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() Joseph Kardinal Ratzinger in seinem Geburtszimmer im bayerischen Marktl am Inn
"Waren Sie einmal verliebt?"

Seine erste Reise führt in seine deutsche Heimat. Papst Benedikt XVI. wird auf dem Weltjugendtag von Hunderttausenden empfangen. Doch wie war eigentlich seine eigene Jugend?

Sie sind am 16. April 1927 in Marktl am Inn in Oberbayern geboren. Es war an einem Karsamstag. Passt das zu Ihnen? Ja, ich finde es eigentlich schon gut so, am Vorabend von Ostern, schon gleichsam auf Ostern zugehend, aber noch nicht da, es ist noch verhüllt. Ich finde das einen sehr guten Tag, der irgendwie mein Geschichtsbild und meine eigene Situation andeutet: an der Tür von Ostern, allerdings noch nicht eingetreten. Ihre Eltern hießen Maria und Joseph. Schon vier Stunden nach Ihrer Geburt, um 8:30 Uhr morgens, wurden Sie getauft. Es soll ein stürmischer Tag gewesen sein. Ich weiß das natürlich nicht mehr. Meine Geschwister haben mir erzählt, dass es viel Schnee gab, dass es sehr kalt war, obwohl es der 16. April war. Aber in Bayern ist das nichts Besonderes. Immerhin ist es ungewöhnlich, schon vier Stunden nach der Geburt getauft zu werden. Das schon. Aber das hing damit zusammen – und das ist allerdings schon etwas, was mich freut –‚ dass es Karsamstag war. Damals gab es noch nicht die Feier der Osternacht, die Auferstehung wurde also am Vormittag gefeiert, mit der Weihe des Wassers, das dann das ganze Jahr hindurch als Taufwasser dient. Und weil folglich die Taufliturgie in der Kirche stattfand, haben die Eltern gesagt: „Jetzt is er scho do, der Bua“, dann wird er natürlich in dieser liturgischen Stunde, die ja die eigentliche Taufstunde der Kirche ist, auch getauft. Und dieses Zusammentreffen, dass ich gerade geboren wurde, als die Kirche ihr Taufwasser bereitete, und daher, frisch mit dem ersten Wasser, der erste Täufling des neuen Wassers war, das sagt mir schon etwas. Weil mich das eben besonders in den österlichen Zusammenhang hineinstellt und Geburt und Taufe auch in einer beziehungsreichen Weise miteinander verbindet. Sie sind auf dem Land groß geworden als jüngstes von drei Geschwistern. Ihr Vater war Gendarm, die Familie eher arm als wohlhabend. Ihre Mutter, erzählten Sie einmal, habe sogar Seife selbst gemacht. Meine Eltern hatten spät geheiratet, und ein bayerischer Gendarm im Rang meines Vaters, als ein einfacher Kommissär, war bescheiden bezahlt. Wir waren nicht arm im strengen Sinn des Wortes, weil das monatliche Gehalt garantiert war, aber wir mussten doch sehr sparsam und einfach leben, wofür ich sehr dankbar bin. Denn gerade dadurch entstehen Freuden, die man im Reichtum nicht haben kann. Ich denke oft zurück, wie schön es war, wie wir uns über die kleinsten Dinge freuen konnten und wie man füreinander auch etwas zu tun versucht hat. Wie gerade auch durch diese sehr bescheidene, finanziell auch angespannte Situation eine innere Solidarität entstanden ist, die uns tief aneinander gebunden hat. Damit wir alle drei studieren konnten, mussten die Eltern natürlich ungeheure Verzichte auf sich nehmen. Wir haben das auch gespürt und versucht, darauf zu antworten. Insofern ist gerade durch dieses Klima einer großen Einfachheit auch viel Freude gewachsen und eben auch Liebe zueinander. Wir spürten, was uns gegeben wird und wie viel die Eltern auf sich nehmen. Das mit dem Seifemachen hat eine besondere Bewandtnis. Das ging nicht auf Armut zurück, sondern auf die Situation, dass man im Krieg Waren, die nicht ausreichend vorhanden waren, sich irgendwie beschaffen musste. Unsere Mutter war von Beruf Köchin und eine Alleskönnerin, die auch solche Rezepte auswendig beherrschte. Sie hat es mit ihrer großen Fantasie und ihrem praktischen Geschick verstanden, gerade als der Hunger im Lande stand, aus einfachsten und spärlichen Mitteln immer noch ein gutes Essen herbeizuzaubern. Die Mutter war sehr warmherzig und innerlich sehr stark, der Vater war eher rational und willentlich betont, von reflektierender Glaubensüberzeugung, er hat alles früh klar gewusst und hat immer ein erstaunlich treffendes Urteil gehabt. Als der Hitler an die Macht kam, sagte er: Jetzt kommt der Krieg, jetzt brauchen