Umfrage "Mein Lese-Leben" - Vorwort aus der Zukunft zu einem gefundenen Manuskript

Das Manuskript des untenstehenden Textes fand ich in einem Schubladenschrank. Statt diesen Fund sofort einem zuständigen Amt, zum Beispiel der DAB (Digitale Aufsichts-Behörde), zu melden, habe ich zu lesen begonnen. Ich verstand nicht ganz, worum es sich handelte: um eine persönliche Beichte, ein Tagebuch oder einen als Tagebuch fingierten Roman.

Das Manuskript des untenstehenden Textes fand ich in einem Schubladenschrank. Statt diesen Fund sofort einem zuständigen Amt, zum Beispiel der DAB (Digitale Aufsichts-Behörde), zu melden, habe ich zu lesen begonnen. Ich verstand nicht ganz, worum es sich handelte: um eine persönliche Beichte, ein Tagebuch oder einen als Tagebuch fingierten Roman. Trotzdem las ich den Text, als betrachtete ich eine besondere nächtliche Landschaft: Wenn der Mond über ihr aufleuchtete, meinte ich vereinzelte Häuser, eine gewundene alte Landstraße oder eine Waldlichtung zu erkennen.

Dann legte ich das Manuskript beiseite. Zur Zeit der Katastrophe vergaß ich es ganz. Bis ich es vor kurzem wiederentdeckte. Vielleicht hat auch mich die jüngste «Mode» angesteckt: Ein nicht unbedeutender Teil unserer Bevölkerung schaltet neuerdings die Empfänger, Sender und Bildschirme aus, trennt die Verbindung zum Großen Kommunikationsnetzwerk, setzt sich in einen Armsessel und liest ein Buch – nicht um da­rüber zu berichten, sondern zum alleinigen Vergnügen. Einige unserer politischen Führer sehen darin ein Zeichen von Dekadenz und nachlassender Moral. Ich teile ihre Meinung, mag auf diesen Zeitvertreib aber nicht verzichten, ja, ich fürchte sogar, er könnte zu einer heimlichen Leidenschaft ausarten.

In diesem Manuskript ist oft von der Möglichkeit eines «glücklichen» Lebens, von Freiheit und Ähnlichem die Rede. Heute klingt das märchenhaft, denn längst hat die Wissenschaft mit solchen Mythen aufgeräumt. Wir wissen, dass unsere Handlungen, Gedanken, Entscheidungen determiniert sind, dass unsere Gene sämtliche unserer Hirnfunktionen bestimmen und wir blindlings den Befehlen unserer Nervenbahnen gehorchen. Ein «Ich» gibt es nicht.

Unser Verfasser lebte indes noch in der Illusion eines verantwortlichen «Ichs». Das war eine Art Romantik, die er jedoch offensichtlich für Realismus hielt, für eine wesentliche Auseinandersetzung mit den wesentlichen Dingen. Und diese verhängnisvolle Blindheit gab seinem Leben Sinn.

Vielleicht finde ich genau das so anziehend. Und vielleicht hätten wir besser daran getan, mit der Vergangenheit nicht so gründlich zu brechen, denn nun wissen wir nicht einmal, wie wir es bis hierher geschafft haben. Würden wir unsere zum Chaos digi­talisierte Geschichte genau kennen, würde uns womöglich klar, wie tief wir gefallen sind. Und vielleicht sind wir genau deshalb auf alte Bücher angewiesen.

Über den Fundort des Manuskripts kann ich nichts Genaueres sagen. Der erwähnte Schubladenschrank stand in einer leeren, an einer verkehrsreichen Nebenstraße des Budaer Donauufers gelegenen Wohnung, in die ich vor einigen Jahren überstürzt eingezogen bin – weshalb und unter welchen Umständen, ist heute ohne Belang. Schnell fand ich heraus, warum der Schrank hier geblieben war: Er passte nicht durch die Tür, und offenbar war es meinen Vormietern leichter gefallen, ihn zurückzulassen als auseinander zu nehmen. Weniger verständlich ist mir, warum sie auch den ganzen Müll, Papierkram und so weiter da gelassen hatten. Doch immerhin befand sich darunter das Dossier, aus dessen losen Heftblättern und computergeschriebenen Seiten ich den untenstehenden Text rekonstruiert habe.

Da der Verfasser des Manuskripts – nach meinem Dafürhalten – Schriftsteller war, ist nicht auszuschließen, dass ein Zusammenhang zwischen der Wohnung und der alten, an der Außenwand des Hauses angebrachten Gedenktafel besteht, die durch Einschusslöcher und natürliche Schmutzablagerungen schon völlig unleserlich geworden ist. In diesem Fall wäre es selbstverständlich ein Leichtes, die Identität des Verfassers herauszufinden; nur müsste dies geschehen, bevor eine bald zu erwartende neue Katastrophe die Hauswand zum Einsturz bringt. Als aufmerksamem Leser will es mir allerdings scheinen, dass dem Verfasser die Anonymität besser entspräche.
Budapest, 2084


(Aus dem Ungarischen übersetzt von Ilma Rakusa)

 

Imre Kertész, geboren 1929 in Budapest und als Halbwüchsiger Auschwitz-Überlebender, ist der Literatur-Nobelpreisträger von 2002. Er lebt in Budapest und Berlin. Zu seinen bekanntesten Romanen und Prosa-Werken gehören «Roman eines Schicksallosen» (auch verfilmt), «Galeerentagebuch», «Liquidation». Zu Jahresende 2005 wird «Dossier K. Eine Ermittlung» erscheinen.

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.