Virenforschung - Bedrohlichen Seuchen auf der Spur

Riems ist die vermeintlich „gefährlichste Insel Deutschlands“. Und der beste Ort in diesem Land, um etwas über Infektionen und Pandemien zu erfahren. Denn hinter den mit Stacheldraht und Kameras gesicherten Metallzäunen erforscht dort das Friedrich-Loeffler-Institut Tierkrankheiten und Zoonosen.

Wissenschaftlerin im Friedrich-Loeffler-Institut auf der Ostsee-Insel Riems / dpa
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Der Weg zur vermeintlich „gefährlichsten Insel Deutschlands“ ist Idylle pur. Im Fischerdörfchen Gristow dümpeln Segel- und Motorboote in der kleinen Anlegestelle, gleich neben einer eindrucksvollen, von uralten Bäumen umstandenen Backsteinkirche. Kühe in Halbtrauer grasen gemächlich auf einer Landzunge, die in die Ostsee hineinragt. Kurze Zeit später führt eine schmale Straße über eine Brücke vom Festland aus zur Insel Riems. Links geht der Blick über die silbrig glitzernde Boddenlandschaft hinüber nach Rügen. Rechts sonnen sich Kormorane mit ausgebreiteten Flügeln auf einem Betonsockel am Uferrand. Die Fahrt endet jäh vor einem zweieinhalb Meter hohen, mit Stacheldraht und Kameras gesicherten Metallzaun, der einen Großteil der 1200 Meter langen und maximal 300 Meter breiten Ostseeinsel einfasst. 

Vor 16 Jahren warnte hier noch ein Schild drastisch mit „Tierseuchensperrbezirk – Zugang nur für Befugte“. Heute weist ein gelbes Schild mit schwarzem Bundesadler sachlich auf das „Friedrich-­Loeffler-Institut – Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit“ hin, kurz FLI. In dieser Zeitspanne ist eine der weltweit modernsten Einrichtungen zur Erforschung von Tierkrankheiten und Zoonosen – Krankheiten, die von Tieren auf den Menschen überspringen können – entstanden. 
Zwei Drittel der menschlichen Infektionskrankheiten haben einen tierischen Ursprung, wahrscheinlich auch das Coronavirus, dessen nächste genetische Verwandte in Fledermäusen vorkommen. Es gibt in ganz Europa keinen besseren Ort, um etwas über Infektionen und Pandemien zu erfahren.

Die „Seucheninsel“

Riems ist der Hauptsitz der staatlichen Forschungseinrichtung, die insgesamt rund 850 Mitarbeiter beschäftigt, davon etwas mehr als die Hälfte auf der Insel. Daneben gibt es vier Außenstellen in Braunschweig, Celle, Mariensee und Jena. Mit ihren Nationalen Referenzlaboren klären die Wissenschaftler Verdachtsfälle zu über 70 meldepflichtigen Tierkrankheiten ab. Sie beraten die Veterinärbehörden der Bundesländer, definieren Standards zu Probennahmen und Untersuchungen, betreiben Qualitätssicherung und umfangreiche Forschung. Mit mehr als 150 Projekten in 85 Ländern ist das FLI weltweit vernetzt.

Allein auf Riems sind sechs der insgesamt zwölf Fachinstitute angesiedelt. Geforscht wird über Viren und neuartige Tierseuchenerreger sowie zu Epidemiologie, Immunologie, Infektionsmedizin und Zellbiologie. In einer Zellbank bewahren die Riemser Wissenschaftler zudem über 1600 Zelllinien von sehr unterschiedlichen Tieren auf – darunter auch einige vom Aussterben bedrohte Arten wie das Nördliche Breitmaulnashorn, das Zwergflusspferd, die Saiga-Antilope oder der Tasmanische Beutelteufel. Die Zellen werden in mit flüssigem Stickstoff gefüllten Edelstahlbehältern bei minus 196 Grad Celsius aufbewahrt und lassen sich so dauerhaft konservieren. Es ist eine weltweit einmalige Sammlung, die auch anderen nichtkommerziellen Forschungslaboren im In- und Ausland für Untersuchungen und Tests zur Verfügung steht. Um dem Ursprung und der Ausbreitung von Infektionen schneller und genauer auf die Spur zu kommen, gibt es inzwischen sogar ein „Seuchenmobil“, einen Kleinbus, der mit allen wichtigen Diagnosewerkzeugen ausgestattet ist und innerhalb einer halben Stunde einsatzbereit sein kann.