wir ein Haus! Wie sah es bei Ihnen zu Hause aus? Wie wohnten Sie, wie lebten Sie? Zunächst einmal war mit dem Gendarmsein meines Vaters ein ziemlicher Wanderweg verbunden. Ich selbst habe an meinen Geburtsort Marktl keine Erinnerung mehr. Wir sind weggegangen, als ich zwei Jahre alt war. Wir waren dann in Tittmoning, da war die Gendarmerie am Stadtplatz in einem ehemaligen Propsteihaus untergebracht. Das Haus war zwar sehr schön, aber es war doch ein höchst unbequemes Wohnen. Der ehemalige Kapitelsaal war unser Schlafzimmer, die anderen Zimmer waren wiederum sehr klein. Platz hatten wir ausreichend. Aber wir haben natürlich auch gemerkt, dass es ein altes, verfallenes Haus war. Für die Mutter war das ganz schrecklich. Sie musste immer zwei große Treppen hinauf das Holz und die Kohlen schleppen. Später, in Aschau, wohnten wir in einer ganz hübschen Villa, die sich ein Bauer da gebaut und an die Gendarmerie vermietet hatte. Verglichen mit heutigem Wohnkomfort war das natürlich auch alles sehr einfach. Ein Bad hat es nicht gegeben. Aber es gab immerhin fließendes Wasser. Mit Blick auf seine Pensionierung hat mein Vater ein altes, ebenfalls sehr einfaches Bauernhaus in Hufschlag bei Traunstein gekauft. Statt Wasser aus der Leitung gab es hier einen Brunnen, was hochromantisch gewesen ist. Auf der einen Seite des Hauses stand ein Eichenwald mit Buchen durchmischt, auf der anderen Seite waren die Berge, und wenn wir morgens die Augen aufgemacht haben, konnten wir als Erstes die Berge sehen. Nach vorne wiederum hatten wir Apfelbäume, Zwetschgenbäume und viele Blumen, die meine Mutter im Garten gezogen hat. Es war ein schönes, großes Grundstück – von der Lage her himmlisch. Und in den alten Scheunen konnte man die herrlichsten Träume erleben und wunderbar spielen. Es war eine unerforschte und eigentlich ganz unerforschbare Welt, so vielfältig war das. Eine alte Weberkammer ist da gewesen, weil die Vorbesitzer offenbar Weber gewesen waren. Die Zimmer selber waren von größter Einfachheit, und das Haus – ich glaube, es war 1716 gebaut worden – war insgesamt sehr reparaturanfällig, also es hat reingeregnet und so. Aber es war einfach schön, es war ein Kindheitstraum. Da haben wir uns ohne Komfort richtig glücklich gefühlt. Für den Vater, der die nötigen Reparaturen bezahlen musste, für die Mutter, die das Wasser aus dem Brunnen getragen hat, war es vielleicht weniger lustig. Aber wir haben es als richtiges Paradies erlebt. Wir hatten eine knappe halbe Stunde zur Stadt zu gehen. Aber auch das war schön, dass man auf diese Art und Weise unterwegs war. So haben wir den Mangel an modernem Wohnkomfort überhaupt nicht empfunden, sondern das Abenteuerliche, Freie und Schöne eines alten Hauses mit seiner inneren Wärme erlebt. War es ein strenges Elternhaus? In einem gewissen Sinn schon, ja. Mein Vater war ein sehr gerechter, aber auch ein sehr strenger Mann. Aber wir haben immer gespürt, dass er streng war aus Güte. Und deswegen konnten wir seine Strenge wirklich gut annehmen. Die Mutter hat immer schon das, was an ihm vielleicht zu streng war, durch ihre Wärme und Herzlichkeit ausgeglichen. Es waren zwei sehr verschiedene Temperamente, die sich gerade durch ihre Verschiedenheit auch sehr gut ergänzt haben. Streng war es, das muss ich sagen, aber es war doch viel Wärme und Herzlichkeit und Freude da, die dadurch vermehrt wurden, dass wir miteinander gespielt haben, auch die Eltern haben mitgemacht, dass gerade auch Musik eine immer größere Rolle im Familienleben hatte, die ja auch eine zusammenführende Kraft hat. Ihre Eltern hatten alle drei Kinder aufs Internat geschickt. Wie kam das? Das war damals die einzige Art, eine, wie man es heute nennt, „höhere Bildung“ zu bekommen. Es gab ganz wenige Gymnasien auf dem Land. Man musste bei den weiten Schulwegen meist notgedrungen ins Internat. Meine Schwester besuchte eine Mittelschule der Franziskanerinnen. Da ist sie mit dem Rad hingefahren, es waren fünf Kilometer, und blieb zu Hause wohnen. Sie hat sich dann selber gewünscht, im Internat sein zu können, und das ist ihr gewährt worden. Mein Bruder kam als Erster aufs Gymnasium und damit ins Internat, es ging gar nicht anders. Ich bin zunächst von zu