Vor 100 Jahren wurde Marlon Brando geboren - Superstar, Egomane, Avantgardist der Popkultur

Mit seinem Schauspiel hat Marlon Brando nicht nur ganze Generationen von Kollegen geprägt, sondern auch die westliche Alltagskultur. Denn die Zerrissenheit und Zwiespältigkeit, die er symbolisierte und lebte, spiegelte die Zerrissenheit und Zwiespältigkeit unserer Zivilisation.

Hedonistisch, selbstverliebt und narzisstisch: Brando mit Vivien Leigh in „Endstation Sehnsucht“ (1951) / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Manche nennen ihn den bedeutendsten Schauspieler des 20. Jahrhunderts. Ob er das wirklich war, darüber mögen die Fachleute streiten. Doch ohne Zweifel gehörte er unter den ganz Großen zu den Allergrößten. So wurde er zum Vorbild von gleich zwei Schauspielergenerationen. Und zum Idol einer ganzen Jugendgeneration.

Er erfand den Typus des jugendlichen Rebellen. Zugleich repräsentiert er wie kaum ein anderer die Pathologien der westlichen Nachkriegsgesellschaft: ihre Selbstsucht, ihre Rücksichtslosigkeit, ihre Destruktivität. Erst diese Ambivalenz machte ihm vom Superstar zur Ikone eines Zeitalters. Die Rede ist natürlich von Marlon Brando. An diesem Mittwoch wäre er einhundert Jahre alt geworden.

Es liegt nahe, schwierige Charaktere wie Brando aus den Umständen ihrer Kindheit heraus zu erklären. Dabei muss man sich allerdings davor hüten, in simple Küchenpsychologie zu verfallen. Wie schwierig seine Kindheit und Jugend war, hat Brando jedoch selbst immer wieder betont.

Geboren wird der kleine Marlon in Omaha, Nebraska, im Mittleren Westen der USA. Sein Vater ist bei der Geburt seiner Kinder ein Handelsvertreter, dessen Affären, Alkoholsucht und Gewalttätigkeit die Familie schwer belasten. Brando wird nie einen Hehl aus seinem Hass gegenüber ihm machen.

Im Epizentrum der Umbrüche der Kunst der Moderne 

Die Mutter, Dorothy Julia Brando, arbeitet als Schauspielerin, gibt ihren Beruf jedoch für die Familie auf. Bald verfällt auch sie dem Alkoholismus. Die ältere Schwester Jocelyn wird zeitweise zur Ersatzmutter. Mit Grimassen und dem Nachahmen von Tieren versucht der kleine Marlon seine Mutter aus der Apathie zu reißen. Nach außen wird der Junge zunehmend aufsässig. Die Schulleistungen sind schlecht. Marlon ist Legastheniker. Schließlich schickt der Vater seinen siebzehnjährigen Sohn auf die Shattuck Military Academy in Faribault, Minnesota. Aber auch dieser letzte Disziplinierungsversuch misslingt.

Aufgrund einer Knieverletzung ausgemustert, geht Marlon 1943 nach New York, wo inzwischen seine Schwestern wohnen. Um sich ein wenig Geld zu verdienen, arbeitet er in einem Hotel als Liftboy. Der Legende nach macht ihn ein gegenüber dem Hotel gelegenes Haus neugierig, weil dort so viele attraktive Mädchen hineinströmen. Es ist der Dramatic Workshop des Theaterrevolutionärs Erwin Piscator. Marlon schaut mal hinein. Eine Gang, der sein Leben verändert.

 

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Zu seiner Mentorin am Dramatic Workshop wird Stella Adler, Schauspiellehrerin und ihrerseits Schülerin des berühmten russischen Theaterreformers Konstantin Stanislawski. Der ungebildete Junge aus dem Mittleren Westen gerät so, ohne es auch nur zu ahnen, in eines der Epizentren der Umbrüche der Kunst der Moderne und ihrer Auseinandersetzung mit abendländischer Bühnentradition. Dieses Spannungsfeld wird sein künstlerisches Schaffen erheblich prägen.

