Transgender-Streit im Springer-Verlag - Döpfners journalistische Bankrotterklärung

Ein Gastbeitrag mehrerer Wissenschaftler für die im Axel-Springer-Verlag erscheinende Tageszeitung „Die Welt“ hat zu einer Eskalation geführt. Die Autoren des Beitrags setzten sich kritisch mit dem Phänomen der Transidentität auseinander – und lösten damit erwartungsgemäß Empörung in der Trans-Community aus. Doch Springer-Chef Mathias Döpfner stellte sich daraufhin nicht hinter die Autoren, sondern kroch zu Kreuze und kritisierte die eigene Redaktion. Jetzt hat eine Springer-Journalistin gekündigt, in einem offenen Brief rechnet sie zudem mit Döpfner ab.

Mathias Döpfner, Chef des Axel-Springer-Verlags / dpa
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Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Was sich in diesem Monat in der Tageszeitung Welt abspielt, einem einstigen Flaggschiff der konservativen Publizistik, wird rückblickend, so pessimistisch darf man sein, wahrscheinlich nicht nur als „Zeitenwende“, sondern „Kipppunkt“ der deutschen Öffentlichkeit in Erinnerung bleiben. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn an diesem seidenen Faden letztlich nicht die Funktionsfähigkeit der Demokratie hinge.

Begonnen hat alles mit einem Gastbeitrag verschiedener Wissenschaftler rund um den Psychiater Alexander Korte, der seit Jahren vor den negativen Folgen leichtfertiger Geschlechtsumwandlungen insbesondere bei Kindern und Jugendlichen warnt. Der Beitrag basiert dabei auf einem Aufruf, den mittlerweile hundert namhafte Wissenschaftler unterschrieben haben.

Im Kern werfen die Autoren dem Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk anhand eines 50-seitigen Dossiers vor, über das Phänomen der Transidentität vor allem in Kindersendungen entgegen wissenschaftlicher Fakten und einseitig zu berichten. Auch dadurch habe „sich die Zahl der wegen Geschlechtsdysphorie behandelten Kinder und Jugendlichen in weniger als zehn Jahren verfünfundzwanzigfacht“. Auf den Punkt gebracht: ARD und ZDF würden in ihren Kinderprogrammen Falsches und Verniedlichendes über Transidentität verbreiten und de facto die Kinder zu Transsexuellen umerziehen.

Nur zwei Tage nach Veröffentlichung dieses Gastbeitrages sah sich die Welt offenbar mit derart vielen kritischen Einwänden konfrontiert, dass der Vorstandsvorsitzende des Axel Springer-Verlages, Mathias Döpfner, höchst persönlich zur Feder griff. Und was er zu Papier brachte, muss man wohl als journalistischen Rückgratbruch in höchster Vollendung bezeichnen. Die Welt jedenfalls wird sich davon nicht so schnell wieder erholen. Vielleicht niemals mehr.

„Unterirdisch“ und „schlimm“

Der Beitrag sei „unterirdisch“ und „schlimm“ gewesen, „oberflächlich, herablassend und ressentimentgeladen“ und würde behaupten, dass es „nur zwei Geschlechtsidentitäten gibt“. Kurzum: „Für alle, die sich der LGBTIAQ*-Community zugehörig fühlen, ist er eine Verletzung und Zumutung.“ Im Rest des Beitrags, der sich sichtlich bemüht, ohne eigene Argumente auszukommen, lobt Döpfner dann den Springer-Konzern für dessen vielfältige transsensible Maßnahmen wie „Safezones und All-Gender-Toiletten“. Und er versichert ein ums andere Mal: Ja, ja, er ganz persönlich stehe für diese bunte und schrille Vielfalt. Döpfner als Transbeauftragter des Springer-Konzerns sozusagen.

