Schweigen ist Mittäterschaft

Welche Verantwortung trägt der Westen für die Geschehnissein Putins Russland?

Geben Sie es zu: Sie hatten nicht erwartet, dass am Beginn des 21.Jahrhunderts alle Welt auf einmal wieder von einem „neuen Kalten Krieg“ mit Russland sprechen würde. Die derzeitigen Nachrichten aus Russland erinnern eher an Meldungen aus China zur Zeit der Niederschlagung der Demonstrationen auf dem Tiananmen-Platz oder aus Weißrussland: Demonstrationen werden gewaltsam aufgelöst, Demonstranten verprügelt, Journalisten und Oppositionsführer verhaftet, Regierungsgegner werden unverhohlen verfolgt und zuweilen auch getötet. Die Furcht vor Spionen grassiert, im Moskauer Büro der nichtstaatlichen Organisation Internews werden die Computerfestplatten beschlagnahmt. Und schließlich die Inszenierung von blutigen Unruhen und Provokationen in unabhängigen Nachbarstaaten – den ehemaligen sowjetischen Kolonien, denen der Kreml nun erneut das Recht auf eine selbstständige, ungestörte Entwicklung abspricht – sowie der einseitige Austritt Russlands aus Abrüstungsverträgen. Wenige Tage vor dem tragischen Tod Anna Politkowskajas interviewte mich ein Journalist einer der öffentlich-rechtlichen deutschen Fernsehsender. Er hatte mein Buch gelesen und fragte mich als Erstes ganz offen: „Übertreiben Sie nicht ein bisschen, Lena? Ist das nicht etwas überspitzt, von der Gefahr eines autoritären Regimes und der Abschaffung der Demokratie in Russland zu sprechen? Ich bin ja zum ersten Mal in Moskau – aber es wirkt alles so hell und friedlich hier, die Stadt ist so schön!“ Putins neue tschekistische Elite hat sich auf Staatskosten eine gemütliche kleine Welt geschaffen, ihren ganz persönlichen Kapitalismus, sie hat Öl- und Gasressourcen aus dem Land gepumpt und Moskau in eine der reichsten, teuersten und schicksten Städte der Welt verwandelt, während die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung am Rande der Armut lebt. Es ist schwer, hinter den glitzernden Fassaden das Leid der Menschen zu sehen. Erst recht, wenn jemand einen für diese „Sehschwäche“ gut bezahlt (wie Putin, der seine westlichen Kollegen zu Lobbyisten im Dienst der Öl- und Gasgeschäfte seines Kremlclans degradiert). George Soros’ Vater Tivadar Soros, der die Nazi-Besatzung Ungarns knapp überlebte, hat das einmal treffend formuliert: „Es ist erstaunlich, wie viel fremdes Leid der Mensch ertragen kann.“ Die vergangenen Jahre über haben wir russischen Journalisten regelrecht geschrien vor Schmerz und Entsetzen, weil wir von innen heraus sahen, in welche Richtung Russland ging, und genau wussten, womit das enden würde – nämlich mit Todesopfern. Wir haben Sie um Hilfe gebeten, aber Sie haben geschwiegen. Sie haben lieber an das Bild geglaubt, das die Kremlpropaganda Ihnen vorsetzt: das Bild eines lächelnden Putins, der Ihren Politikern die Hände schüttelt und milliardenschweren Energiegeschäften den Weg ebnet. Sie wissen inzwischen, dass dieser Kerl jeden aus dem Weg räumt, der seine uneingeschränkte Macht und seine egoistischen Interessen gefährdet – aber man bezahlt Sie dafür, dass Sie schweigen. Oder zu milde reagieren, was unter den gegebenen Umständen praktisch dasselbe ist. Eben das aber – alles wissen und nichts dagegen tun – nennt man Mittäterschaft. Hätte der Westen auf die verzweifelten Hilferufe der russischen Journalisten, Menschenrechtler und Oppositionspolitiker gehört, dann wäre Anna Politkowskaja jetzt noch am Leben, davon bin ich überzeugt. Ich zweifle ebenso keine Sekunde daran, dass es von Ihrem Schweigen oder dem Grad Ihrer Einmischung abhängen wird, ob das Regime in Russland noch mehr Menschenleben fordern wird oder nicht. Gerade Ihr Schweigen hat es möglich gemacht, dass aus dem kleinen, unauffälligen, farblosen Schatten, der Putin einmal war, über die Jahre der menschenfressende Kremldrache von heute geworden ist. Seien Sie ehrlich: Sie haben den Öl- und Erdgasköder geschluckt, den er Ihnen hingehalten hat, und jetzt hängen Sie am Haken. Sie sind der Versuchung erlegen. Sie haben sich Ihre Unterstützung für die russische Demokratie abkaufen lassen – gegen Energielieferungen. Dabei war die Demokratie in Russland, so schmerzlich diese Feststellung für mich ist, auch in der Jelzin-Zeit abhängig von der Unterstützung des Westens. Schließlich hatte das ganze Land kurze Zeit vorher noch wie im Gefängnis gelebt, und jeder wusste, dass eine abweichende Meinung lebensgefährlich sein konnte, nur wenige hatten den Mut zu rebellieren. Doch Sie haben geschwiegen, selbst dann noch, als Putin ein Gesetz unterzeichnet hat, das zur Jagd der Geheimdienste auf jeden bläst, den der Präsident zum „Feind Russlands“ erklärt – auch auf diejenigen, die sich vor seinem verbrecherischen Regime ins Ausland geflüchtet haben. Jetzt ernten Sie die Früchte. Inzwischen genügen Ihre Worte nicht mehr. Putin schert sich nicht mehr um Sie und das, was Sie sagen. Das Einzige, was ihn kümmert, ist Ihr