Bildung und Debattenkultur - Schulische Bildung als geistigen Prozess verteidigen

Bei Themen wie Klimawandel, Sozialpolitik oder europäische Geschichte sind viele Schüler von aktivistischen Einflüssen geprägt. Das beschädigt den wissenschaftlichen Ansatz des Unterrichts. Unser Autor zeigt, mit welchen Unterrichtsmethoden sich solche Schüler dennoch erreichen lassen.

Diskussion im Schulunterricht / dpa
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Autoreninfo

Rainer Werner unterrichtete an einem Berliner Gymnasium Deutsch und Geschichte. Er verfasste das Buch „Fluch des Erfolgs. Wie das Gymnasium zur ,Gesamtschule light‘ mutiert“.

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Als ich an einer Berliner Integrierten Sekundarschule hospitierte, wurde ich Zeuge eines „modernen“ Deutschunterrichts. Eine junge Lehrerin drehte mit ihrer 8. Klasse ein Video über die Ballade „Der Handschuh“ von Friedrich Schiller. In Gruppenarbeit hatten die Schüler zuvor kleine Dialoge verfasst, die Inhalt und Aussage der Ballade verdeutlichen sollten. Ein Technikteam filmte die Sequenzen der kleinen Theaterhandlung mit dem Tablet. Als der Film am Ende der Stunde über einen Beamer auf die Leinwand projiziert wurde, war mir schnell klar, dass die Schüler in ihren Dialogen nicht zum Kern des Gehalts dieser berühmten Ballade vorgedrungen waren. Ihnen war nicht klar geworden, dass die Botschaft darin besteht, dass der Ritter die frivole Liebesbekundung des Fräuleins als falsche Liebe entlarvt. Wenn man mit dem Leben des Geliebten spielt, kann man – so die Botschaft – nicht von Liebe sprechen. Die Ballade ist eine Kritik an der Dekadenz des Adels, der sich aus Langeweile Vergnügungen hingibt, bei denen auch mit dem Leben von Menschen gespielt wird.

Diese Dimension können Schüler nur erschließen, wenn sie sich mit dem historischen Kontext der Ballade beschäftigen. Spart man diesen aus, kommt es zu einer vorschnellen Aktualisierung des Textes, die mit einer Verflachung des Gehalts einhergeht. Ich vermutete damals, dass es der Lehrerin vor allem wichtig war, das digitale Werkzeug Tablet einzusetzen. Mit der Vermittlung des Gehalts der literarischen Vorlage hat sie sich dagegen nicht allzu viel Mühe gegeben. Ich habe auch in anderem Zusammenhang die Erfahrung gemacht, dass Lehrkräfte, die das digitale Handwerkszeug perfekt beherrschten, bei der geistigen Erarbeitung des jeweiligen Gegenstands eher nachlässig verfahren. Im schnellen Gebrauch liegt offensichtlich die Verführungskraft digitaler Geräte. Die schwierige geistige Erarbeitung der Stoffe erscheint dann als überflüssiger Zeitverlust.

Es gibt noch andere Motive, die die geistige Auseinandersetzung mit den Unterrichtsgegenständen beinträchtigen. In den sogenannten Kulturfächern Deutsch, Geschichte, Politische Wissenschaft, Ethik und Geografie werden immer häufiger aktuelle Themen behandelt. Dabei überragt der Klimawandel alle anderen konfliktträchtigen Themen. Ein Teil der Schülerschaft gibt sich nicht nur bestens informiert, einige Schüler treten auch als Mitglieder von „Fridays for Future“, „Extinction Rebellion“ oder „Letzte Generation“ in Erscheinung. Sie verstehen sich als Aktivisten, die einen wissenschaftsbasierten Unterricht nicht mehr nötig haben, weil sie den höchsten Grad an Informiertheit schon erreicht haben. Leider färbt ihre herablassende Art auch auf gutwillige Schüler ab. Manche wollen es sich mit den „kämpferischen“ Klassenkameraden nicht verscherzen, die sie als sympathische Mitschüler schätzen. Andere verspüren eine klammheimliche Freude, dass es den „mutigen“ Mitschülern gelingt, die Lehrkraft herauszufordern, ja vorzuführen.