Den zweifelhaften Ruf als „Seucheninsel“ werde Riems wohl nie ganz los, sagt Institutspräsident Thomas Mettenleiter schmunzelnd und blickt nachdenklich aus seinem Büro auf die herbstliche Boddenlandschaft. „Trotz höchster Sicherheitsmaßnahmen, viel Transparenz und hingebungsvoller Öffentlichkeitsarbeit.“ Er wirkt dabei, als hätte er sich längst damit abgefunden. Die Furcht ist ja auch verständlich. Immerhin wird hier mit hochgefährlichen Krankheitserregern geforscht, wie etwa Krim-Kongo-­Fieber-, Ebola-, Borna-, Corona- oder Vogelgrippeviren. 

Hochsicherheitstrakt

Vor allem der einheimischen Bevölkerung waren die Insel und die darauf Forschenden lange suspekt. Das war schon 1910 so, als der Greifswalder Hygieniker Friedrich Loeffler das weltweit erste virologische Institut auf Riems begründete. Zuvor hatte er im Auftrag der preußischen Regierung auf dem Festland nach Wegen gesucht, die heimtückische Maul- und Klauenseuche einzudämmen. Doch als sich die Krankheit immer wieder in benachbarte Viehbetriebe ausbreitete, war er auf Druck der Bevölkerung reif für die Insel. Lange Zeit konnten Menschen, Tiere und Güter nur per Schiff nach Riems gelangen. 1926 wurde eine Seilbahn gebaut. Fünf Menschen oder eine Kuh hatten in der Gondel Platz. Erst seit 1971 gibt es eine Verbindung mit dem Festland.

Zu DDR-Zeiten waren die bis zu 800 „Riemser“ geheimnisumwittert und wurden gemieden. Manche Gaststätten in der Region durften sie nicht betreten. Den Ehepartner fanden sie meist im Kollegenkreis. Es wurde getuschelt, dass auf der Insel an Biowaffen geforscht würde und dass viele Seuchenzüge hier ihren Ursprung hätten. Derzeit ist es die Vogelgrippe, von der mancher argwöhnt, sie sei aus Riems gekommen. Was sich zuverlässig wissenschaftlich widerlegen lässt.

Heute wird mit den modernsten Mitteln der Gebäude- und Sicherheitstechnik alles getan, damit beim Umgang mit Hochrisikoerregern nichts schiefläuft. Die rund 90 Labore sind in vier Sicherheitskategorien eingeteilt. In manchen Gebäuden herrscht leichter Unterdruck, damit nichts unkontrolliert entweichen kann. Sie haben zwei speziell gesicherte Fensterreihen. Zu- und Abluft werden gefiltert. In bestimmten Laborbereichen ist der Zugang nur über spezielle Schleusen mit Schutzkleidung möglich. Und man kann sie nur durch „Rausduschen“ mit Desinfektionsmitteln wieder verlassen.

Die höchste Sicherheitsstufe

Das Herzstück ist der Arbeitsbereich der höchsten Sicherheitsstufe 4 (S4). In diesem 180 Quadratmeter großen Hochsicherheitslabor wird die Luft doppelt gefiltert. Es ist durch Panzerglas geschützt, die Zugänge sind mehrfach gesichert. Zudem ist es komplett von Räumen der Sicherheitsstufe 3 umschlossen. Die Sicherheitstechniker, die die Gebäude rund um die Uhr überwachen, sprechen von einem Box-in-Box-System. Abwässer laufen in Sammeltanks unter dem Labor zusammen. Sie werden thermisch und chemisch sterilisiert, bevor sie in die institutseigene Kläranlage gepumpt werden.

