Bevorstehendes Urteil des Bundesgerichtshofs - Die Judensau gehört weg!

Am 14. Juni verkündet der Bundesgerichtshof, ob die als „Judensau“ bezeichnete Schmähplastik an der Stadtkirche Wittenberg in Sachsen-Anhalt entfernt werden muss. Das antijüdische Sandsteinrelief aus dem 13. Jahrhundert wurde inzwischen um eine Bodenplatte und einen Aufsteller ergänzt, die die Darstellung einordnen sollen. Rafael Seligmann erklärt, warum es trotzdem weg muss.

"In Stein gemeißelter Antisemitismus": So bezeichnete der Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof, Stephan Seiters, das Sandsteinrelief aus dem 13. Jahrhundert an der Stadtkirche Wittenberg in Sachsen-Anhalt / dpa
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Autoreninfo

Rafael Seligmann, Jahrgang 1947, ist Historiker, Journalist und Schriftsteller. Er lehrte an der Ludwig-Maximilian-Universität Strategie und Sicherheitspolitik. In Kürze erscheint sein Buch „Brandstifter und Mitläufer. Hitler, Putin, Trump“ im Verlag Herder.

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Ist öffentlich zur Schau gestellte antijüdische Hetze in Deutschland vorstellbar? Nicht als ein durch Neonazis, Paranoiker, Islamisten getarnter „Antizionismus“, sondern als eine auf kirchlichem Podest gehievte Judensau? Undenkbar?

Ab dem 8. Mai 1945 ist Antisemitismus in diesem Land tabu. Seither entwickelte sich Deutschland fortwährend zum Hort der tatkräftigen Judenliebe und Unterstützung. Milliardenteure und protokollarische Bußfertigkeit äußerten sich als Entschädigungsleistungen, Lobpreisungen der einstigen deutsch-jüdischen Symbiose und empörte Verurteilungen von Judenfeindschaft. Dennoch wurde bislang an der genuin feinseligen „Judensau“ festgehalten.

Propaganda-Instrument des Judenhasses

Seit mehr als siebenhundert Jahren ziert die Sandsteinplastik die Stadtkirche zu Wittenberg. Das Denkmal stellt eine Sau dar, deren Zitzen von Juden ausgesogen werden, während ein weiterer Hebräer seinen Kopf an den After des Schweines hält. Zu einem Zeitalter als die meisten Menschen Analphabeten waren, war eine „Judensau“ auf dem Dach einer Kirche von der damals alle geistliche und ein Gutteil der weltlichen Autorität ausging, ein besonders wirksames Propaganda-Instrument des Judenhasses.

1543 schreibt der spätere deutsche Reformator Martin Luther ein Buch, in dem die Juden mit dem Teufel gleichgesetzt und beschimpft werden. Es trägt den Namen „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“. Mit dem Ausdruck „Schem Hamphoras“, die rabbinische Bezeichnung für den unaussprechlichen Namen Gottes, ist auch die Judensau überschrieben.
Ob die Judensau den jungen Mönch Martin Luther, der im 16. Jahrhundert auch an Wittenbergs Stadtkirche wirkte in seinem Antisemitismus bestärkte, ist unbekannt und nicht sonderlich wichtig. Zur Toleranz hat das Denkmal den Reformator gewiss nicht bewegt. Ebenso wenig wie seine Anhänger. Das Ziel der Judensau blieb sich über die Jahrhunderte gleich, das Entfachen von antijüdischem Hass.

Die folgenden Jahrhunderte waren ereignisreich. Luthers Reformation folgten die Aufklärung, der Nationalismus, der sich im zunächst zerstückelten Deutschland mit der Romantik verband. Ab 1871 wurde der heiß herbeigesehnte kleindeutsche Nationalstaat gewaltsam verwirklicht, das Reich entwickelte sich zur erstrangigen europäischen Militärmacht, die wie andere Staaten in der Ersten Weltkrieg wandelten.

Judenfeindlichkeit auch jenseits der Kirche

Der Demütigung des Versailler Vertrages, der Wirtschafts- und Politikkrise folgten die Berufung Hitlers, die Gleichschaltung, die zunehmende Begeisterung der Massen für die Nazis inklusive der Hinnahme, ja der Zustimmung  zum Antisemitismus. Doch Adolf Hitler war keineswegs der Erfinder des Antisemitismus. Der Nazi-Häuptling schwamm vielmehr auf einer Welle antijüdischer Vorurteile, die die Kirchen, ob reformiert oder nicht über Jahrtausende geschürt hatten.

Selbst als die Menschen, durch die Aufklärung beeinflusst, zunehmend ihren religiösen Glauben einbüßten, blieben die kirchlich inspirierten judenfeindlichen Einstellungen noch lebendig. Sie brodelten unter der Oberfläche wie Vulkane –jederzeit zum Ausbruch bereit. Bereits im 19. Jahrhundert machte sich im bürgerlichen Deutschland  zunehmend Antisemitismus breit.

