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(picture alliance) Die totale Präsenz hat Journalisten mächtig gemacht!

Journalismus - Zwischen Macht, Zumutung und Verantwortung

Früher berichteten Journalisten über Macht, inzwischen hat die totale Präsenz der Medien Journalisten selbst mächtig gemacht. Doch im Zeitalter der totalen medialen Vernetzung und der Dauerberieselung mit Nachrichten braucht die Gesellschaft eine mediale Entschleunigung und Journalisten, die nicht die Mächtigen lieben, sondern die Demokratie.

Für Journalisten ist das Recherchieren selbstverständlich. Doch wenn ich das so sage, zögere ich. Ist Recherchieren wirklich selbstverständlich? Und was verstehen wir unter Recherchieren?

Der Begriff ist der französischen Sprache entnommen. Ich habe zum französisch-deutschen Dictionnaire gegriffen und recherchiert. Recherchieren bedeutet danach: wiedersuchen, aufsuchen, forschen nach etwas, streben nach etwas, trachten nach etwas, aber auch den Umgang suchen oder entgegenkommen. Recherchieren ist der Schlüsselbegriff des Journalismus.

Doch sind wir tatsächlich beseelt in unserer Arbeit von einem so umfassenden Verständnis des Recherchierens? Was tun wir, wenn wir recherchieren? Wir recherchieren die neuesten Sätze von Angela Merkel, die neuesten Zahlen des griechischen Debakels, die neuesten Trends der Dax-Unternehmen. Wir recherchieren von Minute zu Minute. Wir hängen am Tropf der Information, die wir anreichern mit dem, was wir bei Wikipedia finden und über Google zugeliefert bekommen. Die Schnelligkeit der Recherche ist unser Berufsstolz.

Wir fühlen den Puls der Zeit. Ja wir  s i n d  der Puls der Zeit.

Jeden Abend, wenn ich koche, richte ich es so ein, dass ich die Nachrichten von Deutschlandradio höre, neben mir liegt mein Blackberry, der mir mit Blinken signalisiert, dass es etwas Neues gibt, im Salon läuft n-tv, um 19 Uhr im ZDF heute.

Während dieser Rede, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, bin ich quasi auf Entzug.

Trotz meiner Abhängigkeit vom Stoff, der unser Journalistenleben bestimmt, habe ich lichte Momente. Und da befallen mich dann doch Zweifel: Werden wir dem Wert „recherchieren“, im Sinne von wiedersuchen und forschen nach und trachten nach, wirklich gerecht? Oder verengen wir den Begriff allzu sehr und manchmal auf fatale Weise auf das Nächstliegende, auf die Verfolgung der minütlichen, stündlichen, täglichen Ereignisse?

Die elektronischen, vor allen die digitalen Medien zwingen uns die Geschwindigkeit auf. Wer nicht mithält, den bestraft der Markt. Das permanente Jetzt, Jetzt, Jetzt unterwirft unseren Beruf einer geradezu darwinistischen Auslese: Der Schnellere ist der Stärkere, der Stärkere, weil Schnellere überlebt. Längst sind wir kampfgestählt in diesem Verdrängungsprozess.

Doch was muten wir unseren Lesern zu?

Ja, betrachten wir uns einmal von außen. Für die Bürgerinnen und Bürger, für die Gesellschaft, für die Politik, für die Wirtschaft bestimmen wir die Zeit. Denn  w i r  bestimmen den Takt, in dem die Ereignisse ablaufen.  W i r  sind es, die den Ereignissen Zeit geben, eine Zeit einräumen; in der Aviatik nennt man das: einen Slot zuteilen. Eine Minute, eine Stunde, einen Tag, eine Woche. Das auf die Menschen Einstürzende – das Bestürzende –, das sind  w i r. Denn  w i r bringen es hervor und es liegt in  u n s e r e r  Macht, das aktuelle Spiel abzupfeifen, um ein neues anzupfeifen.

Das ist unser Problem. Und das Problem der Menschen mit uns: Wir sind großartige Leistungsträger der totalen medialen Vernetzung dieser Zeit und dieser Welt, wir sind omnipräsent rund um die Uhr und rund um den Globus. Wer aber omnipräsent ist, erweckt auch rasch den Eindruck der Omnipotenz - übermächtig zu sein, eine Macht zu sein, der Leser, Zuhörer und Zuschauer, Bürgerinnen und Bürger ausgeliefert sind.

Medien haben Macht

Wenn wir Journalisten früher von Macht sprachen, meinten wir immer die Macht der Anderen, die Macht der Wirtschaft oder die Macht der Politik oder die Macht der Kirche. Die Mächtigen waren immer die Anderen. Nie wir! Wir betrachteten uns ganz selbstverständlich und nicht ohne Stolz als Kontrolleure der Macht und als deren Widersacher, im Falle autoritärer Macht natürlich als Feinde von Despoten und Diktatoren. Denn wir waren - wir sind - die Guten.

