Wiedergelesen: „Der Weg zur Knechtschaft“ von Friedrich August von Hayek - Politik als Farce

Alle großen Ereignisse kommen in der Geschichte zweimal vor: einmal als Tragödie, das andere Mal als Farce, meinte Karl Marx. Wer heute Hayek liest, dem drängt sich der Gedanke auf, dass die deutsche Politik der Gegenwart die Farce zur Tragödie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts liefert.

Friedrich von Hayek erhält 1974 den Wirtschaftsnobelpreis aus der Hand von König Carl XVI. Gustaf von Schweden / dpa
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Autoreninfo

Thomas Mayer ist Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute mit Sitz in Köln. Zuvor war er Chefvolkswirt der Deutsche Bank Gruppe und Leiter von Deutsche Bank Research. Davor bekleidete er verschiedene Funktionen bei Goldman Sachs, Salomon Brothers und – bevor er in die Privatwirtschaft wechselte – beim Internationalen Währungsfonds in Washington und Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Thomas Mayer promovierte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und hält (seit 2003) die CFA Charter des CFA Institute. Seit 2015 ist er Honorarprofessor an der Universität Witten-Herdecke. Seine jüngsten Buchveröffentlichungen sind „Die Vermessung des Unbekannten“ (2021) und „Das Inflationsgespenst“ (2022).

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Der in Großbritannien lebende Emigrant Friedrich August von Hayek schrieb sein Buch „Der Weg zur Knechtschaft“ („The Road to Serfdom“) in den Jahren 1940 bis 1943 „in seiner Freizeit“. Im Vorwort zur 1944 veröffentlichten Erstausgabe beklagt er, dass es ihn von seiner eigentlichen Aufgabe der ökonomischen Forschung abgehalten habe. Das Buch würde ihm bestimmt auch keine Freunde machen, da es hochpolitisch sei. Aber er habe es als Pflicht empfunden, es zu schreiben. Mit einiger Mühe fand er schließlich einen Verlag für die Veröffentlichung. Aber als das Buch herauskam, wurde es sowohl in Großbritannien als auch in den USA zu einem Bestseller. Und es war politisches Dynamit.

Die Brisanz rührte vor allem daher, dass Hayek im Kriegsjahr 1944 die Entstehung des italienischen Faschismus und deutschen Nationalsozialismus keineswegs als besondere Entwicklung in diesen Ländern, sondern als ein unvermeidliches Ergebnis des Aufstiegs der sozialistischen Ideologie in ganz Europa sah. Auch Großbritannien sei davon betroffen, weil die Menschen dort das ihnen von den liberalen Philosophen des 18. und 19. Jahrhunderts hinterlassene geistige Erbe vergessen hätten. Wie war das möglich? 

Vermutlich wurde der ökonomische Erfolg des Liberalismus die Ursache seines Niedergangs, so Hayek. Denn als die Leute wohlhabend wurden, nahmen sie den Wohlstand für gegeben und wurden empfänglich für sozialistische Utopien, die ihnen völlige Freiheit von allen ökonomischen Zwängen versprachen. Der Sozialismus wäre dann die Vollendung des Liberalismus. Tatsächlich führe der Sozialismus aber in den Totalitarismus, wie er im Stalinismus, Faschismus und Nationalsozialismus zu sehen sei.

Die kollektivistisch organisierte Gesellschaft verfolgt ein Ziel, auf das jeder Einzelne verpflichtet werden muss

Der Grund für die Unvereinbarkeit der beiden Gesellschaftsordnungen ist, dass im Sozialismus das Kollektiv und im Liberalismus das Individuum im Zentrum steht. Die liberale Ordnung trägt der Verschiedenheit der Menschen Rechnung. Sie erlaubt ihnen, ihre eigenen Ziele zu verfolgen, indem sie mit von der Gesellschaft selbst entwickelten Regeln die Freiheit des einen nur dort begrenzt, wo sie die Freiheit des anderen beschneidet. Wirtschaftliche Handlungen erfolgen unter den Bedingungen des Wettbewerbs, des einzigen Systems, das durch Dezentralisierung die Herrschaft der Menschen übereinander minimiert. Die Handlungen werden am Markt über die Bildung von Preisen koordiniert, bei denen Tausch zustande kommt. Individuelle Freiheit und Wettbewerb haben Völkern mit liberalen Gesellschaftsordnungen vorher nie dagewesenen Wohlstand beschert.