Hause aus jeden Tag in die Schule gegangen. Nach zwei Jahren kam die Idee auf, nachdem ich nun das einzige Kind zu Hause war, es wäre vielleicht als ergänzender Erziehungsfaktor gut, wenn ich auch ins Internat ginge. Und es hatte sicher auch seine – es ist mir nicht leicht gefallen, muss ich sagen – guten korrigierenden Funktionen. Man lernt doch eine andere Art von Sozialität und sich auch einzuordnen. Es dauerte allerdings nur zwei Jahre, schließlich wurden alle Internate in Traunstein zu Lazaretten umfunktioniert, so dass ich von da an wieder zu Hause war. Kann man sagen, dass es ein ausgesprochen religiöses Elternhaus war? Das kann man mit Sicherheit sagen, ja. Mein Vater war ein sehr gläubiger Mann. Er ist am Sonntag um sechs Uhr in die Messe gegangen, dann um neun Uhr in den Hauptgottesdienst und am Nachmittag noch mal. Die Mutter hatte eine sehr warme und herzliche Religiosität. In dem Punkt waren sich beide wieder in ihrer unterschiedlichen Art einig, Religion war ganz zentral. Wie sah Ihre religiöse Erziehung zu Hause aus? Heute haben viele Eltern ja offenbar ein Problem damit. Die Religion war ein Bestandteil des Lebens. Schon durch das gemeinsame Gebet. Zu allen Mahlzeiten wurde gebetet. Wenn es irgendwie vom Schulrhythmus her möglich war, gingen wir natürlich auch jeden Tag in die Messe und am Sonntag gemeinsam in den Gottesdienst. Später, als mein Vater pensioniert war, wurde meistens auch der Rosenkranz gebetet; ansonsten hat man der schulischen Katechese vertraut. Der Vater hat uns auch Lektüre gekauft; es gab zum Beispiel Zeitschriften bei der Erstkommunion. Aber es war nicht so, dass explizit religiös erzogen wurde, sondern es war durch das Familiengebet und durch den Kirchenbesuch gegeben. Offenbar gibt es hier eine starke Verbindung zu Ihrer bayerischen Heimat, auch zu dem speziell bayerischen Katholizismus. Sie haben immer wieder betont, Sie würden genau jenen demütigen Glauben der einfachen Leute verteidigen wollen, gegen den Hochmut der Theologen und auch gegen jenen abgeklärten Bürger- und Wohlstandsglauben in den großen Städten. Wir haben versucht, einfach gläubig, katholisch zu sein. Aber seine Farbe hatte unser Glaube zunächst auf dem Land und dann in dieser kleinen Stadt Traunstein gewonnen, wo der Katholizismus sich wirklich mit der Lebenskultur dieses Landes und mit seiner Geschichte tief verflochten hat. Es war also, würde ich sagen, Inkulturation, so dass das ein uns gemäßer Ausdruck war, den uns unsere eigene Geschichte entgegentrug. Wir waren schon von der Familie her sehr patriotische Bayern. Unser Vater stammte aus Niederbayern, und Sie wissen ja, dass es in der bayerischen Politik des 19. Jahrhunderts zwei Strömungen gab: einerseits die mehr reichsorientierte, also deutschnational orientierte, und andererseits die mehr bayerisch-österreichische, auch frankophil-katholische Richtung. Meine Familie hat ganz eindeutig dieser zweiten Strömung angehört, die sehr bewusst bayerisch-patriotisch und auf unsere Geschichte stolz war. Meine Mutter stammte aus dem Tirolischen, aber da war ja auch wieder dieses Süddeutsch-Katholische auf andere Weise sehr stark und lebendig gegenwärtig. Insofern haben wir uns mit unserer eigenen Geschichte sehr identifiziert und waren uns auch bewusst, dass dies eine Geschichte ist, die sich sehen lassen kann. Diese Geschichte hatte nichts mit der nationalistischen Geschichte zu tun, die dann zu den großen Unglücken von 1943 bis 1945 führte. Im Gegenteil, gerade die Katastrophe des Nationalismus hat uns in unserer eigenen Geschichtsauffassung bestärkt. Wollten Sie nie eine eigene Familie haben, und hatten Sie nie eine Liebesbeziehung zu einer Frau? Von Papst Johannes Paul II. weiß man ja, dass er in seiner Jugend sehr verliebt gewesen ist. Also, ich würde so sagen: Ein direktes Verlangen nach einer Familie, so weit sind meine Planungen nicht gediehen. Aber dass ich natürlich auch durch Freundschaft berührt worden bin, das ist klar. Das Gespräch führte der Journalist Peter Seewald mit Kardinal Joseph Ratzinger vor seiner Ernennung zum Papst. In voller Länge ist der Dialog im Buch "Salz der Erde" (Heyne Verlag) nachzulesen.

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