Der Mensch, der im Kernbereich hinter dem Panzerglas arbeitet, trägt einen gelben Ganzkörperschutzanzug, in den von der Decke über einen Schlauch gefilterte Luft strömt. Er sieht aus wie ein Michelin-Männchen. Denn im Gegensatz zum Labor herrscht im Anzug Überdruck, sodass bei einem Nadelstich oder einem feinen Riss keine infektiöse Luft eindringen kann. „Ich habe keine Angst, sondern eher Respekt vor dem Erreger und den Konsequenzen einer Infektion. Doch das ist gut, denn dadurch arbeite ich aufmerksam und umsichtig“, sagt die Humanbiologin Sandra Diederich, die unter anderem über das gefährliche Ebolavirus forscht. Mit diesem Erreger darf ausschließlich unter höchsten Sicherheitsbedingungen gearbeitet werden.

Die dicht verpackte Person im S4-Labor steht mit einem assistierenden „Buddy“ jenseits des Panzerglases in Funkkontakt, der auch im Notfall weiß, was zu tun ist. Erst nach einer gründlichen Essigsäuredusche darf der gelbe Anzug ausgezogen werden. Dann folgt noch ein Hygieneduschgang des Körpers, bevor sich die Schleuse des Hochsicherheitsbereichs wieder öffnet. Unterwäsche und Laborkleidung bleiben im System und werden vor der Wäsche erhitzt.

Was mit den Tieren nach dem Experiment passiert

Die Arbeit im sperrigen Ganzkörperschutzanzug setzt intensives Training und gute Planung voraus. Sven Reiche, der stellvertretende Leiter der Biosicherheitsabteilung, rät, vor dem Einsatz ausreichend zu essen und zu trinken, um Dehydrierung zu vermeiden, und – „ganz wichtig!“ – sich unmittelbar vorher auf der Toilette zu erleichtern.

Was das S4-Labor auf Riems weltweit besonders macht, ist der Stall, der zum Hochsicherheitsbereich gehört, um auch mit großen Tieren experimentieren zu können. Hochsicherheitslabore, in denen Forscher auch ausgewachsene Schweine und Rinder mit hochriskanten Erregern infizieren können, gibt es sonst nur noch in Australien und Kanada. „Alle Tiere werden am Ende der Experimente eingeschläfert“, sagt Sven Reiche: „Die Tierkörper werden anschließend in einem ‚Digester‘, einem riesigen Kochbottich mit Rührwerk, unter Zugabe von Kaliumhydroxid mehrere Stunden bei 150 Grad zu einer Art Fleischbrei verarbeitet.“ Die Masse, die zurückbleibe, sei dann vollständig unschädlich und werde in einer Tierkörperbeseitigung verbrannt.

„Um solche Tierversuche kommen wir leider nicht herum, wenn wir Seuchenerreger besser verstehen und Mittel gegen sie entwickeln wollen“, sagt der Institutspräsident. Jeder Tierversuch muss von den Behörden genehmigt werden, Veterinäre und ein Tierschutzbeauftragter wachen beim FLI darüber. Thomas Mettenleiter ist ein mittelgroßer, feingliedriger Mann mit hoher Stirn, auf der sich der verbliebene Haarflaum ungebändigt kräuselt. Er hat ein energisches Kinn, das er manchmal vorstreckt, wenn ihm etwas zuwiderläuft. Er ist salopp gekleidet, trägt eine anthrazitfarbene Jeans, ein blaues Hemd, dazu ein dunkelblaues Jackett.

Ein Herz für Viren

Für seinen Humor sprechen seine Lachfalten und seine Schweinesammlung. Zwischen den hellbraunen Holzschränken in seinem Büro türmen sich in einer Vitrine Schweine aus Holz, Stroh, Plüsch, Plastik, Porzellan und Zinn. Und auch aus verschiedenen Ecken des Raumes rüsseln Schweine hervor. Die Sammlung nahm ihren Anfang vor vielen Jahren, nachdem der Molekularbiologe und Virologe erfolgreich einen Impfstoff gegen das Schweine-Herpesvirus mitentwickelt hatte.
 