Dagegen verfolgt die kollektivistisch organisierte Gesellschaft im Sozialismus ein gemeinsames gesellschaftliches Ziel, das von der Mehrheit oder einer mächtigen Minderheit gesetzt wird. Auf dieses Ziel muss jeder Einzelne verpflichtet werden. Zur Verfolgung des Ziels braucht es einen Plan, der von einer zentralen Behörde umgesetzt wird. Die unüberwindbaren Probleme in der sozialistischen Ordnung sind zum einen, dass es keine einheitliche Moral gibt, mit der die Gesellschaftsmitglieder auf die Verfolgung des gemeinsamen Ziels verpflichtet werden könnten. Zum anderen mangelt es der zentralen Planungsbehörde an wesentlichen Informationen, die zu einer zielgerechten Umsetzung des Plans notwendig wären.

Der Versuch, sich dennoch auf demokratische Weise auf ein gemeinsames Ziel zu verständigen, ähnelt laut Hayek dem Entschluss einer Gesellschaft, eine gemeinsame Reise zu unternehmen, ohne sich über das Reiseziel einig zu sein. Am wirkmächtigsten sind bei diesem Unterfangen kleine Minderheiten, die gut organisiert sind, weil sie ein ihnen wichtiges einheitliches Ziel vor Augen haben. Doch im Verlauf der Reise kommt es zu Unstimmigkeiten unter den Reisenden. Das Parlament, in dem diese Unstimmigkeiten sichtbar werden, findet keine Lösung und wird als „Schwatzbude“ abgetan. Der Entschluss reift in Gesellschaft und Politik, die Entscheidungsgewalt auf „Experten“ zu übertragen

Es kommt zur „Bürokratenherrschaft“

Die Experten, vor allem aus der akademischen Wissenschaft, sind Feuer und Flamme für eine „wissenschaftsbasierte Organisation“ der Gesellschaft. Sie sehen nicht ein, dass kein einzelner Mensch die Koordinierung der Handlungen vieler in einer komplexen Gesellschaft verstehen und organisieren kann. Die „unsichtbare Hand des Marktes“ (Adam Smith) ist ihnen suspekt. Damit sind sie aber nicht allein. Während die religiöse Gesellschaft früher höhere Mächte außerhalb ihrer Kontrolle anerkannte, will ihre säkulare Nachfolgerin ihre Geschicke mit wissenschaftlicher Rationalität selbst bestimmen. Es fällt ihr schwer, einzusehen, dass nicht alle Prozesse rational steuerbar sind.

Damit der Plan der Experten dann auch stringent umgesetzt werden kann, müssen die „Fesseln der Demokratie“ abgestreift werden. Es kommt zur „Bürokratenherrschaft“, die sich aber bald als unzulänglich erweist. Schließlich muss ein starker Mann her, der die Sache in die Hand nimmt. Das politische System mutiert zu einer plebiszitären Diktatur, in der die Regierung allenfalls von Zeit zu Zeit durch Volksabstimmung bestätigt wird. Aufgrund von Widersprüchen in der Gesellschaft und Fehlleistungen der Planungsbehörde wird der Griff des Diktators immer fester. Die Leute werden mit „Neusprech“ (George Orwell) gleichgeschaltet. Die Herrschaft wird totalitär, das Individuum ist nur noch Mittel zu einem „höheren Zweck“.

 

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Das Explosive an Hayeks Analyse in den Kriegsjahren war, dass nach ihr der Nationalsozialismus, mit dem die angelsächsische Welt gerade rang, kein eigentümlich deutsches Phänomen, sondern die konsequente Fortschreibung des Sozialismus war. Gleiches galt für den italienischen Faschismus und den sowjetischen Stalinismus, die Gesellschaftsordnung eines Verbündeten. Der spezifisch deutsche Beitrag zur Entwicklung des Totalitarismus bestand vor allem in dem Bemühen, seine Organisation zu perfektionieren. Die Wurzeln dafür sind in der Militarisierung der Gesellschaft im deutschen Kaiserreich zu finden. 

Gegenwärtig sind Mechanismen am Werk, die der Beschreibung Hayeks ähneln

Hayek verweist auf den Ökonomen Werner Sombart, der vom marxistischen Sozialisten zum Unterstützer Hitlers wurde. In seinem 1915 erschienenen Buch „Händler und Helden“ stellte Sombart die heldenhafte deutsche Volksgemeinschaft der individualistischen, kleingeistigen „Krämerseele“ der Briten gegenüber. Und sein Zeitgenosse Johann Plenge proklamierte die „Ideen von 1914“ als das Ideal der Organisation, die im Gegensatz zu den „Ideen von 1789“, dem Ideal der Freiheit, stünden. Die Kriegswirtschaft von 1914 ist nach Plenge die erste Verwirklichung einer sozialistischen Gesellschaft, und die Idee von 1914 ist die Idee der Organisation der Volksgemeinschaft, des nationalen Sozialismus. Knapp zwei Jahrzehnte später gab Adolf Hitler der schwachen Weimarer Republik mit der Forderung „Gebt mir vier Jahre Zeit“ den Todesstoß und überführte die Demokratie nach ihrem kurzen Leben in die nationalsozialistische Diktatur.

