Ulrike Guérot nach Jury-Ausladung durch NDR - „Wer mit Schmutz wirft, hat selbst ein Problem“

Mitte September verkündete der NDR noch stolz, die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot werde in diesem Jahr der Jury des renommierten NDR-Sachbuchpreises angehören. Nur einen Tag später zog er ihre Nominierung wieder zurück. Im Interview spricht die Betroffene über ihre Perspektive auf die Ausladung und Kritiker, die sich nicht in eine sachliche Diskussion trauen.

Ulrike Guérot eckt mit ihren Positionen häufiger an: Hier bei einer Podiumsdiskussion / dpa
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Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot ist Professorin für Europapolitik und Co-Direktorin des Centre Ernst Robert Curtius an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehört die Zukunft des europäischen Integrations­prozesses. In öffentlichen Debatten über Corona und den Ukraine-Krieg eckt sie regelmäßig an.

Am 14. September 2022 verkündete der NDR dennoch stolz, die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot werde in diesem Jahr der Jury des renommierten NDR-Sachbuchpreises angehören. Nur einen Tag später zog er ihre Nominierung – offenbar nach Protesten – wieder zurück. Guérot habe sich „mit öffentlichen Äußerungen von den Werten der wissenschaftlichen Gemeinschaft und des NDR Sachbuchpreises deutlich entfernt“. Daher könne sie in der Jury nicht mitarbeiten. 

Frau Guérot, wie kam es eigentlich zu Ihrer Nominierung für die Jury des Sachbuchpreises des NDR?

Ich habe mich nicht darum beworben, sondern wurde vom NDR im Namen der Programmdirektorin Katja Marx um Mitwirkung gebeten. Das war im Juli 2022. Ich habe mich darüber gefreut und zugesagt. Obwohl ich wahrlich nicht an Langeweile leide.

Wurde im Laufe der Zeit deutlich, dass es Probleme geben könnte?

Also, davon kann wirklich nicht die Rede sein. Nach meiner Zusage habe ich vom NDR eher überschwängliche Reaktionen erhalten. Zur kurzfristigen Ausladung gab es dann aber nicht einmal ein Gespräch. Keine Erklärung, keine Diskussion, rein gar nichts. Eine Mitarbeiterin hat mir schlicht per Email mitgeteilt, dass auf meine Mitarbeit verzichtet werde. Die veröffentlichte Begründung lautete: Ich hätte mich „von den Werten der wissenschaftlichen Gemeinschaft“ entfernt.

Aber Ihr Kollege Markus Linden hat gegen Sie in der FAZ Plagiatsvorwürfe erhoben und Patrick Bahners Ihren Jury-Ausschluss jüngst damit verteidigt, dass Sie offenbar Probleme mit „Wahrheit und Wahrhaftigkeit“ hätten. Das könnte das Verhalten doch erklären.

Diese Begründung wurde doch aber erst Tage später nachgeschoben. Die Plagiatsvorwürfe sind bisher zudem nur Vorwürfe in Zeitungen, die noch von keiner unabhängigen Kommission erhärtet wurden. Auch für mich gilt: Im Zweifel für den Angeklagten. Diese Vorwürfe wiederum waren zum Zeitpunkt der NDR-Anfrage bereits bekannt. Wenn das jetzt der Grund sein soll, warum hat der NDR mich dann überhaupt in die Jury eingeladen? Hatte er das nicht recherchiert oder war es ein Versehen? 


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Deshalb glaube ich daran nicht. Ich vermute eher, dass nach Veröffentlichung der Namen der Jury-Mitglieder Druck auf den NDR ausgeübt wurde, entweder von Interessengruppen oder anderen Jury-Mitgliedern. Und der NDR hat sich diesem Druck schlicht gebeugt. Das ist übrigens eine interessante Pointe: Wenn ausgerechnet der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht mehr seine Unabhängigkeit verteidigt, in welchem Zustand befindet sich dann eigentlich die vierte Gewalt?

Aber zum „Plagiatsvorwurf“: Ich bestreite gar nicht, dass ich in einem nicht-wissenschaftlichen Buch vor immerhin sechs Jahren an manchen Stellen nicht gründlich genug gearbeitet habe. Aber ich habe stets meine Quellen angegeben, nur nicht jede übernommene Stelle präzise als Zitat gekennzeichnet. Nachdem ich die Fehler bemerkt habe, habe ich mich bei den hauptsächlich betroffenen Autoren persönlich entschuldigt, und zwar schon im Jahr 2016. Soviel zum Thema „Wahrhaftigkeit“. In meinem letzten Buch mussten nur vier Anführungsstriche ergänzt werden. Rechtfertigt das alles eine Verleumdungskampagne? Wer ohne Fehler ist, der werfe den ersten Stein.

Stehen Sie denn mit Ihren akademischen Kritikern im Austausch über die Angelegenheit?