Das Bemerkenswerte an diesem Vorgang ist dreierlei: Erstens sendet Döpfner damit Signale an aktivistische pressure-groups aus, die er nicht mehr einfangen kann. Zumindest in Sachen Transidentität wird die community künftig bei Springer ein schönes Wort mitzureden haben. Und dabei wird es nicht bleiben. Zweitens ist die Redaktion einer großen deutschen Tageszeitung selten so öffentlich erzogen und vorgeführt worden. Denn natürlich bleibt das gewichtige Wort eines Vorstandsvorsitzenden nicht ohne Folgen.

Bild-Redakteurin kündigt: "Hat mich schockiert"

Die Springer-Erfolgsautorin Judith Basad hat dafür ein feines Näschen und kann aus jüngster Vergangenheit auch selbst ein Beispiel zur schwindenden journalistischen Unabhängigkeit im Springer-Konzern beisteuern. Als sie Anfang Juni ebenfalls über den Beitrag der Wissenschaftler in der Bild berichten wollte, sollte sie ihn auftragsgemäß kritisieren, „ansonsten würde der Artikel nicht erscheinen“. Als dann Döpfner wenig später an die Öffentlichkeit ging und sich für den Konzern auf die Seite der Transcommunity schlug, reifte in Basad eine Entscheidung: Sie hat an diesem Donnerstag ihre Kündigung bei Bild eingereicht.

Und der eigentliche Grund für Basads Kündigung heißt: Döpfner. Direkt an ihn gerichtet bringt sie ihre Fassungslosigkeit wie folgt zum Ausdruck: „Es hat mich schockiert, dass der Koloss Axel Springer, der regelmäßig gegen die übelsten Diktatoren der Welt schießt, sich plötzlich von der inhaltslosen Propaganda einer woken Minderheit in die Knie zwingen lässt und dabei auch noch die eigenen Journalisten als Menschenfeinde verhöhnt, die bei diesem bizarren Schauspiel nicht mitmachen wollen.“ Das Fass zum Überlaufen scheint aber eine unternehmensinterne Beratung mit Döpfner zu seinem Text gebracht zu haben. Er verteidigte dort seine öffentliche Intervention unter anderem mit dem Hinweis, dass eine Redaktion die moralische Pflicht habe, nicht allem möglichen Unsinn eine Plattform zu bieten, Holocaustleugnern zum Beispiel.

Grotesk und geschmacklos

Für Basad war diese Bemerkung wohl der Schlussstein unter ihrem Entschluss, sich von Springer zu trennen. Döpfner verglich damit ja nicht nur die fünf Wissenschaftler mit Holocaustleugnern, sondern auch Basad selbst. Die beiden Schlusssätze ihrer Kündigung geben dem Springer-Boss vielleicht ein paar Anregungen zum gründlichen Nachdenken: „Wer (…) solche Vergleiche zu Holocaustleugnern zieht, ist nicht weit davon entfernt, den Holocaust selbst zu relativieren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das tatsächliche Ihre Interpretation einer vielfältigen und freiheitlichen Firmenkultur sein soll.“ Und natürlich ist es eine Groteske und wahrscheinlich auch eine Geschmacklosigkeit, die Gastautoren der Welt in eine Reihe mit Adolf Eichmann und Josef Mengele zu stellen.

Und daher wird man drittens künftig auch an Döpfners intellektuellen und charakterlichen Qualitäten ein paar Zweifel anmelden dürfen. Denn seine Intervention basiert ja darauf, den ursprünglichen Gastbeitrag der Wissenschaftler gar nicht verstanden zu haben oder ihn bewusst miss zu verstehen. Döpfner unterstellt, sie würden leugnen, dass es mehr als „zwei Geschlechtsidentitäten“ geben kann. Und das ist natürlich seit dem Verfassungsgerichtsurteil zum dritten Geschlecht so ganz letztes Jahrhundert und geht deshalb gar nicht! 