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Seine braunen Augen funkeln hinter seiner randlosen Brille, wenn er über seine Arbeit erzählt. Auch nach über 25 Jahren als Präsident ist seine wissenschaftliche Leidenschaft offenbar noch nicht erloschen. Er hat viel erreicht, aus sehr unterschiedlichen ostdeutschen und westdeutschen Laboren eine Einheit geformt und zusammen mit seinem bunt zusammengewürfelten Mitarbeiterstab großes internationales Renommee erworben. Mit schwäbischem Pragmatismus ist dem FLI-Chef das Kunststück gelungen, aus ehemaligen DDR-Forschungskadern sowie Forschenden aus Westdeutschland  und dem Ausland ein gut funktionierendes Team zu formen. 

Vor allem, wenn er über die Besonderheiten von Viren spricht, strahlt er. „Ja, es stimmt, ich habe ein Herz für Viren“, sagt er lachend. „Sie sind weitaus mehr als nur Krankheitserreger. Viren oder virusähnliche Formen stehen am Anfang der Evolution. Wir haben ihnen das Leben zu verdanken. Sie sind die mit Abstand häufigste Lebensform auf diesem Planeten. Und wir wissen immer noch viel zu wenig über sie.“ Er sage bewusst „Lebensform“ und nicht „Lebewesen“. Denn Viren besitzen weder eine eigenständige Fortpflanzung noch einen eigenen Stoffwechsel. Sie sind ganz auf eine Wirtszelle angewiesen, die sie mit ihren Nukleinsäuren so umprogrammieren, dass die befallene Zelle sie vervielfältigt. Bislang ist lediglich ein kleiner Bruchteil der Virenarten überhaupt bekannt. „Darunter gibt es welche, die sehen aus wie Büchsen, Fäden, Zitronen oder Mondlandefähren“, sagt Mettenleiter. „Und betrachten Sie mal die Dimension: Sars-CoV-2, der Erreger, der die Corona-Pandemie ausgelöst hat, das ist ein winziges Fetttröpfchen mit ein bisschen genetischem Material darin, und das hebt die Welt aus den Angeln.“ 

Corona als Übung?

Der Virenversteher hat in der öffentlichen Diskussion für seine Aussage, die Covid-19-Pandemie könne man wie einen gigantischen Feldversuch betrachten, bevor eine richtige Pandemie komme, verbale Prügel bezogen. Manche empfanden das als zynisch angesichts der Todesfälle und der enormen Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft. „Das war sicherlich zugespitzt“, sagt er, „aber wir Virologen können uns noch deutlich Schlimmeres vorstellen als das, was wir jetzt gesehen haben. Als der Vogelgrippeerreger H5N1 2006 bei uns ankam, hatte er Mortalitätsraten bei Menschen von über 50 Prozent. Das ist so hoch wie bei Ebola.“ Allerdings kam es weltweit nur zu vergleichsweise wenigen Übertragungen auf den Menschen, hauptsächlich in Südostasien und Ägypten. Wenn es solch einem äußerst tödlichen Virus gelänge, so Mettenleiter, sich als Folge von Mutationen über Tröpfcheninfektionen rasch über die Luft von Mensch zu Mensch auszubreiten, sei das dann eine ganz andere Situation. 

„Das Gute ist, dass wir aus der Corona-Krise einiges für die Zukunft gelernt haben“, räumt Mettenleiter ein. „Wir haben die Hygiene wieder stärker entdeckt, der Einsatz der FFP2-Masken hat sich bewährt und viele Ansteckungen verhindert. Und besonders wichtig: Die Kommunikation und die Transparenz zwischen den Wissenschaftlern weltweit haben erstaunlich gut funktioniert.“ Die genetische Sequenz von Sars-CoV-2 sei bereits im Januar 2020 in China ermittelt und dann rasch in eine öffentlich zugängliche Datenbank hochgeladen worden. „Ohne diese essenzielle Information hätte Christian Drosten nicht so schnell den ersten Corona-PCR-Test entwickeln können, und auch mit der Entwicklung von Impfstoffen hätte es viel länger gedauert.“ Geschwindigkeit, globaler Wissenstransfer sowie unegoistisches Verhalten von Menschen und Regierungen seien notwendig, um eine Pandemie in den Griff zu bekommen.