Das kann man so nicht sagen. Ich habe etwa zehn Mails an Markus Linden, Patrick Bahners und auch Armin Nassehi, meinen ärgsten Kritiker, geschrieben. Meine Frage war ungefähr: Wollen wir die ganzen Vorwürfe nicht einmal diskutieren? Aus den Antworten zu zitieren, wäre jetzt nicht statthaft. Daher nur so viel: Einer hat mit der Begründung abgelehnt, er wolle mich nicht auch noch durch ein Gespräch „nobilitieren“.

Das finde ich aus zwei Gründen bemerkenswert. Erstens war es das Eingeständnis, dass es gar nicht um die Sache geht, sondern um Deutungshoheit und öffentliche Stigmatisierung. Und zweitens: Wer nimmt eigentlich für sich in Anspruch, jemand anderen zu „nobilitieren“? Es fehlen also offenbar die Argumente. Insofern kann ich nur lakonisch sagen: Wer mit Schmutz wirft, hat selbst ein Problem. Aber ich glaube am Ende an eine ausgleichende Gerechtigkeit …

In Ihrem durchaus erfolgreichen Corona-Buch sprechen Sie von einer „simulativen Demokratie“, in der wir angeblich lebten. Sie warnen sogar vor einem „schleichenden Totalitarismus auf Samtpfoten“. Haben Sie es sich nicht auch selbst zuzurechnen, dass einige auf Distanz zu Ihnen gehen? Das ist immerhin starker Tobak. Ihnen wird vorgeworfen, ins „verschwörungstheoretische Lager“ abzudriften.

Sehen Sie, ein Sachbuch ist keine akademische Abhandlung. Es soll in verständlichen Worten zum Nachdenken und zur Diskussion anregen. Zu all dem gehören auch eine anschauliche Sprache und die Zuspitzung. Ich möchte ja nicht, dass meine Leser bei der Lektüre einschlafen. Ich gebe Ihnen einfach ein Beispiel für das, was ich meine.

Wir leben in einer Demokratie – oder wollen das zumindest. Der Kern der Demokratie ist die politische Selbstbestimmung der Bürger. Damit das möglich ist, braucht es logischerweise echte Meinungsfreiheit und Diskursbereitschaft. Das ist absolut fundamental. Und jetzt passiert Folgendes: Seit ein paar Jahren gibt es private, durch Stiftungen oder sogar öffentlich-rechtlich finanzierte „Faktenchecker“. Sie sollen „Verschwörungstheorien“ und „Fake News“ allgemeingültig entlarven, beanspruchen also de facto für sich, die eine Wahrheit gepachtet zu haben. Ich kann über diese Naivität nur lachen. Es ist so, als hätte es die Aufklärung und kritisches Denken nicht gegeben. Schon Sokrates hat immer gefragt: Ist das denn alles so?

Seit wann sind denn Fakten anti-aufklärerisch?

Weil Fakten stets auch von verschiedenen Seiten beleuchtet werden können und müssen. Wer sucht welche „Fakten“ aus, wer stellt welche Zahlen zusammen – und lässt andere aus? Fakten müssen immer interpretiert werden. Dabei spielen zum Beispiel auch Sinne oder die Intuition eine Rolle. Und genau da beginnt das Problem. Je nachdem, welche Vorlieben, Gefühle, Kenntnisse, Vorurteile oder Weltanschauungen der Interpret mitbringt, entstehen ganz unterschiedliche Deutungen der „Fakten“. Es gibt immer eine Subjekt-Objekt-Beziehung. Wenn die ARD jetzt zum Beispiel mit ihrem „Faktenfinder“ beansprucht, echte von falschen Fakten unterscheiden zu können – und zwar letztgültig –, setzt sie sich erkenntnistheoretisch an die Stelle einer höheren Instanz. Das ist voraufklärerisch und eigentlich auch undemokratisch.

Es bleibt dann aber ein Problem. Wenn man zwischen wahr und falsch nicht so richtig unterscheiden kann: Was ist dann eigentlich noch der Unterschied zwischen Meinen und Wissen, zwischen Alltagsverstand und Wissenschaft? Und was bedeutet das für die Demokratie?

Fakten sind keine Naturgesetze. Fakt ist das, worauf man sich – zumindest temporär – als Gesellschaft einigen kann. Genau darüber wird in einer Demokratie gestritten. Wir sehen es an der Klimadebatte. Fakten können in einer Demokratie nicht verordnet werden. Sogar bei Naturgesetzen gehört das Umfeld immer zur Wahrnehmung: Jeder Stein fällt auf der Erde mit 9,81 Newton je Kilogramm zu Boden, auf dem Mond sieht das schon etwas anders aus.

Man könnte die Angelegenheit doch aber auch so sehen, dass die „Faktenfinder“ ein weiterer Diskursbeitrag zu einer kritischen Öffentlichkeit sind, ein weiteres Angebot zum Nachdenken.