Aus der Warmzeit im 12. Jahrhundert lernen

Da Kapitulation nicht zu meinem Verhaltensrepertoire gehört, überlistete ich meinen Leistungskurs Politik damit, dass ich für die nächste Klausur das Thema ansetzte: „Kritische Auseinandersetzung mit den gängigen Theorien zum Klimawandel“. In Arbeitsgruppen sollten sich die Schüler auf die Klausur vorbereiten. Die Aktivisten wussten, dass es unter Prüfungsbedingungen nicht mehr ausreicht, die Floskeln wiederzugeben, die sie bei ihren Aktionen in die Mikrofone der Fernsehsender sprechen. Jetzt war wissenschaftliche Expertise gefragt. In der Klausur sollten sich die Schüler anhand eines Auszugs aus einem wissenschaftlichen Text mit der sogenannten Warmzeit in Europa zwischen 950 und 1250 auseinandersetzen, die auch als „mittelalterliche Klimaanomalie“ bekannt ist. Im Hochmittelalter herrschte in den nördlichen Breiten eine Warmperiode, die sogar den Küstenstädten Hamburg und Bremen Weinanbau bescherte. Die folgenden Jahrhunderte, so auch die Lutherzeit im 16. Jahrhundert, waren hingegen von Kälte geprägt, was zu Hungersnöten führte, weil die Landwirtschaft unter Regen- und Kälteperioden litt. Bis zum Beginn der europäischen Industrialisierung im 18. Jahrhundert konnte vom Einfluss des Menschen auf das Klima unseres Planeten noch keine Rede sein.

Der Reiz der Klausuraufgabe bestand darin, nachzuweisen, dass es unabhängig von den Klimafaktoren, die die gegenwärtige Klimaerwärmung bedingen (CO2-Emission, solare Aktivitäten), noch weitere Faktoren gibt, die sich menschlicher Einflussnahme entziehen: das Wechselspiel zwischen den ozeanischen und atmosphärischen Zirkulationssystemen. Die Aufgabe war anspruchsvoll und nötigte den Schülern eine hohe intellektuelle Leistung ab. Letztlich waren aber alle Schüler stolz, dass sie die kognitive Herausforderung gemeistert hatten – auch die aktivistisch gestimmten Geister.

Von dem Reformpädagogen Hartmut von Hentig stammt die bündige Definition gymnasialen Unterrichts: „Die Sachen klären, die Menschen stärken.“ Es bereichert die Persönlichkeit, wenn man es schafft, schwierige Sachverhalte geistig zu durchdringen. Meine Schüler haben gelernt, dass es im seriösen Diskurs über Klimafragen nicht genügt, die gestanzten Floskeln der einschlägigen aktivistischen Gruppen wiederzugeben. Der Unterricht hat sie auch gegen die apokalyptischen Prophezeiungen immunisiert, derer sich junge Menschen gerne bedienen, um die Dringlichkeit des Handelns zu verdeutlichen. Auf die Wissenschaft können sich solche Übertreibungen nicht berufen. In den Berichten des Weltklimarats IPCC, der nun wirklich zu dringlichem Handeln rät, kommt das Wort „Klimakatastrophe“ nicht ein einziges Mal vor.

Enteignung von Wohnungskonzernen alternativlos?

Wenn man in Berlin unterrichtet, kann es nicht ausbleiben, dass sich die in der Hauptstadt grassierenden Protestformen auch im Unterricht bemerkbar machen. So hielt beim Thema „Sozialpolitik“ ein Schüler ein Referat über „Fortschrittliche Wohnungspolitik in der Metropole“. Schon nach wenigen Sätzen war mir klar, dass er die Meinung der Bürgerinitiative „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ vertritt, die bei einem Volksentscheid, der zeitgleich mit den letzten Bundestagswahlen 2021 stattfand, unter den Berlinern eine Mehrheit von 59,1 Prozent erzielt hatte. Der rot-grün-rote Senat hat eine Kommission damit beauftragt, herauszufinden, wie sich Volkes Meinung in ein Gesetz verwandeln lässt. Gerade weil das Referat sehr einseitig angelegt war, ließ sich im Kurs trefflich darüber streiten. Eine Schülerin zitierte das Grundgesetz, das für Enteignungen eine Entschädigung vorsieht. Diese könne bei dem großen Wohnungsbestand, um den es geht, schon mal 30 Milliarden Euro betragen. Sie rechnete vor, dass man für diese Summe 80.000 Wohnungen neu bauen könnte, während die Enteignung keinerlei neuen Wohnraum schaffe.