Die Zeiten, über die und in denen Hayek sein Buch verfasste, waren schlimm. Heute sind wir weit davon entfernt. Und doch sind gegenwärtig Mechanismen am Werk, die der Beschreibung Hayeks ähneln. Rote und grüne Minderheiten treiben in der Ampelregierung ihre Pläne für die Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft voran. Zu deren Umsetzung wächst ein undurchschaubares und undurchdringliches bürokratisches Dickicht. Die regierenden Minderheiten kommen in Konflikt mit anderen gut organisierten Minderheiten wie den Bauern – und verlieren den Rückhalt bei der Mehrheit der Bevölkerung. Politische Moralisierung („Kampf gegen rechts“) und Legitimierung durch Experten („Hört auf die Wissenschaft!“) nutzen sich ab und werden wirkungslos. Die Leute rebellieren gegen den „Gender-Neusprech“. Eine politische Gegenbewegung entsteht, die den Weg in den Sozialismus konsequent fortsetzen will, aber als „Sozialismus in einem Land“ (Josef Stalin). Starke Männer und ein paar Frauen (in und außerhalb der AfD) laufen sich warm, um die gesellschaftliche Blockade schließlich kraftvoll zu durchschlagen. 

Die Politik muss sich wieder darauf beschränken, Regeln durchzusetzen, auf die sich alle einigen können

Das Deutschland von heute ist jedoch sehr verschieden vom Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nach der erfolgreichen Läuterung vom Nationalsozialismus wurde seinen Bewohnern von den 1968ern (mit Verweis auf die Ambivalenz der „Sekundärtugenden“) auch das „Ideal der Organisation“ ausgetrieben. Die Gefahr, von einem starken Mann in die Diktatur geführt zu werden, ist daher gering. Stattdessen wächst die ganze Dysfunktionalität links-grüner Planwirtschaft zu einem Riesenkrake auf. 

Nichts geht mehr in Deutschland, zumindest gefühlt. Bei der Bahn, mit der man wegen brüchiger Anlagen oder dem Wetter nur auf gut Glück unterwegs ist – wenn sie nicht von einem Gewerkschaftsboss völlig lahmgelegt wird, der sich aufführt wie ein Napoleon aus der Westentasche. Auf den Straßen, die von maroden Brücken unterbrochen sind oder von Klimaklebern oder wütenden Bauern blockiert werden. In der Wirtschaft, wo ein Dschungel an Vorschriften, Regulierungen und Berichtspflichten zum Kolbenfresser führt. Und in der Politik, wo die Europäischen Union der nationalen Regierung, diese den Regionalregierungen und diese wiederum den Gemeinden Knüppel zwischen die Beine werfen. Das Prinzip der Subsidiarität kommt nur noch gelegentlich in Sonntagsreden vor, wird aber jeden Werktag mit Füßen getreten. Das Bruttoinlandsprodukt stagniert, das Sozialsystem ächzt unter der unkontrollierten Zuwanderung gering qualifizierter Wirtschaftsflüchtlinge, die Stimmung ist mies, und hochqualifizierte deutsche Staatsbürger wandern aus.

Zur Brechung der Blockade (und Abwehr von Schlimmerem) wäre es nötig, dass sich die Politik wieder darauf beschränkt, Regeln durchzusetzen, auf die sich alle einigen können. Naturgemäß ist der Bereich gemeinsamer Ziele eng begrenzt und wird durch die von den Gesellschaftsmitgliedern geteilten Werte des liberalen Rechtsstaats definiert. Daher ist der Sinn dieser Regeln, die Freiheit des einen nur dort einzuschränken, wo sie die Freiheit des anderen berührt. Folglich sind die Regeln abstrakt und haben den Charakter von Verboten, so dass alles, was nicht verboten ist, möglich werden kann. Nach Hayek ist der liberale Rechtsstaat im Wesentlichen ein Mittel, den inneren gesellschaftlichen Frieden und die individuelle Freiheit zu sichern. Schön wäre es, wenn unser politisches Spitzenpersonal davon wüsste.

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