was wäre, wenn“ rechtfertigen es nicht, China mit Russland gleichzusetzen, das gerade ein friedliches Nachbarland überfallen hat.

Auch militärisch wird China allerdings immer stärker. Es hat beim neuen Rennen im Weltall schon fast die Nase vorn. Mit Technologie-Boykotten kann es zwar um einige Jahre in seiner Entwicklung zurückgeworfen, aber nicht mehr langfristig ausgebremst werden – weder wirtschaftlich noch militärisch. Der chinesische Staat pumpt Milliardensummen in den Aufbau einer eigenen Halbleiterindustrie. Noch hinkt man in Peking den Amerikanern und Taiwanesen bei der jüngsten Chipgeneration im Vier- oder Fünf-Nanometer-Bereich um einige Jahre hinterher. Doch es ist nur noch die Frage, wann und nicht ob der Vorsprung eingeholt werden kann. Dass sich Deutschland Großmachtsfantasien wie zu Zeiten Kaiser Wilhelms II. erlauben und möglicherweise im Schlepptau der Amerikaner die „bösen Chinesen“ für ihre Verfehlungen bestrafen könnte, ist illusorisch.

Es birgt eine gewisse Ironie, dass ich hier so argumentiere. Denn als Chinakorrespondent hatte ich mir den Ruf eines scharfen Kritikers der kommunistischen Führung in Peking erworben. Ende 1995 entzog mir die chinesische Regierung meinen Presseausweis und mein Visum. Ich war plötzlich arbeitslos und musste China für mehrere Jahre verlassen. Doch auch damals schon, als mich CNN und der grandiose Ulrich Wickert in den ARD-„Tagesthemen“ interviewten, habe ich vor einem Verteufeln Chinas gewarnt.

Wir müssen vor Ort bleiben 

Selbstverständlich sollen Politiker in China die Menschenrechte ansprechen, für universelle Werte eintreten. Aber genauso selbstverständlich sollen BMW, VW und Co. ihre deutschen Autos in China verkaufen. Letzteres wird übrigens schon ganz ohne politische Störgeräusche immer schwerer, denn die Chinesen sind bei E-Autos und dem autonomen Fahren selbst sehr weit gekommen. Wie lange sie uns überhaupt noch brauchen, steht gerade zur Debatte.
 

Cicero Politik Podcast mit Guido Steinberg:
„Wir haben das strategische Denken verlernt“


Nirgendwo auf der Erde werden heute so viele gute und bezahlbare Elektroautos gebaut und verkauft wie in China. Nirgendwo wird so viel Solar- und Windstrom erzeugt wie hier. Nirgendwo gibt es – außer in den USA – so viel Fortschritt auf dem Gebiet der Biotechnologie wie in der Volksrepublik China. Deutsche Konzerne müssen schon allein deshalb in China investieren, dort forschen und entwickeln, um nicht aus diesem Ökosystem der Innovationen ausgeschlossen zu werden. Und das tun sie zum Glück auch.

Wir Deutschen müssen uns dem Wettbewerb mit China stellen, wenn unsere eigene Industrie weiter global wettbewerbsfähig bleiben soll. Die Diversifizierung der Lieferketten ist gut, im Sinne eines „China + X“, aber ein Entkoppeln von China können wir uns schlicht nicht leisten. Wir sollten unsere Kraft lieber zur Förderung unserer eigenen Chipindustrie einsetzen – was ja auch gerade begonnen hat –, als sie dafür zu verschwenden, China ein Bein zu stellen.

Den Kalten Kriegern nicht das Feld überlassen

Politisches Rückgrat bei Menschenrechtsfragen und wirtschaftliche Stärke braucht Deutschland, keinesfalls aber ein Primat des Gutmenschentums über den wirtschaftlichen Pragmatismus – als hätte der hart erarbeitete Wohlstand in Deutschland nichts mit unseren Erfolgen als Exportnation zu tun. Wir wollen China auch als Markt behalten. China wiederum braucht uns, wenn auch etwas weniger als wir China. So ist das mit der „Abhängigkeit“. Die ist immer gegenseitig, wenn zwei Länder Handel treiben.

Emotionale Überreaktionen sind nicht angebracht, weder persönlich noch beim Formulieren nationaler Strategien. In einem Entwurf der neuen China­strategie der Bundesregierung ist Medienberichten zufolge davon die Rede, China sei unser „Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale“. Stimmt. Dann aber heißt es laut Spiegel in dem Papier weiter: „Die beiden letzten Aspekte gewinnen jedoch zunehmend an Gewicht.“

Nun, das sollten sie nicht, die beiden Aspekte. Wir sollten uns anstrengen, China trotz all seiner Verschiedenheit und seiner Fehler weiterhin so weit wie möglich als Partner zu sehen. Wir müssen gemeinsame Interessen ausloten, nicht Gräben ausheben. Es steht einfach zu viel auf dem Spiel, vor allem für uns selbst, um den Kalten Kriegern das Feld zu überlassen.

 

Dieser Text stammt aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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