Einig war sich der Kurs in der Auffassung, dass Wohnen keine normale Ware sei, weil es genauso wie Wasser, Strom, Heizung und öffentlicher Verkehr zur unverzichtbaren Daseinsvorsorge gehört. Am Beispiel Wohnen ließ sich sehr gut zeigen, dass es vermeintlich einfache Lösungen für soziale Probleme nicht gibt. Auch ein Blick in die Geschichte war hilfreich. Die sozialistischen Staaten, die aus ideologischen Gründen alle Wohnungen verstaatlichten, erzeugten Wohnungsknappheit, weil die gedeckelten Mieten nicht genügend Kapital erwirtschafteten, um die Wohnungen baulich instand zu halten. Wäre 1989 in der DDR die Wende nicht gekommen, wären die Altstädte von Schwerin, Stralsund, Rostock und Greifswald nicht zu retten gewesen. 60 Jahre Mitpreisbremse in Kuba hat in der Hauptstadt Havanna zwei Drittel des Altbaubestandes verfallen lassen. Selbst sozialistisch gesonnene Schüler mussten eingestehen, dass es ohne eine vernünftige Rendite für die kommunalen oder privaten Wohnungseigentümer keine dauerhafte Sicherung der Wohnqualität geben kann.

 

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Verblüffung erntete eine Schülerin, die noch während des Unterrichts die Wohneigentumsquote europäischer Länder gegoogelt hatte. Demnach besitzen nur 50,4 Prozent der Deutschen ein Eigenheim oder eine Eigentumswohnung, während diese Quote in Spanien 75,1 Prozent und in Ungarn 91,1 Prozent beträgt (Zahlen von 2020). Ein aufgeweckter Schüler stellte die Vermutung an, dass in Deutschland eine höhere Eigentumsquote vielleicht gar nicht erwünscht sei, weil dann eine publikumswirksame „Politik für Mieter“ nicht mehr möglich wäre. Dieses Unterrichtsbeispiel zeigt, dass auch im Bereich der Sozialpolitik die vermeintlich einfachen, menschlich plausiblen Lösungen nicht existieren, weil die Sachverhalte komplex und widersprüchlich sind. Schüler müssen lernen, komplizierte Gegenstände geistig zu durchdringen, um Lösungen zu finden, die jenseits populistischer Schnellschüsse tragfähig und nachhaltig sind. Nur so können sie die Kompetenzen erwerben, die sie später für Führungspositionen prädestinieren.

Bismarck canceln?

Im Fach Geschichte stand die Gründung des Deutschen Reichs (1870/71) auf dem Lehrplan. Im Leistungskurs diskutierten wir über das außenpolitische Bündnissystem, mit dem Reichskanzler Otto von Bismarck das neue geschaffene Reich absicherte. Auch die Sozialistengesetze und die Sozialreformen kamen zur Sprache. Von Anfang an polemisierten einige Schüler gegen den „Eisernen Kanzler“. Dabei sparten sie nicht mit Invektiven: Er sei ein Rassist und Imperialist, weil er die Kolonialpolitik des Deutschen Reiches forciert habe. Eine Schülerin schlug vor, ihn im Unterricht zu canceln und stattdessen die Geschichte der von Deutschland unterjochten afrikanischen Völker zu besprechen. Nur durch diese radikale Perspektivumkehr werde den Menschen, die großes Leid erlitten hätten, Respekt und Würde zuteil. Die Schülerin zitierte aus der Stellungnahme der „Initiative Decolonize Hamburg“, in der der Abbruch des dortigen Bismarck-Denkmals gefordert wird.

Canceln unliebsamer Stoffinhalte oder historischer Persönlichkeiten ist im Unterricht keine sinnvolle Option. Deshalb ließ ich die Schüler Bismarcks Einstellung zur Kolonialpolitik des Reichs anhand von Quellen erkunden. Und siehe da: Ursprünglich sprach sich Bismarck gegen kolonialen Erwerb aus, weil dadurch die Kräfte zur Festigung des neu gegründeten Reichs zersplittert würden. An einen Kolonialverfechter schrieb er: „Ihre Karte von Afrika ist ja sehr schön, aber meine Karte von Afrika liegt in Europa. Frankreich liegt links, Russland liegt rechts, in der Mitte liegen wir. Das ist meine Karte von Afrika.“ Bismarck gab schließlich dem Drängen imperialistisch gesinnter Kreise nach. Vermutlich haben Handelsinteressen, die bevorstehende Reichstagswahl und eine Sicherung des globalen Mächtegleichgewichts seinen Sinneswandel bewirkt. Ausschließen kann man, dass er zu den kolonialistischen Berserkern gehörte, die buchstäblich über Leichen gingen.