Bewusstsein kontra Biologie

Das ist aber gar nicht der Kern der Debatte: Die Wissenschaftler behaupten lediglich, dass es biologisch gesehen nur zwei Geschlechter gibt und Trans- sowie Intersexualität deshalb „Erscheinungen innerhalb dieser Zweigeschlechtlichkeit“ seien, wie Mitautor Uwe Steinhoff  es ausdrückt.  Es wird also nicht Transidentität geleugnet, sondern dass dieser Bewusstseinszustand ein eigenes „Geschlecht“ im biologischen Sinne sei.

Während die Wissenschaftler daran festhalten, dass die biologischen Tatsachen und das Selbstempfinden eines Menschen (Identität) zwei verschiedene Dinge sind, die nicht in Übereinstimmung miteinander stehen müssen und genau deshalb Quelle von Problemen sein können, argumentieren weite Teile der Trans-Szene und ab sofort wohl auch der Axel-Springer-Konzern, dass die biologischen und damit wissenschaftlichen Tatsachen eine Folge des eigenen Befindens sind. 

Auch Mathias Döpfner ist demnach ein Mann nur dem Wunsche nach. Und wer das nicht akzeptiert, hat offenbar „unterirdische“ und „schlimme“ Gedanken. Wenn der gute alte Rudi Dutschke es hätte noch erleben dürfen, dass irgendwann ausgerechnet der Springer-Konzern nach der Pfeife der Queer- und Transszene tanzt! 

Büßer- und Ranwanzer-Haltung

Der neue Bild-Chefredakteur Johannes Boie reagierte sarkastisch auf Basads Rückzug: „Stimmt, Judith, wir sind jetzt links! Döpfner rief eben nochmal an und hat mir das befohlen.“ Allerdings hatte Basad nicht behauptet, Springer würde jetzt „links“ sein, sondern feige. Und das ist ja nicht dasselbe.

Man kann diese Büßer- und Ranwanzer-Haltung des Springer-Konzernes wahrscheinlich nur durch wirtschaftlichen Druck erklären, der sich subkutan im Hintergrund bemerkbar macht. Ein Hauch davon lugt aus Döpfners Text hervor, der eigentlich ein Brief an die Mitarbeiter der Welt gewesen ist. Mit Nachdruck macht er zum Beispiel darauf aufmerksam, dass die queere Jobmesse „Sticks & Stones“ das „Unternehmen Axel Springer von der diesjährigen Teilnahme ausgeschlossen“ habe. 18.000 Mitarbeiter würden letztlich in „Mithaftung“ genommen für einen einzigen externen Gastbeitrag. Nicht unwahrscheinlich, dass Döpfner außerdem Einbrüche bei den eigenen Werbeeinnahmen befürchtet und offenbar deshalb bereit ist, die Unabhängigkeit seiner Welt-Redaktion einflussreichen pressure-groups zu opfern.

Netzwerk Wissenschaftsfreiheit fordert Positionierung

Für den obersten Transbeauftragten der Republik jedenfalls, Sven Lehmann von den Grünen, schien Döpfners Reaktion Wasser auf die Mühlen. Auch er grub tief in seiner Waffenkiste nach allen ihm zur Verfügung stehenden ehrabschneidenden Instrumenten. Und fand sie: Der Text sei „infam“, ein homo- und transfeindliches „Pamphlet“ sowie Ausdruck „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“, vulgo: Rassismus. Und: Das alles sagte Lehmann ganz ausdrücklich als „Queer-Beauftragter der Bundesregierung“. Er klammerte sich dabei ebenfalls an dem Unfug fest, der Ausgangstext hätte die Existenz von Trans- und Intersexuellen bestritten. Und es ist dieses angebliche Unsichtbarmachen, das Lehmann aus seiner Sicht offenbar die Legitimation verleiht, angesehene deutsche Wissenschaftler moralisch ins Abseits zu stellen, ohne dass der Politikwissenschaftler Lehmann vermutlich über allzu viele Kenntnisse der Medizin oder Evolutionsbiologie von Weltrang verfügen dürfte.