Geld, mit dem er in fieberhafter Hast Besitz, Vermögen und Firmen im Ausland aufkaufen will, um so mit der Geschwindigkeit von Krebszellen seinen Einfluss auf die ganze Welt auszudehnen und auch ausländische Firmen mit den Normen und Moralvorstellungen des KGB-Business zu infizieren. Der Kreml und die russischen Geheimdienste sind heute wie ein Vampir, der nach der langen erzwungenen Diät der Jelzin-Zeit wieder Blut geleckt hat – er wird nicht von sich aus stehen bleiben, er wird weitermorden. Ich fürchte, uns allen werden in den kommenden Monaten noch die Haare zu Berge stehen angesichts dessen, was im Vorfeld der Wahlen in Russland passieren wird. Putins einziges Ziel ist der Machterhalt seines Clans, und er wird kein Mittel scheuen, um dieses Ziel zu erreichen. Mit der Inszenierung von Unruhen in Estland und den Übergriffen auf die estnische Botschaft in Moskau hat der Kreml bereits gezeigt, welche Wahlkampfmethode er bevorzugt: die Wiederbelebung und verstärkte Propaganda der noch in der Sowjetzeit eingeübten hysterisch-paranoiden Vorstellung eines „gemeinsamen Feindes“. Dieser Feind kann sowohl ein innerer wie auch ein äußerer sein. Zu Feinden werden bald auch Sie, verlassen Sie sich darauf. Ich würde nicht ausschließen, dass auch in Demonstrationen auf den Straßen Moskaus Schläger und Provokateure eingeschleust werden, die das Feuer eröffnen – entweder, damit man unter diesem Vorwand den Ausnahmezustand verhängen, die Wahl verschieben und Putin zu einer verfassungswidrigen dritten Amtszeit verhelfen kann, oder aber um auf einer Welle primitiver Pogromstimmung irgendeinem seiner möglichen Nachfolger zur nötigen Popularität zu verhelfen. Beide Varianten laufen auf die Wiedererrichtung einer Diktatur durch ein neues „Politbüro“ hinaus, nach altem sowjetischen Vorbild: Die „talking heads“ im Kreml wechseln sich ab, aber der Rumpf bleibt derselbe – ein mafiöser Clan, eine Korporation, die unter Einsatz von Gewalt an der Macht festhält. Wir stehen heute wieder einmal an einem Wendepunkt, einem „point of no return“. Der Westen hat die Wahl. Wenn er sich auch diesmal mit rein kosmetischen Protestnoten begnügt (während er mit der anderen Hand weiterhin Verträge mit Putin und seinen Protegés unterschreibt) und keine konkreten Schritte unternimmt, dann bin ich sicher, dass schon in den nächsten Monaten weitere Menschen dem Kremlregime zum Opfer fallen werden. Natürlich können Sie auch einmal mehr wegschauen und sich mit dem Mythos rechtfertigen, die Russen seien „noch nicht reif für die Demokratie“. Oder Sie können sich auf einen anderen Propagandamythos berufen: auf die „hohen Umfragewerte Putins bei der russischen Bevölkerung“. (Ich möchte wissen, was Sie wohl in Hitlerdeutschland geantwortet hätten, wenn ein von der Reichskanzlei entsandter „Meinungsforscher“ Sie auf der Straße gefragt hätte, ob Sie für den Führer sind.) Schon jetzt laufen überall in Moskau Gestalten herum, die die Moskauer unter sich nur noch die Putinjugend nennen – innerhalb der kreml­treuen „politischen“ Organisationen gebildete Sturmbrigaden, die speziell für die Teilnahme an Ausschreitungen und handgreiflichen Auseinandersetzungen mit der Opposition trainiert werden. Heute tritt diese Putinjugend mit Losungen wie „Die estnische Botschaft ausradieren!“ auf. Auf welches Ziel wird der Kreml sie als Nächstes ansetzen? Die inoffiziellen Kremlmeinungsmacher geben den Oppositionellen deutlich zu verstehen, die Regierung würde, falls sie sich nicht eines Besseren besinnen und ihre Protestmärsche einstellen, zur Unterdrückung einer „samtenen Revolution“ wenn nötig auch brutale Gewalt einsetzen. Natürlich können Sie einfach wegschauen, wenn ein Häuflein Tapferer es wagt, öffentlich zu protestieren und sich den bewaffneten Truppen des Innenministeriums entgegenzustellen, die auf Putins Befehl die Atmosphäre der Angst auf den Straßen Moskaus wieder aufleben lassen. Selbstverständlich können Sie sie in der so praktischen und beliebten Terminologie des Präsidenten einfach als „unbedeutend“ bezeichnen. Und sicher haben Sie jedes Recht, überhaupt alles zu vergessen, was ich Ihnen erzählt habe. Nur wundern Sie sich dann nicht und tun nicht so, als könnten Sie nichts dafür, wenn Putin (oder irgendein Nachfolger, ein beliebiges Mitglied dieses neuen Politbüros) anfängt, den Westen zu erpressen. Denn die Geschichte kennt kein diktatorisches Regime, das nicht früher oder später auch aggressiv gegen seine nahen und fernen Nachbarn geworden wäre. Sie haben die Wahl. Ich betone: Geschichte ist etwas sehr Persönliches, und jeder von Ihnen hat einen Einfluss auf sie. Davon, ob Sie jetzt stumm bleiben oder nicht, hängt das reale Leben realer Menschen ab. Was ich will, ist nur, dass Sie sich bewusst sind: Wenn Sie jetzt nicht wirklich etwas tun, dann sind Sie für das Blutvergießen des Kreml in Russland mitverantwortlich. Übersetzung: Olga Radetzkaja

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