Ein guter Geschichtsunterricht verdeutlicht den Schülern, dass es wissenschaftlich unzulässig ist, eine historische Persönlichkeit ausschließlich vom Standpunkt der Gegenwart aus zu beurteilen. Nur der historische Kontext, in dem sie gewirkt hat, kann uns Nachgeborenen Aufschluss darüber geben, welche Motive die historische Figur zu ihrer Politik veranlassten. Diese Kontextualisierung ist unerlässlich und muss im Geschichtsunterricht unbedingt verteidigt werden. Es müsste eigentlich selbstverständlich sein, dass man an Personen, die in einer Monarchie gewirkt haben, nicht die Elle unserer heutigen Demokratie anlegen darf. Wer es dennoch tut, gibt damit zu erkennen, dass er an einem historisch getreuen Bild der Persönlichkeit nicht interessiert ist.

Sprachpolitik in der Schule

In Berlin hat die Schulverwaltung in einer Verordnung festgelegt, dass Lehrerinnen und Schülerinnen nicht länger durch das generische Maskulinum (die Lehrer, die Schüler) gekennzeichnet werden sollen, sondern durch den Genderstern: Lehrer*innen, Schüler*innen.  An Schulen, die seit 100 Jahren nur männliche Hausmeister hatten, heißt es jetzt „Hausmeister*innen“. Nicht alle Schüler und Lehrer wollen sich mit dieser moderaten Gendermaßnahme begnügen, weshalb sie in ihren Texten konsequent gendern. Das führt zu einer babylonischen Sprachverwirrung. Die einen tun es, die anderen lassen es. In Klassenarbeiten und Klausuren gelten dann wieder die Normen der deutschen Hochsprache, die bei Gattungsbegriffen am generischen Maskulinum festhalten.

Als Deutschlehrer fühlte ich mich verpflichtet, den Schülern zu zeigen, dass die Gendersprache zu Ungereimtheiten führt, die dazu angetan sind, den Sinn von Texten zu verfälschen. So schrieb der Allgemeine Deutsche Fahrradclub in einer Pressemitteilung: „Die Zahl der toten Radfahrenden im Jahr 2021 betrug 27 Menschen.“ Die Schüler waren amüsiert: Der Radfahrer-Club kann anscheinend Tote zum Leben erwecken. Dass der Gattungsbegriff nicht mit dem Partizip Präsens identisch ist, versteht jeder Achtklässler. Ein Student bleibt auch dann ein Student, wenn er seine Bücher zur Seite gelegt hat und sich mit Kommilitonen in der Kneipe vergnügt. Ein Studierender kann er dann aber nicht sein, es sei denn er studierte die Speisekarte.

Moralisch bedenklich wird die Sprachregelung beim Begriff „Geflüchtete“. Denn dieses Wort hat eine andere Bedeutung als das Wort „Flüchtling“. Das Partizip Perfekt „geflüchtet“ verwendet man im Deutschen, um eine situativ bedingte, temporäre Ortsveränderung zu bezeichnen. Ein junges Mädchen kann also seiner Mutter erzählen: „In der Disco war es so heiß, dass ich schon nach einer Stunde ins Freie geflüchtet bin.“ Damit ist sie eine Geflüchtete, aber kein Flüchtling. Ein Flüchtling ist ein Mensch, der durch Krieg, Verfolgung, Hunger, Naturkatastrophen oder Epidemien gezwungen ist, seine Heimat dauerhaft zu verlassen. Der existentielle Zwang und die oft lebenslange Vertreibung aus der Heimat fehlen bei den „Geflüchteten“ völlig. Die feministische Sprachreinigung beim Wort Flüchtling ist ein schönes Beispiel dafür, dass eine gute Absicht mitunter das genaue Gegenteil bewirkt: Die Vokabel „Geflüchtete“ führt zu einer Verharmlosung und Banalisierung eines Tatbestandes, der für die betroffenen Menschen so schrecklich ist, dass sich eine Verniedlichung verbietet. Kein vernünftiger und human denkender Mensch würde bei den Juden, die vor dem Holocaust aus Deutschland geflohen sind, von „Geflüchteten“ sprechen. Und wenn er es täte, würde er sich aus dem seriösen Diskurs verabschieden.

