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Tradition - Bräuche braucht das Land

Kolumne: Stadt, Land, Flucht. In der Stadt werden sie als altbacken verpönt - auf dem Land als Kulturgut gefeiert: Hier gibt es Bräuche statt Hipsterbärte. Und selbst die Jugend ist begeistert vom Normalsein

Autoreninfo

Marie Amrhein ist freie Journalistin und lebt mit Töchtern und Mann in der Lüneburger Heide.

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„Jetzt ist erst mal Ruhe“, seufzte unser Lieblingsbauer jüngst beim Feierabendpils. Er schwieg und fügte dann hinzu: „Bis Faslam.“ Zu Faslam, der niedersächsischen Besonderheit unter den Faschingsfeiern im Norden, ziehen die Männer des Dorfes mit Gesang durch den Ort. An den geöffneten Haustüren rufen sie irgendetwas auf Plattdeutsch und verlangen Schnaps oder eine Spende. Die letzten Mannen sind hier Pfingsten vorbeigezogen. In einem Anhänger kamen etwa zehn Burschen vorgefahren, den Trecker steuerte der einzig Nüchterne der Truppe.

Seit zwei Jahren leben wir nun auf dem niedersächsischen Land und ich habe das Gefühl, hier klingelt ständig jemand an der Tür, verkündet plattdeutsches Kulturgut, von dem ich kein Wort verstehe, und verlangt nach Schnaps. Oder Süßigkeiten. Oder Geld. Zum Glück haben wir meistens von allem etwas im Haus.

Dass auf dem Land mehr Bräuche praktiziert werden, ahnte ich. Dass es so viele sind, nicht. Städtische Freunde sorgen sich oft, dass wir hier vereinsamen und kulturell verarmen. Dem ist nicht so: Da ist die Wahl der Heidekönigin, das exklusive Hähne-Wettkrähen, die Walpurgisnacht, das Feuerwehr- und das Schützenfest. Zu Pfingsten und am 1. Mai werden Birken an die Haushalte verteilt und beim vorweihnachtlichen lebendigen Adventskalender trifft sich die Dorfgemeinschaft allabendlich auf den verschiedenen Höfen in der Gegend. Zum Reden. Und Schnaps trinken.

Ich finde das nett. Aber in der Stadt, wo ich lange lebte, gelten traditionelle Bräuche als verpönt, altbacken, reaktionär. In der Shell Jugendstudie wurde nach den Werten gefragt, an denen sich die Menschen orientieren. Auf den hintersten Plätzen der langen Liste rangieren – lange nach Freundschaft, Familienleben, Eigenverantwortung oder Fleiß – die Besinnung auf Geschichtsstolz und „Althergebrachtes“. Ich habe den Eindruck, hier auf dem Land ist das anders. Definitiv begeistert sich auch die Jugend für das traditionelle Gut.

Angenehm authentisch
 

Die Macher eines Marketingspots für Niedersachsen haben sich im Netz gerade die Häme der User zugezogen. „Anders als du denkst“ war die Maßgabe des kleinen Promofilms, der mit leicht schmierigem Gesang aber durchaus selbstironisch zeigt, wie sich eine zunächst skeptische Familie im Urlaub in Niedersachsen-Liebhaber verwandelt. Es spielen dabei ein paar singende Fische, widerkäuende Schafe und Hexen zwischen Harz und Wattenmeer eine Rolle. Nichts Weltbewegendes, aber das Video ist nicht schlecht.

Vor allem die Niedersachsen selbst schienen sich, so war es in den Kommentaren zu lesen, für diese ländliche Darstellung zu schämen. Der Freistaat Bayern dagegen versucht gerade, mit einem sehr gut aussehenden „Tattoo-Hipster“ vom Land die Touristen in seine Region zu locken. Dieser Franz Keilhofer modelt, drechselt und singt in einer Punkband. Man könnte ihn sich auch gut in einem Berliner Club vorstellen. Und der Keilhofer kommt wahnsinnig gut an bei den Rezipienten. Er ist perfekt zugeschnitten auf eine Welt, in der die Idee des Landlebens zieht, aber auch eine unsägliche Hipsterisierung weit vorangeschritten ist, so dass Normalsein zur Schande gerät.

Neulich stieg der Nachbar von seinem Trecker und betrachtete mit leichter Skepsis einen Kasten Astra, den Freunde aus der Stadt mitgebracht hatten. Seitdem wir Bauern sind, trinken wir Dithmarscher, nicht Astra. Astra ist überhipstert. Dithmarscher authentisch. Die These ist vielleicht angreifbar, aber ich möchte damit sagen: Wenn beim Feuerwehrfest gestandene Männer mit einer großen Ernsthaftigkeit Schläuche um die Wette aufwickeln, dann ist das echt und bar jeder Ironie. Und ich empfinde das als etwas Rares und sehr Angenehmes.

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