Doch unsere totale Präsenz im Leben der Menschen hat aus uns Mächtige gemacht, eine Macht, die manche als größte Macht von allen empfinden. Es ist die Macht über die Slots der Ereignisse, über das Stakkato der Zeit. Die beschleunigte Zeit ist unsere Schöpfung.

Beschleunigte Zeit aber bedeutet, dass der ganz einfache Mensch, der morgens zur Arbeit geht, vorher noch sein Kind in die Schule bringt, am Abend müde nach Hause kommt, sich um private Dinge kümmert, sich Sorgen macht um seine Familie, um sein berufliches Fortkommen, um die Schulnoten seiner Kinder - dass dieser ganz normale Mensch durch uns völlig überfordert ist.

So viele Katastrophen, wie wir herbeischreiben – von den Eisbären, denen demnächst das feste Eis fehlt, über die ölverklebten Wasservögel bis zur Seuche Ehec – können Normalbürger gar nicht konsumieren.

Wenn ich sage konsumieren, dann sage ich bewusst nicht: begreifen. Doch darum ginge es gerade: Dass die Menschen begreifen. Nehmen Sie dieses Verb auseinander. Lassen Sie die erste Silbe weg und das Verb wird ganz sinnlich: greifen. Etwas mit Händen greifen können. Einen Vorgang mit den Händen greifen können, ihn förmlich haptisch spüren. Das wäre doch, was wir möglich machen müssten.

Wir stellen – noch so eine Katastrophe – mit Sorge fest, dass immer mehr Menschen sich der Beteiligung an der Demokratie verweigern: die Nichtwähler. Wir suchen die Ursachen bei den Politikern. Was machen die Politiker falsch? Wir bemängeln, messerscharf, das Fehlen von Charisma, von Entscheidungsfreude, von Überzeugungskraft.

Das ist nicht falsch. Doch in Wahrheit gehören die Politiker zum Spiel, dessen Tempo und auch Regeln wir mit unserer zeitsetzenden Macht bestimmen. Der Klick ist unser Kick. Wir wählen auch die Protagonisten der Gesellschaft danach aus: Wer Klicks generiert, geniesst unsere Aufmerksamkeit. Die Langsameren, die Bedächtigeren - die Nachdenklicheren! - aus Politik, Wirtschaft und Kultur, fallen aus unserem nervösen Aufmerksamkeitsraster.

Nervös sind wir. Hypernervös.

Hypernervös sind deshalb die Menschen, hypernervös ist die Gesellschaft.

Sind hypernervöse Zeiten gute Zeiten?

Journalismus braucht Entschleunigung

Ich glaube es ist Zeit, zu entschleunigen. Wer aber kann entschleunigen? Die Herren der Zeit. Also wir. Und wie können wir entschleunigen? Indem wir den Begriff der Recherche so umfassend wie möglich interpretieren. Dazu müssen wir die Zeit als Raum zurückerobern. Es gibt dafür ein wunderbares Wort: Denkpause. Leider wird dieser Begriff oft falsch interpretiert. Als Pause vom Denken. Gemeint ist aber die Pause  f ü r s  Denken. Dazu brauchen wir in unseren Redaktionen Pausenzeiten und Pausenräume: die Möglichkeit, nachzudenken und zu recherchieren im Sinne von Nachforschen – Nachforschen in unseren Gedanken: Denn was uns zur Aktualität gleich in den allerersten Sekunden einfällt, ist ja wohl nicht das Einzige, was es dazu zu sagen gibt.

Es liegt eine Zeit der Gigantomanie hinter uns Medienmachern. Die Zeit der größten Gewinne, der größten Mergers, der größten ökonomischen Imperien, von den größten Wirtschaftsführern erobert und mit größter Kühnheit – heute wissen wir mit größter Vermessenheit – noch größer gemacht. Es war auch die Zeit des größten Luxus: der größten Gehälter, größten Villen, größten Geländewagen, größten Yachten, größten Partys.

Wir schwelgten mit in diesem Größenwahn. Geschmeichelt, wenn wir dabei sein durften, wenn wir mit einem der Allergrößten, mit einem dieser Riesenmänner, zu Tische sitzen durften. Die Verleger lancierten Hochglanz-Hofzeitschriften für den neureichen Geldadel, denn nach Adel dürstet es die Deutschen ja allemal. Vanity Fair und Park Avenue hießen die Huldigungsblätter.