Die Diskussion mit den feministisch geprägten Schülerinnen in meinem Deutschkurs verlief heftig. Sie warfen mir störrisches Festhalten an veralteten Sprachmustern vor, die die Frauen diskriminierten. Zum Nachdenken konnte ich sie immerhin veranlassen, als ich ihnen erzählte, dass der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) das Gendern ablehnt, weil es den Umgang sehbehinderter Menschen mit unserer Sprache erschwert. Ähnlich sehen es auch Sprachlehrer des Goethe-Instituts, deren Sprachunterricht für Menschen mit Migrationsgeschichte durch das Gendern komplizierter wird. Ich las ihnen den Leserbrief einer Grundschullehrerin vor, in dem es heißt: „Wurde Gender erfunden, um Kinder mit Lern- und Sprachschwächen zusätzlich zu deprimieren und sie auszusortieren?“  Daran wollten sich meine feministischen Schülerinnen dann doch nicht beteiligen. Sich mit unterschiedlichen Perspektiven vertraut zu machen, kann vor ideologischen Fixierungen schützen.

Moralische Etikettierung macht Schule

Es ist unter Medienwissenschaftlern unbestritten, dass die digitalen Sozialen Medien die Streitkultur in unserer Gesellschaft nachhaltig verändert haben – nicht immer zum Guten. Dem positiven Faktum, dass jede Privatperson zum Sender von Botschaften werden kann, steht die negative Begleiterscheinung gegenüber, dass die Posts auch eine destruktive Wirkung entfalten können, wenn sie als unliebsam empfundene Menschen an den Pranger stellen und verunglimpfen. Der Zwang, schnell auf Nachrichten antworten zu müssen, verführt zu hektisch geposteten Beleidigungen und Herabwürdigungen. Mir ist nicht verborgen geblieben, dass diese Art der Kommunikation auch Eingang in die Diskussionskultur unserer Schulen gefunden hat. Anstatt die Meinungen eines Mitschülers mit Hilfe von Argumenten zu entkräften, wird gerne zum Mittel der Etikettierung gegriffen: „Wenn du so etwas behauptest, bist du ein Klimaleugner!“ oder „Nur für Rassisten sind Geflüchtete illegal!“ In meinem Unterricht habe ich eine Brandmauer gegen die Unsitte der moralischen Etikettierung errichtet, indem ich die Kontrahenten zwang, ihren Streit mit Hilfe von Argumenten auszutragen. Wenn dies nicht alle Lehrkräfte tun, führt das über kurz oder lang dazu, dass lautstarke Minderheiten den Diskurs im Unterricht bestimmen, indem sie die nachdenklichen Schüler mit etikettierenden Verdächtigungen einschüchtern.

Den wissenschaftlich geprägten Gymnasialunterricht verteidigen

1972 beschloss die Kultusministerkonferenz, dass in der gymnasialen Bildung neben einer vertieften Allgemeinbildung vor allem eine wissenschaftspropädeutische Bildung vermittelt werden solle. Darunter verstanden die Verfasser der Denkschrift wissenschaftliche Arbeitsmethoden, Methodenbewusstsein und eine wissenschaftliche Grundhaltung. Eine solche besteht darin, dass man den fremden Gegenständen fragend-neugierig gegenübertritt, dass man nach Kausalitäten und Zusammenhängen sucht, dass man die Befunde kritisch hinterfragt und dass man die Offenheit wissenschaftlicher Erkenntnis anerkennt.

Das Konzept des wissenschaftspropädeutischen Gymnasialunterrichts wurde von der KMK nie zurückgenommen. Neuerdings ist es dadurch gefährdet, dass es an der Schule zunehmend Kräfte gibt, die das klassische wissenschaftliche Verfahren von Erkenntnis, Überprüfung, neuer Erkenntnis für nicht mehr zielführend halten. Angesichts der krisenhaften Zuspitzung in der Welt seit Anbruch des neuen Jahrtausends (islamistischer Terror, Finanz-, Euro-, Flüchtlingskrise, Corona-Pandemie, Russlands Imperialismus) hat die Sehnsucht nach einfachen und schnellen Lösungen zugenommen. Wissenschaft gerät dadurch unter Druck, sodass sie ihr ureigenes Verfahren von Verifikation und Falsifikation nicht mehr frei von politischen Interventionen praktizieren kann. Der gymnasiale Unterricht kann seinen wissenschaftlichen Anspruch nur bewahren, wenn er sich vor aktivistischer Einflussnahme schützt.

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