So geriet Richard Wagners Hetzschrift „Das Judentum in der Musik“ zum Bestseller. Es verkaufte sich mehr als eine Million Mal. Der Historiker Heinrich Treitschke prägte den Slogan; „Die Juden sind unser Unglück“. Der Hofprediger Adolf Stoecker  hetzte die Aristokratie gegen die Hebräer auf. In Wien startete Karl Lueger einen antisemitischen Feldzug. Der junge Provinzler Adolf Hitler und unzählige andere ließen sich davon begeistern.

Wagner, Lueger, Houston Stewart Chamberlain, Hitler wurden durch die Wittenberger Judensau nicht zu Antisemiten. Und schon gar nicht kann die Figur als Ursache für Auschwitz verantwortlich gemacht werden. Doch die Plastik ist ein Symbol für die langfristige Vergiftung der Gesellschaft durch den Antisemitismus. Die Judenfeinde ob gewöhnliche Hasser, Wagnerianer, Nazis, sich verfolgt Wähnende etc. konnten und können sich durch dieses Denkmal bestätigt fühlen.

Dokumente der Hilfslosigkeit

Nun meint eine Reihe von Bürgern aus unterschiedlichen Motiven, die Wittenberger Judensau und etwa vier Dutzend ähnliche Monumente, seinen geschichtliche Zeugnisse. Das stimmt. Das wären aber auch öffentlich präsentierte Fallbeile oder, um näher an die Gegenwart zu rücken Hakenkreuzfahnen und Hitler-Büsten. Mit dem gleichen Argument könnte man die neue Reichkanzlei in Berlin samt Swastika wieder errichten oder das Nürnberger Parteitagsgelände erneut auferstehen lassen. Schaut her, so (furchtbar) war’s damals.

Wir wollen die schlimmen Facetten der Geschichte keineswegs vergessen machen. Das Schlechte sollte dokumentiert werden. In Museen, Gedenkstätten, Filmen, Büchern etc. Ich bin zu einer Zeit, in der Hitlers „Mein Kampf“ in Bibliotheken verbannt war, dafür eingetreten das politische Bekenntnis des Naziführers  zu veröffentlichen. Denn die heutige Generation muss das Weltbild und die Ziele der Nazis – nicht nur vom Hörensagen kennen. Doch das demonstrative Darstellen der Symbolik der Judenfeindschaft an einer Kirche ist nicht nur für die Opfer der Nazis und ihre Angehörigen, sondern für jeden empfindsamen Menschen schwer erträglich.

Verschwurbelte Erklärungstafeln etc. sind lediglich Dokument der Hilflosigkeit. Es ist bezeichnend, dass während der vier Jahrzehnte SED-Herrschaft, das sich „human“ und antirassistisch gebende kommunistische Regime keinen Anstoß an diesem Hetzmonument nahm. Befremdlicher ist mir, dass über Jahrzehnte kein Pfarrer vor Ort energisch darauf drängte, die Schandplastik von der Wittenberger Stadtkirche entfernen zu lassen. Auch nicht, nach 1990, als die Stadt wieder ein Teil des freien Deutschland geworden war. Hat sich nicht ein Gottesmann überlegt, was der Jude Jesus beim Anblick des Standbildes empfunden hätte?

Kampf gegen Diskriminierung ist ein Grundrecht  

Es ist bedauerlich, dass ein älterer Jude – ob konvertiert oder nicht, ist bedeutungslos – dafür vor Gericht gehen und sich von einer Instanz zur nächsten klagen muss, um die Entfernung des antijüdischen Hetzstückes durchzusetzen. Unsere Gesellschaft strotzt vor politisch korrekten Bürgern. Im Internet werden entsprechend Antihassgesetzen und –Vorschriften selbst Zitate gelöscht. Ein in Stein gehauenes judenfeindliches Propagandamal aber soll weiterhin wirksam sein dürfen?

Menschen, die meinen die Moral gepachtet haben, demonstrieren vehement für alle diskriminierten oder sich benachteiligt fühlende Gruppen – Tiere, sexuelle Gemeinschaften, Befürworter von Rauschmitteln, Radfahrer etc.. Das ist ihr gutes, im Grundgesetz verbrieftes Recht. Manche bedauern die Opfer der Schoah, man setzt ihnen Denkmäler, zelebriert den 27. Januar als Holocaust-Gedenktag im Parlament und den Medien. Dennoch nehmen das Böse und die Geschichte kein Ende, auch wenn der Politologe Francis Fukuyama nach dem Niedergang des Kommunismus zumindest das Ende der Historie verkündete und viele diesen Schwachsinn glaubten. Spätestens der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine beweist dies den vom Frieden besoffenen Europäern.

Gewalt und Krieg sind lediglich Kinder des Hasses. Er wurde und wird ständig gesät. Es ist Zeit, das Alibi der Geschichte zu verlassen und Hetzmonumente, wie die Judensauen in Wittenberg und anderswo ins Museum zu verbannen. Sie sollen als Zeugen dienen aber keinen allgemeinen Schaden mehr anrichten.

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