Was all dies für die ganz normalen Menschen bedeutete, das hat uns doch wenig gekümmert. Wir machten sogar die Diffamierung dieser ganz einfachen, dieser ganz normalen Menschen mit. Indem wir zum Beispiel Arbeitslosigkeit plötzlich als individuelles Versagen denunzierten, nicht mehr als Versagen der Gesellschaft. Jeder Bürger hatte die Pflicht, eine Ich-AG zu sein, sogar der Staat sollte wie ein Wirtschaftsunternehmen geführt werden. Über Politiker, die es anders wollten, haben wir uns amüsiert, im harmlosesten Fall.

Sind wir heute weiter mit unserer Recherche, mit unserer „Recherche du temps perdu“? Denn es war ja verlorene Zeit. Nicht einmal die Aktionäre gewannen dabei, sondern wurden ärmer. Und die Volkswirtschaft ebenfalls. Allein die Hütchenspieler der Finanzwirtschaft wurden durch Boni reich und reicher.

Decken wir diese Zusammenhänge heute auf, wenn wir über Griechenland, über die unzuverlässigen und trägen und sonnenverwöhnten Hellenen reden?

Wir wissen alle: Schreiben für die Zeitung oder für die Zeitschrift bedeutet: Anhalten. Der Schreibprozess, der dann auch schwarz auf weiß bestehen muss, ist verbunden mit Verlangsamung, mit Zögern, mit Nachdenken, mit Verwerfen, mit Korrigieren, mit Neuansetzen, sogar mit Ängsten vor dem leeren Bildschirm – früher war es das leere Blatt. Ein schreckliches Handwerk. Ein wunderbares Handwerk. Wenn das Werk vollbracht ist.

Dies ist das Wesen der Zeitungs- und Zeitschriftenkultur: Der Schreiber erforscht – recherchiert – seinen Gegenstand. Er erforscht sogar sich selbst, nämlich seinen Standpunkt zum Gegenstand seines Artikels. Er erforscht sogar sein Vokabular. Seine Tonalität. Er ist ganz verbunden mit diesem kreativen Prozess. Schreiben bedeutet Denken. Allein schon daran zu denken, dass das Geschriebene gedruckt wird, fordert die Vertiefung des Denkens, seine Ausweitung. Wenn Sie’s nicht glauben, vergleichen Sie den minütlichen Ausstoß auf den meisten Online-Seiten mit der täglichen und wöchentlichen und monatlichen Qualität der Tages-, Wochen- und monatlichen Zeitungen und Magazine – oft Titel, die für die Online-Angebote verantwortlich sind.

Das neueste, das schnellste Medium ist auch das flüchtigste. Es verfügt zwar sehr wohl über Qualitäten: in der Nachricht. Es bildet den ständigen Nieselregen der News, der auf den Konsumenten niedergeht, ihn nervös und hypernervös macht, wie es eben ein Eisregen stets tut.

Der gedruckte Journalismus – nicht der ausgedruckte – fügt die Informationspartikel, die kein Bürger mehr überblickt, so zusammen, dass daraus Ordnung wird. Ordnung des Denkens und des Wissens.

Ich habe mich als Zeitungsleser sehr delektiert an der Guttenberg-Debatte. Weil es dort um mehr ging, als um die gefälschte Doktorarbeit, was ja nur dank des Internets so präzis zu eruieren war. Es ging sogar um sehr viel mehr. Nämlich um unverzichtbare Grundsätze und Tugenden – um die Kultur unserer bürgerlichen Gesellschaft.

Die deutschen Printmedien haben diese Herausforderung vorzüglich gemeistert: durch Berichterstattung, Analyse, Wertung, auch Empörung und Polemik, was ja nun alles zum Journalismus in einer freiheitlichen Gesellschaft dazugehört.

Aber das ist inzwischen schon bundesrepublikanische Geschichte.

Journalisten sind die Rechercheure der Gesellschaft

Gegenwärtiger ist ein Phänomen, das wir „Wutbürger“ nennen und das weit über den Protest gegen Stuttgart 21 hinausgeht. Denn man kann die jungen Menschen, die in Griechenland, in Spanien, in Italien, auch in Frankreich auf die Straße gehen, um ihrer Empörung über die herrschenden Verhältnisse Ausdruck zu geben, auch zu dem zählen, was in Deutschland „Wutbürger“ heißt.

„Wutbürger“ ist allerdings das falsche Wort. Denn es reduziert den Widerstand von Bürgerinnen und Bürger, zumal von jungen Menschen auf deren Emotionen. Ich glaube, dass die Menschen auf der Straße sich sehr wohl Vieles überlegen. Übrigens haben wir das soeben sehr exemplarisch in Italien erlebt, wo vor allem junge Leute dem Regime Berlusconi in drei Referendumsfragen eine vernichtende Abfuhr erteilten. Sie wurden von keinem Politiker angeführt. Sie haben das Richtige und Wichtige aus sich heraus getan.