Lehmanns Intervention ist deshalb so bemerkenswert, weil sie ausdrücklich im Namen des Staates erfolgte. Die im Grundgesetz verbürgte Wissenschaftsfreiheit hat aber eine doppelte Gestalt. Es ist nicht nur ein Abwehrrecht der Wissenschaftler gegen den Staat, sondern auch eine Durchsetzungspflicht des Staates gegenüber dem System der Wissenschaft. Vertreter der Bundesregierung haben die Wissenschaftsfreiheit also aktiv zu befördern und zu beschützen – und nicht zu attackieren.

Kein Wunder daher, dass Lehmanns Angriff das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ auf den Plan gerufen hat, in dem mittlerweile mehr als 650 Akademiker engagiert sind.  In einem offenen Brief fordern Sie Lehmann auf, sich dazu zu äußern, welches Verhältnis er als Vertreter des Staates eigentlich zur „Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit“ hat und ob er mit seinem Beitrag die Meinung der gesamten Bundesregierung wiedergebe.

Demokratie gerät ins Rutschen

Dass die Akademiker erwarten, dass sich Lehmann für seine Worte rechtfertigt, ist dabei nur allzu verständlich. Die Fälle Döpfner und Lehmann sind Zeigerpflanzen dafür, dass unsere repräsentative Demokratie ins Rutschen gerät.

Man kann ja schon aus gutem Grunde in Frage stellen, ob eine repräsentative Demokratie wirklich eine Demokratie ist. Aber wenn man schon nur sie hat, gibt es für ihr leidliches Funktionieren nur eine wirkliche Lebensversicherung: eine funktionierende Öffentlichkeit. Das hat damit zu tun, dass Repräsentation nichts anderes ist als das Auseinandertreten von Staat und Volk. Es entsteht eine Lücke zwischen oben und unten, die nur durch Verfahren der Legitimation geschlossen werden kann. Und dafür gibt es nur zwei: Wahlen und in den Jahren dazwischen politischen Rückhalt in der Öffentlichkeit.

Die Öffentlichkeit ist nichts anderes als das unverzichtbare Bindeglied zwischen Herrschenden und Beherrschten, und es sind die Medien, die als Statthalter des Souveräns einen kritischen, an Wahrheit orientierten Verständigungsraum namens „Öffentlichkeit“ schaffen und am Leben erhalten. Diese Statthalterfunktion kann aber nur ausgefüllt werden, wenn sich kritische Medien weder dem Publikum noch den Herrschenden andienen, sondern unter inhaltlich prüfendem Blick der Wissenschaft den Bürgern neutrale Informationsräume zu ihrer eigenständigen Meinungsbildung zur Verfügung stellen. Sie sind bestenfalls die Notare der bürgerschaftlichen Meinungsbildung.

Arbeiten Vertreter des Staates außerdem daran, die kritischen Stimmen der Wissenschaft aus dem öffentlichen Raum durch Verächtlichmachung zu entfernen, beschädigt das die Fundamente der demokratischen Repräsentation ebenso wie wenn sich Redaktionen inhaltlich den Wünschen digital organisierter pressure groups unterwerfen oder ihnen unterworfen werden. 

Mit dem digitalen Strukturwandel der Öffentlichkeit, wie er sich in den letzten drei Jahrzehnten vollzogen hat, ist die Öffentlichkeit dabei Schritt für Schritt von oben nach unten gewandert und liegt heute mehr in den Händen des Souveräns als jemals zuvor. Aber „Öffentlichkeit“ bedeutet nicht automatisch „aufgeklärte Öffentlichkeit“, und starke „pressure groups“ sind nicht unbedingt ein Mehr an Demokratie. Sie können auch tyrannische Züge annehmen. Die Unabhängigkeit der vierten Gewalt zu wahren ist daher nicht nur eine Form journalistischer Selbstachtung, sondern der Herzschrittmacher der Demokratie.

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