Als Diskursbeitrag wäre das wünschenswert, aber die „Faktenchecker“ sind ja apodiktisch und behaupten endgültige Wahrheiten. Es gibt aber noch andere Aspekte, die bis hinein in staatliches Handeln reichen. Der Verfassungsschutz zum Beispiel verfolgt jetzt nicht mehr nur Extremisten. Im Rahmen der Corona-Krise hat er den Phänomenbereich „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ geschaffen. Er geht damit unter anderem gegen Bürger vor, die „gewählte Repräsentanten des Staates verächtlich machen“ oder „staatlichen Institutionen und ihren Vertretern die Legitimität absprechen“. Ausdrücklich beruft sich der Verfassungsschutz dabei darauf, dass diese Leute angeblich offizielle „Fakten“ ignorieren und dass das der Grund sei, sie zu überwachen. Hier wird eigentlich versucht, das Denken zu überwachen. 

Mit anderen Worten laufen wir auf einen Zustand zu, in dem derjenige als Staatsfeind gelten kann, der die Regierung aufgrund einer anderen Bewertung von Fakten kritisiert. Denn wer entscheidet aufgrund welcher Moral oder Gewissheit, wie Leute „Fakten“ zu interpretieren haben? Das ist alles völlig abstrus! In einer funktionierenden Demokratie ist es umgekehrt nicht nur das Recht, sondern eigentlich auch die Pflicht der Bürger, ihre Meinung zu sagen und Regierungshandeln durch Kritik zu kontrollieren. Eine Regierung hat ihre Macht nur als Treuhänder von den Wählern erhalten. Demokratie lebt von Meinungsfreiheit und Diskurs. Sonst gibt es keine Demokratie.

Aber würden Sie denn auch so weit gehen, zu sagen, dass eine Minderheit mit Hilfe des Staates an der „Unterdrückung“ der Mehrheit arbeitet?

Das habe ich nicht gesagt und das würde ich auch nicht sagen. Eher ist es ja so, dass eine Mehrheitsmeinung verabsolutiert und gegen eine Minderheitsmeinung durchgesetzt werden soll, ohne Minderheitenschutz im Übrigen. Es ist zum Beispiel mit Blick auf Corona so, dass noch immer eine Mehrheit der Menschen Maßnahmen unterstützt, die ich – und viele andere – als freiheitswidrig empfinden. Wir erleben dabei eine Entkernung des Rechtsstaates und zwar mit Billigung des obersten Verfassungsgerichtes.

Es handelt sich also um eine Verformung einer ehemals funktionierenden Demokratie. Dafür gibt es zwar eine formale Mehrheit, aber diese Mehrheit billigt Maßnahmen, die auf eine Verletzung der persönlichen Integrität zulaufen und damit den Rechtsbestand des Grundgesetzes aushebeln. Und das hat Folgen. Wissenschaftliche Studien belegen, dass etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung das Vertrauen in staatliche Institutionen verloren hat – und es werden mehr. Ich mache mir daher große Sorgen um die Zukunft der Demokratie. Ohne Rückhalt in der Bevölkerung lässt sie sich auf Dauer jedenfalls nicht sichern.

Wegen der Ablehnung der Corona-Maßnahmen und Ihrer Kritik an den Waffenlieferungen an die Ukraine stehen Sie seit einiger Zeit massiv in der Kritik. Dann kamen die Plagiatsvorwürfe hinzu und nun der Ausschluss aus der Jury des NDR-Sachbuchpreises. Was macht das alles mit Ihnen? Fühlen Sie sich in der akademischen Gemeinschaft zunehmend isoliert?

Im Gegenteil, es gibt ganz viele unterstützende Interventionen zahlreicher Kollegen, jetzt auch gegenüber dem NDR. Und auch über mangelnden Rückhalt bei vielen Menschen kann ich mich nicht beklagen. Insofern erlebe ich die sehr unterschiedlichen Wahrnehmungswelten unserer Gegenwartsgesellschaft am eigenen Leib.

Aber es ist schon so: Das Ganze macht sehr müde und es nervt. Wenn man eigentlich sowieso schon genug zu tun hat mit der akademischen Lehre, Vorträgen und dem Schreiben von Texten, kann man sich auch Besseres vorstellen, als ständig gegen öffentliche Anfeindungen zu kämpfen. Unsere Gesellschaft hat einfach erheblich an Diskursfähigkeit verloren – und das reicht bis weit hinein in die akademische Welt. 

Aber ich komme am Ende damit klar. Auch wenn ich für einige damit gleich wieder in die Ecke der „Schwurbler“ gehöre: Zur Entspannung treibe ich Yoga und tröste mich mit einer Yogi-Weisheit über die Zeit: Die Lotusblüte wächst im Schlamm.

Das Gespräch führte Mathias Brodkorb. 

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