Stella Adler wird für Brando zu einer Ersatzmutter. Sie vermittelt ihm Bildung. Und lehrt ihm ihre auf Stanislawski beruhende Schauspielmethode. Dabei geht es vor allem darum, nicht künstlich zu schauspielern, sondern die jeweilige Rolle zu leben. Charakteristisch dabei ist das systematische Unterspielen, das sich vom deklamierenden Stil des klassischen Schauspiels erheblich unterscheidet. Stattdessen ist der Schauspieler angehalten, möglichst naturalistisch und aus seinen individuellen Emotionen heraus zu agieren.

Andere wie James Dean und Elvis Presley werden es Brando nachtun

Nach Konflikten mit Piscator verlässt Brando die Schauspielschule und bekommt einige kleine Rollen am Broadway. Der große Durchbruch erfolgt 1947 mit der Rolle des Stanley Kowalski in Tennessee Williams „Endstation Sehnsucht“. Die Inszenierung wird ein großer Erfolg. Brandos Spiel ist eine Sensation. Alle wollen diesen charismatischen, trotzigen, erotischen, authentischen Schauspieler sehen.

Doch Brando ist unstet. Mehrmals wöchentlich auf der Bühne zu stehen, ist seine Sache nicht. 1949 übernimmt er seine erste Filmrolle in dem Kriegsversehrten-Drama „The Men“. Dort spielt er einen querschnittsgelähmten Offizier. Wochenlang lebt Brando zur Vorbereitung mit Rollstuhlfahrern zusammen. Sein Spiel pendelt zwischen impulsiver Aggressivität und Momenten großer Sensibilität und Zärtlichkeit. Seinen endgültigen Durchbruch feiert Brando mit der Filmadaption seines Bühnenerfolgs „Endstation Sehnsucht“. Es folgen legendäre und revolutionäre Filme wie „The Wilde One“ oder „On the Waterfront”. Ein Star ist geboren.

Doch Brando ist mehr. Er ist eine Ikone. Sein Habitus, sein Stil, seine Kleidung in T-Shirt und Jeans prägen eine ganze Jugendkultur – bis heute. Andere wie James Dean und Elvis Presley werden es Brando nachtun. In der entstehenden Popkultur des Westens schafft Brando so den Typus des jungen, aufsässigen, wütenden aber sensiblen jungen Mannes.

Spiegelbild der Neurosen des modernen Menschen

Da Brando diese Rollen jedoch nicht nur spielt, sondern auch lebt, wird sein Leben zugleich zu einem Spiegelbild der Neurosen des modernen Menschen: Er ist unstet, hedonistisch, selbstverliebt und narzisstisch. Besonders problematisch ist sein gestörtes Verhältnis zu Frauen, die er reihenweise – man muss es so sagen – konsumiert. Aber auch Filmprojekte oder seine Idee, auf dem Südseeatoll Tetiaroa eine Künstlerkolonie zu errichten, scheitern an seinem Unvermögen zu Stetigkeit und Konstanz.

Nach einer Phase, in der Brando aus finanziellen Gründen vor allem in kommerziellen Projekten mitspielt, findet er mit „The Godfather“ und „Apocalypse Now“ zurück ins ernsthafte dramatische Fach und feiert erneut Triumphe. Seine letzten Lebensjahre sind geprägt von privaten Tragödien. Am 1. Juli 2004 stirbt Marlon Brandon in Los Angeles.

Mit seinem Schauspiel hat er ganze Generationen von Kollegen geprägt – von Robert de Niro über Dustin Hoffman bis Harvey Keitel. Zugleich hat er die westliche Alltagskultur geprägt wie kaum ein anderer Star. Nicht, weil er so einflussreich war, sondern weil die Zerrissenheit und Zwiespältigkeit, die er symbolisierte und lebte, die Zerrissenheit und Zwiespältigkeit unserer westlichen Kultur spiegelte – irgendwo zwischen Narzissmus, Egomanie und individuellen Sensibilitäten und moralischen Ansprüchen. So gesehen war er ein ikonisches Kind des 20. Jahrhunderts.

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