Krieg in der Ukraine - Ende der dunklen Tage in Kiew?

Mit seiner Strategie, die Ukrainer mit Raketenangriffen auf die Energie-Infrastruktur des Landes in die Knie zu zwingen, ist Putin gescheitert. Die Menschen in der ukrainischen Hauptstadt atmen nach Monaten der Angriffe und Stromausfälle auf.

Ukrainerinnen in einer Bar im Kiewer Zentrum am 24. Februar 2023 / dpa
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Regelmäßig heulen Ende Februar zwar noch die Sirenen des Raketenalarms, aber seit gut zwei Wochen gab es keine Raketenangriffe mehr auf die Energie-Infrastruktur von Kiew, deshalb kümmert sich kaum noch ein Bewohner der ukrainischen Hauptstadt darum. Vereinzelt kommt es noch zu Angriffen mit  iranischen Shahed-Drohnen, etwa in der Nacht auf den heutigen Montag, die allerdings von der ukrainischen Raketenabwehr abgeschossen werden.

Die Russen scheinen die Strategie, die Ukrainer auf diese Weise in die Knie zu zwingen, aufgegeben zu haben. Zeitlich fällt der Strategiewechsel mit einem anderen Ereignis zusammen: Sergej Surowikin, der Anfang Oktober das Kommando der russischen Streitkräfte in der Ukraine übernommen hatte, wurde am 11. Januar durch Walerij Gerassimow ersetzt. Offenbar war es Surowikin, der sich zum Ziel gesetzt hatte, zum Winteranfang mit Raketen und Drohnen die Energie-Infrastruktur der Ukraine zu zerstören – und so den Kampfeswillen der Ukrainer zu brechen.

Um es kurz zu machen: Es hat nicht funktioniert. Es hat nicht funktioniert, weil die westlichen Partner Flugabwehrsysteme wie Iris-T geliefert haben (wenn auch reichlich spät), weil die Ukrainer sich mit Generatoren und Nachbarschaftshilfe auf die Stromausfälle eingestellt haben, und weil die Reparaturbrigaden rund um die Uhr daran gearbeitet haben, die attackierten Umspannwerke wieder in Gang zu bringen.

Keine weiteren Stromabschaltungen

Am Samstag hat der ukrainische Energieminister Herman Haluschtschenko bekanntgegeben, dass es – vorausgesetzt, es kommt zu keinen neuen Raketenangriffen – keine Stromabschaltungen mehr geben wird, weil das Land genug Strom produziert und ihn auch verteilen kann. In den Aufzügen der Hochhäuser hängen noch „Notfalltaschen“ mit Essen (und ein Eimer) für jene, die im Lift steckenbleiben, über die Stadt verteilt stehen noch Wärmezelte, im Schewtschenko-Park sogar eine kasachische Jurte, aber benötigt werden sie nicht mehr. Die Bevölkerung atmet auf.

Der Krieg scheint nun wieder weit weg zu sein: Bei den ukrainischen Stand-up-Comedians in der Bar „Botschka“ am Samstagabend kommt er nur noch ganz am Rande vor. Das war vor zwei, drei Monaten noch ganz anders, erzählen die Barkeeper: Die Menschen wollten eben auch mal einen Abend ohne Erinnerung an den Krieg verbringen. Die Kehrseite der Medaille, wie die Barkeeper sagen: Natürlich sei, auch wenn er nun weit weg erscheint, an der Front der Krieg in vollem Gange. Jeder hier weiß, was in Bachmut los ist.

Nebeneinander von Krieg und Frieden

Dieses Nebeneinander der Wirklichkeiten zeigt ein Werbebanner am Platz der Unabhängigkeit: Es wechselt zwischen einem gelb-orangen „Supreme Meister Tschin Chaj: Meditationsmethode Guan In“ und einer Anzeige des Verteidigungsministeriums, das einen Soldaten zeigt: „Die Zukunft der Ukraine ist in Deinen Händen, beschütze das Deine“. Mit einer großen Kampagne versucht die Regierung derzeit, die Ukrainer zum Armeedienst zu motivieren. Die Lage ist schon anders als im letzten Frühjahr, als praktisch alle Landesteile vom russischen Einmarsch betroffen waren und die Motivation hoch war, sich freiwillig zur Armee zu melden. Die hohen Opferzahlen und die Begrenzung der Kämpfe  auf die südlichen und östlichen Landesteile haben ihre Spuren hinterlassen.

 

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Theater, Kinos, Restaurants sind geöffnet, sogar der Kiewer Zirkus, auf seinem Gebäude ein Banner, das einen Dompteur mit einem Tiger zeigt, die Faust ausgestreckt, und die Aufschrift: „Stand with Ukraine“. Auch der hippe Techno-Club „K41“ (eine Art Ableger des Berliner Berghain) lädt wieder einmal die Woche zum Tanzen ein, allerdings nur von 14 bis 22 Uhr, weil noch immer die Sperrstunde von 23 bis 5 Uhr morgens gilt.

Soldaten auf Fronturlaub in Kiew

Ja, beinahe könnte man den Krieg hier vergessen. Hier und da an den Straßenrand geschobene rostige Panzersperren erinnern an die ersten zwei Monate des Krieges, als die Russen an der Stadtgrenze standen und die Innenstadt voller Kontrollposten von Armee, Polizei, Geheimdienst und Territorialverteidigung war.

Eine ständige Erinnerung an den Krieg sind die vielen Soldaten, die im Fronturlaub oder auf der Durchreise sind, die in Uniform mit ihren Frauen und Kindern durch die Stadt schlendern, hier und da mal einen Kaffee trinken. Eine kurze Verschnaufpause, bevor sie zurück an die Front müssen.

„Was kommt nun?“, hat jemand mit weißer Farbe an einen Zaun geschrieben. 95 Prozent der Ukrainer, diese Zahl hat Selenskyj in seiner Rede zum Jahrestag zitiert, glauben an den Sieg. Aber was bedeutet das genau? Und was ist von Russland zu erwarten? Was überlegen sich Putin und seine Generäle als Nächstes, um die Ukrainer in die Knie zu zwingen, nachdem die „Raketen-Strategie“ misslungen ist?

Der Frühling lässt nun erstmal den Boden auftauen, was größere Operationen mit schwerem Gerät erschwert. Ende März, Anfang April wird der Boden wieder fest, dann ist mit einer ukrainischen Offensive zu rechnen.

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