Seit zwei Jahren leitet Thomas Mettenleiter zusammen mit seiner südafrikanischen Kollegin Wanda Markotter das UN-Beratungsgremium One Health High-Level Expert Panel. 26 Expertinnen und Experten aus 24 Ländern suchen darin nach Wegen, Pandemien vorzubeugen. Das ist erwartungsgemäß schwierig, denn Krankheitserreger verändern sich, werden urplötzlich problematisch, neue entstehen und breiten sich unter rätselhaften Umständen aus. Zudem sei eine Weltbevölkerung, die im September dieses Jahres die acht Milliarden überschritten hat, ein „gefundenes Fressen“ für einen Erreger, sagt der Virologe. „Wenn ich Erreger wäre, würde ich genau das machen, was Sars-CoV-2 gemacht hat. Ich suche mir eine große, naive, empfängliche Population, die hoch mobil ist und die Eigenschaft besitzt, sich in Ballungsräumen zusammenzurotten.“

Ein kleiner Zoo

Mettenleiter empfiehlt eine Doppelstrategie: einerseits beispielsweise durch den Ausbau von Laborkapazitäten und geeigneten Krankenhauskontingenten gut vorbereitet sein, und andererseits Risikofaktoren wie die Abholzung der Regenwälder, schlechte hygienische Verhältnisse oder industrielle Tierhaltung vermindern. Allein die Entwicklung der Geflügelpopulation auf diesem Planeten ist seit 1960 exponentiell gestiegen, um den Bedarf der zunehmenden menschlichen Population an tierischem Protein zu decken. Das erhöhe enorm das Risiko, dass Krankheitserreger von den Tieren auf Menschen übertragen würden. „Wir müssen die Gesundheit von Tieren und Menschen zusammen mit einer gesunden Umwelt betrachten. Das nennen wir ‚One Health‘. Dabei spielen Faktoren wie sauberes Wasser, umweltverträgliche Landnutzung und Nahrungsmittelproduktion oder die Eindämmung des Klimawandels durch erneuerbare Energien eine wesentliche Rolle.“

Ein Streifzug über das Gelände zeigt, dass die Forschungseinrichtung auf Riems aus weit mehr als nur Labortrakten besteht. Gebäude für die Haltung von sehr unterschiedlichen Tierarten, Gehege und Weiden sind über das Gelände verstreut. Sechs Alpakas grasen auf einer weitläufigen Wiese und heben neugierig ihre Köpfe. Ihnen wird für Untersuchungen regelmäßig Blut abgezapft, denn sie verfügen über ein spezielles Immunsystem, das Nanoantikörper enthält, die vielversprechend für die Entwicklung neuer Therapien sind. Es gibt eine Halle, in der Fische in Becken gehalten werden. In einem roten Bau ist der Quarantänestall für Rinder untergebracht. Flughunde und Kleintiere wie etwa Goldhamster werden in einem grauen Gebäude versorgt. Mithilfe der Goldhamster wird beispielsweise untersucht, wie Antikörper und andere Moleküle auf das Spikeprotein von Sars-CoV-2 wirken. Hinter einer mannshohen Mauer wühlt ein stattlicher Wildschweinkeiler, genannt Eberhard, im Boden seines Auslaufs – sein Job ist es, zusammen mit zwei Bachen für möglichst viel Nachwuchs zu sorgen. Und von einer kleinen dünenartigen Erhöhung schwärmen Honigbienen, ebenfalls im Dienst der Wissenschaft, über die Ostseeinsel.

Vorbereitung auf Klimawandelfolgen

Daneben wird unter anderem auch mit Schafen, Füchsen, Marderhunden, Frettchen, Kaninchen, verschiedenen Mäusen, Geflügel und Stechmücken wie etwa der Asiatischen Tigermücke auf Riems geforscht. Die schwarz-weiß gestreifte Tigermücke stammt ursprünglich aus tropischen und subtropischen Regionen und ist als Überträger des Dengue-Fiebers sowie anderer Viruserkrankungen gefürchtet. Bei einem schweren Dengue-­Verlauf kann es zu inneren Blutungen kommen. WHO-Experten schätzen, dass weltweit jedes Jahr etwa 22.000 Menschen daran sterben, darunter viele Kinder. In der Nähe von Freiburg, im sonnenverwöhnten Baden, haben eingeschleppte Tigermücken bereits die durch den Klimawandel milder verlaufenden Wintermonate überlebt. Seither treiben die FLI-Forscher die bangen Fragen um, ob diese exotischen Blutsauger auch hier tropische Viruserkrankungen übertragen können, wenn es noch wärmer wird, und was man vorsorglich dagegen tun kann.

