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() Lettlands Präsidentin Vike-Freiberga
Die Befreiung, die keine war

Anfang Mai feiert Europa 60 Jahre Kriegsende – und das Ende des Faschismus. Doch im Gegensatz zu Deutschen und Franzosen erlebten die Balten keinen Frieden, sondern den Terror der sowjetischen Besatzer. Für sie ist der Weltkrieg erst 1991 zu Ende gegangen

Gehen oder bleiben? Das war 1944 die Schicksalsfrage für Vaira Vike-Freiberga. Und das ist sie jetzt wieder. Sie war noch keine sieben Jahre alt, als sich im Baltikum das Ende der Naziherrschaft abzeichnete und die sowjetische Armee auf ihre Geburtsstadt Riga vorrückte. Damals haben ihre Eltern entschieden: Unter Stalin erwartete sie keine gute Zukunft. Die Familie floh nach Westen und fand über Zwischenstationen wie dem deutschen Flüchtlingslager Lübeck, wo Vaira in der Schule Deutsch lernte, und Casablanca schließlich in Kanada eine neue Heimat. Sie studierte in Toronto Psychologie und wurde Professorin an der Universität Montreal. 1998 schließlich kehrte die heute 67-Jährige nach Lettland zurück – und ist dort seit 1999 Präsidentin. 2005 muss Vike-Freiberga selbst entscheiden, ob sie bleibt oder geht, diesmal nach Osten. Wladimir Putin hat Staatsoberhäupter und Regierungschefs aus aller Welt zum 9. Mai eingeladen, um den 60. Jahrestag des Kriegsendes zu feiern –die Befreiung Europas vom Faschismus. Doch für die meisten Balten markiert das Datum keine Befreiung, der Krieg ging nahtlos in erneute sowjetische Besetzung über, Mord und Vertreibung nahmen kein Ende. Ein Großteil der lettischen Elite wurde getötet oder in den Gulag deportiert, rund zehn Prozent der Bevölkerung. Weitere zehn Prozent flohen ins Ausland. Esten, Letten und Litauer wurden praktisch kulturell und politisch enthauptet – und parallel dazu Russen im Baltikum angesiedelt. Der Weltkrieg ist für Vike-Freiberga erst 1991 zu Ende gegangen: mit der Auflösung der Sowjet-union und der wiedergewonnenen Souveränität. Da aber waren in Estland und Lettland aus kleinen russischen Minderheiten große Minderheiten geworden, in der lettischen Hauptstadt Riga sogar die Mehrheit. Gehen oder bleiben? Das wollten die drei baltischen Präsidenten eigentlich gemeinsam entscheiden – wie 1995, als ihre Amtsvorgänger die russische Einladung zum 50. Jahrestag ausschlugen. Doch zu Jahresbeginn preschte die Lettin vor: Sie werde nach Moskau fahren. Manche werfen Vike-Freiberga vor, sie sei naiv und habe sich von Putin bestechen lassen: mit der Zusage, endlich das Grenzabkommen zu unterzeichnen, das Moskau Letten und Esten seit zehn Jahren verweigert. Doch diesen Verdacht weist die energische Dame mit der windschnittigen Frisur zurück. Gar nichts werde sie am 9. Mai unterzeichnen, dafür gebe es andere Gelegenheiten. Sie fahre nach Moskau, „um unseren EU-Partnern klar zu machen, was der 9. Mai für Lettland bedeutet“. Dort soll die baltische Sicht der Geschichte gehört werden: „Mit Erleichterung können wir an den Sturz des Nazi-Regimes erinnern“ und „unsere Sympathie für das russische Volk zeigen.“ Aber die Darstellung, „dass wir 1944/45 von der Roten Armee befreit wurden, empfinden wir als unerhört“, sagt Vike-Freiberga, die selbst begonnen hat, Russisch zu lernen. Bis heute habe sich Moskau nicht für die Verbrechen an den baltischen Völkern entschuldigt – und das unterscheide Russland von Deutschland, das sich zu seiner Schuld bekenne. Nur dort, wo es Vorteile bringe, möchte Russland Erbe der Sowjetunion sein, nicht aber historische Verantwortung übernehmen. Solche Töne, weiß die lettische Präsidentin, werden nicht nur in Moskau als Provokation empfunden. Zum großen Versöhnungsgipfel nach Moskau kommen auch Präsident Bush und Kanzler Schröder, da gelten die Balten auch im Westen mal wieder als Störenfriede – wie schon bei der Leipziger Buchmesse 2004. Da hatte Salomon Korn die lettische EU-Kommissarin Sandra Kalniete zurechtgewiesen, weil sie Stalins Verbrechen in einem Atemzug mit Hitler nannte. Haben Letten und andere Balten nicht in SS-Einheiten gedient? Wollen sie womöglich nur von ihrer Beteiligung am Holocaust ablenken? Ach was, sagt Vike-Freiberga. Die Leute im Westen sollten „endlich anfangen, Geschichte zu lernen“ – die ganze Geschichte. Der Weltkrieg begann mit dem Hitler-Stalin-Pakt. Zwei Diktatoren teilten Mitteleuropa unter sich auf. Der Zwei-Fronten-Krieg gegen zwei übermächtige Feinde habe viele Balten gezwungen, sich für eine von zwei falschen Seiten zu entscheiden: um nicht getötet zu werden, um ihre Familien zu schützen. „Dass Stalin den Alliierten geholfen hat, Hitler niederzuringen, wäscht ihn nicht von all den Verbrechen rein.“ Viele Millionen Menschen im In- und Ausland wurden Opfer seiner Terrorherrschaft. Der 9. Mai 1945 ist für sie „Ausgangs-punkt für die spätere Einigung Europas“. Deshalb ist ihr der Streit um die ganze historische Wahrheit wichtig – als Teil der viel beschworenen kulturellen Dimension der EU-Erweiterung. Dabei sieht sie sich nicht als offensive Kämpferin, eher als ausgleichende Stimme der Vernunft, die sich mit der Zeit durchsetzt. Wie in Lettland: Präsidentin wurde sie 1999 als parteilose Außenseiterin – nachdem keiner der fünf Kandidaten von Regierung und Opposition die erforderliche Mehrheit gefunden hatte. Dem anti-russisch gefärbten Gesetz zum Schutz der lettischen Sprache etwa verweigerte sie ihre Unterschrift. 2003 hat das Parlament sie dennoch parteiübergreifend wiedergewählt, mit 88 von 100 Stimmen. Jetzt will sie Europas Geschichtsbild prägen.

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