Dieser europäische Widerstand muss unser Thema sein. Nicht jetzt, jetzt, jetzt und abgehakt, weil ja die Sommerpause bevorsteht. Denn es geht bei der demokratischen Unruhe, die Millionen Europäer erfasst hat, nicht mehr um das, was französisch so treffend als politique politicienne – als Politiker-Politik – umschrieben werden kann. Es geht um viel mehr. Es geht um die Kultur unserer europäischen Gesellschaft. Um die politische Kultur, um die wirtschaftliche Kultur, um die Werte, die Politik und Wirtschaft bestimmen, oder eben leider nicht mehr bestimmen – und deshalb erneut zu bestimmen wären.

Da müssen wir hinsehen, am besten hingehen. Mit Wikipedia und Google allein lässt sich dieses Phänomen nicht recherchieren. Man muss es spüren. Man muss zusammensitzen mit dem Demonstranten. Man muss nächtelang mit ihnen reden. Man muss sie reden lassen. Man muss sie erforschen, ergründen – recherchieren!

Ohne uns ist alles nichts in der Demokratie. Das ist ein sehr selbstbewusster Satz aus dem Munde eines Journalisten. Aber so ist es. Wir geben der demokratischen Debatte die Sprache.

Wir geben den Bürgerinnen und Bürgern die Sprache. In unseren Debatten muss deshalb auch eine Sprache zu lesen und zu hören sein, die für den Citoyen nützlich ist, weil er sie verwenden kann: für seine Ideen, für seine Kritik, für seine Empörung.

Gerade für den Protest spielen die Internet-Medien eine große, eine befreiende Rolle: Indem sie Menschen zum Protest vernetzen. Doch Ideen, Kritik und Protest brauchen mehr als Vernetzung. Sie brauchen Reflexion. Und damit sind wir wieder bei unserer schriftlichen und gedruckten Kultur.

Ich weiß, wir reden unablässig über "Online" und „Free Content“. Wir veranstalten „Workshops“ und „Panels“ über die Krise der gedruckten Medien. Die Medienwissenschaftler haben sich unserer Branche bemächtigt. Sie verkünden das nahe Ende des gedruckten Wortes. Wir gucken ihnen mit schreckgeweiteten Augen in die professoralen Nasenlöcher – und glauben auch noch, was sie sagen.

Und so werden unsere Verlage durch die Rollkofferkommandos der „Controller“ und „Consultans“ gestürmt, die uns mit „Powerpoint Presentations“ erläutern, was der „Content for People“ pro Seite kosten darf, vor allem, dass der gedruckte „Content for People“ zu teuer sei, weil der "Consumer" ja online auf die Gratisportale ausweichen könne.

Warum beteiligen wir uns eigentlich an dieser Debatte, die uns deprimiert und lähmt und unsere Verleger verrückt macht und unser Image bei der Leserschaft beschädigt, so dass diese sich fragt, warum sie denn noch Zeitungen und Zeitschriften lesen soll, wenn deren Macher selbst nicht mehr daran glauben.

Ich fürchte, wir fallen auf uns selber hinein. Wir lieben das Apokalyptische. Die Hoffnung, dass die Sonne eines Morgens nicht mehr aufgeht und wir als erste darüber berichten können. Deshalb haben wir uns in den eigenen Untergang verliebt. Er beschäftigt uns ganz und gar. Er befriedigt die journalistische Sensationslust.

Lassen Sie uns zurückkehren zu uns selbst, zu uns Journalisten, zu uns Rechercheuren der Gesellschaft, des Lebens, der Zeit, der Menschen. Lassen Sie uns all dies wieder erkennen als unsere Lebenswelt. Lassen Sie uns all dies lieben.

Ja, doch, lieben!

Ich benütze dieses schönste aller Verben mit Bedacht. Und auch ganz persönlich: Ich liebe meine demokratische Umwelt, die ich schreibend und redend – beispielsweise hier vor Ihnen – zu erkennen und zu durchdringen versuche. Ich liebe die Politik, weil ich die demokratische Kultur liebe. Und manchmal überkommt mich tatsächlich ein zärtliches Gefühl für Menschen, die sich in einer Partei, in einem Parlament, in einer Regierung für die öffentlichen Dinge engagieren.

Wir müssen Kritiker sein, wir müssen harte und ätzende Kritiker sein. Ich bin es auch, aber es muss auch irgendwie unsere Zuneigung mitschwingen für das, worum es wirklich geht: um freiheitliche, demokratische, rechtsstaatliche, nicht zuletzt um gerechte Verhältnisse.

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