An der Ostspitze der Insel stehen die Fachtierärztin Anja Globig und die italienische Gastwissenschaftlerin Francesca Rondi im seichten Uferwasser. Sie sind bekleidet mit wasserdichten Wat­hosen, wie Angler sie tragen, darüber weiße Einwegschutzanzüge mit Kapuze. Ihre Hände sind mit Gummihandschuhen geschützt, Mund und Nase mit einer medizinischen Maske. Um sie herum befindet sich auf einer Fläche von etwa 40 Quadratmetern ein vollständig geschlossener Käfig aus rostfreiem Stahl, der zu etwa einem Drittel im Wasser steht. Der einzige Zugang ist eine schmale Tür. Jede der beiden Forscherinnen hält einen Kescher in der Hand. Damit versuchen sie 20 Stock­enten einzufangen und in eine Holzkiste zu packen. Ein kräftiger Westwind peitscht die Ostsee auf. Wellen klatschen durch das Gitter.

Die in Gefangenschaft lebenden Enten bekommen gelegentlich Besuch von neugierigen wild lebenden Wasservögeln, die über eine Reuse in den Käfig gelangen, aber nicht wieder hinaus. Nach und nach werden bei jedem Tier mit Tupfern Abstriche im Rachen und an der Kloakenöffnung vorgenommen und in Plastikröhrchen verschlossen. „Wir untersuchen die Proben anschließend im Labor vor allem darauf, ob sie Vogelgrippeviren enthalten“, erklärt Anja Globig: „Die Stockenten dienen uns als Überwachungssystem, ob gefährliche Virusvarianten in der Wasservogelpopulation vorhanden sind. Sie sind eine der wenigen Vogelarten, die daran meist nicht schwer erkranken oder sterben. Aber sie scheiden die Vogelgrippeviren aus und verbreiten sie.“ 

Vogelgrippe könnte sich etablieren

Seit mehr als 16 Jahren ist sie diesem Krankheitserreger auf der Spur, der bei einem intensiven Kontakt mit Wildvögeln und Geflügel auch beim Menschen tödliche Infektionen auslösen kann. Von 2006 bis 2008 grassierte der gefährliche H5N1-Virustyp in Europa, war dann für lange Zeit komplett verschwunden – und ist vor zwei Jahren genetisch verändert wieder aufgetaucht. „Plötzlich sterben Vögel an dem Virus, die bisher nicht betroffen waren und schon gar nicht in diesem Ausmaß, beispielsweise Seeschwalben, Basstölpel oder auch Möwen. Das liegt daran, dass das Virus im Sommer nicht verschwunden ist wie sonst, sondern in die Brutkolonien eindringen konnte“, sagt sie besorgt. Auf der holländischen Insel Texel seien beispielsweise Flussseeschwalbenkolonien komplett ausgelöscht worden. Europaweit gab es ein Massen­sterben von Wildvögeln, und auch einige Geflügelfarmen waren betroffen.

Bei den Enten auf Riems konnten Anja Globig und ihre Kollegen dieses Virus sowohl im vergangenen Jahr als auch in diesem Jahr nachweisen. Obwohl die Tiere keine Symptome zeigten, mussten sie jedes Mal alle aus Seuchenschutzgründen getötet und verbrannt werden. „Ich hoffe“, sagt die Tierärztin, „dass wir bei den neuen Tieren keine Vogelgrippeviren finden.“ Aber man müsse befürchten, dass sich H5N1 in unseren Breiten dauerhaft etabliert hat. Auch für Menschen wachse damit das Risiko erneut. Diese Botschaft ging neben der Berichterstattung über die Corona-Pandemie weitgehend unter. Schwere Infektionen bei Menschen gab es in den letzten beiden Jahren offenbar keine. „Doch wir müssen vorsichtig sein“, sagt Anja Globig, „und äußerst wachsam.“

 

Dieser Text stammt aus der Dezember-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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