Tellkamp, die einfachen Leute und die Meinungsfreiheit - „Welch fremder Planet ein anderer Mensch sein kann!“

Uwe Tellkamp gehörte zu den gefragtesten deutschen Schriftstellern unserer Zeit. Dann kam das Jahr 2018 und ein Streit auf einer Podiumsdiskussion mit dem deutschen Lyriker Durs Grünbein über die Flüchtlingskrise. Danach, so sagt es Tellkamp im Gespräch mit Cicero heute, „war’s vorbei“ und er werde behandelt wie ein „Paria“. Tellkamp geht es um die Nation, die Familie und die Art und Weise, wie die Einwanderung in Deutschland organisiert wird. So wie er, ist sich Tellkamp sicher, denken viele. Vor allem in Ostdeutschland.

„Ihr wisst nicht, was das Volk will.“: Schriftsteller Uwe Tellkamp bei einem Auftritt / dpa
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Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Eigentlich hatte Uwe Tellkamp fast alles erreicht, was man sich als deutscher Schriftsteller wünschen kann: 2004 gewann er den renommierten Ingeborg Bachmann-Preis, nur vier Jahre später den Deutschen Buchpreis für seinen Vorwende-Roman „Der Turm“. Mehr als eine Million Exemplare gingen bis heute über die Ladentheke. Tellkamp wurde gefeiert und hofiert wie kaum ein anderer Literat. Bis das Jahr 2018 kam.

Just in diesem Jahr stritt er sich mit dem deutschen Lyriker Durs Grünbein in Dresden auf einer Podiumsdiskussion. Er behauptete, dass ungefähr 95 Prozent der Flüchtlinge, die 2015 und danach den Weg nach Deutschland gefunden hatten, gar nicht vor Krieg und Verfolgung geflohen wären. Sie seien vielmehr nach Deutschland gekommen, „um“ in die Sozialsysteme einzuwandern. Danach, so sagt es Tellkamp heute, „war’s vorbei“. Er erhalte in Dresden oder darüber hinaus im Grunde keine Einladungen zu öffentlichen Veranstaltungen mehr, sondern werde wie ein „Paria“ behandelt.

„Warum lasst ihr das zu?“

Das, was seinerzeit vor einem Publikum von rund 1.000 Menschen Buh-Rufe wie Applaus gleichermaßen hervorgerufen hatte, hält Tellkamp rückblickend und sachlich gesehen für „Unfug“. Aber auch nicht so ganz. Der einzige Fehltritt sei nämlich das Wörtchen „um“ gewesen. Natürlich kämen all’ die Flüchtlinge nicht allein und vielleicht auch nicht hauptsächlich deshalb nach Deutschland, „um“ sich an sozialer Großzügigkeit zu laben. Aber eben doch auch. Das werfe er moralisch zwar niemandem vor, aber bei der Motivlage der Flüchtlinge „vermixt“ sich alles.

Nicht, dass die Flüchtlinge nach Deutschland kommen, stößt Tellkamp am Ende bitter auf. Nicht der „Bevölkerungsaustausch“, wie ihm immer wieder unterstellt wird, ist ihm das eigentliche Problem, sondern der „Kulturaustausch“. Das jedenfalls betont er im Gespräch mit Cicero. Zur Untermauerung verweist er auf einen befreundeten Kurden, der nicht verstehen könne, warum Deutschland ohne Not Schritt für Schritt seine Kultur und damit auch Identität aufgebe: „Der fragt mich: Warum tut Ihr das, warum lasst Ihr das zu?“ Tellkamp hat auf diese Frage einfach keine Antwort.

Zwischen Politbüro und Doppelsprech

Es geht ihm dabei um die Nation, die Familie und die Art und Weise, wie die Einwanderung in Deutschland organisiert wird. Und Tellkamp ist sich sicher: So wie er denken viele, vor allem in Ostdeutschland. Er sieht sich daher auch als „Sprachrohr“ für jene, die nicht vorkommen in den nach seiner Ansicht links-grün angehauchten Feuilletons der großen bundesdeutschen Tages- und Wochenzeitungen. Es geht ihm um jene Menschen, die in den Plattenbausiedlungen Dresdens wohnen, nie eine Universität von innen gesehen haben und für wenig Geld tagtäglich ihrer Arbeit nachgehen. Und die einfach nur wollen, dass alles bleibt, wie es ist. Oder dass es wieder wird, wie es einmal war.

Aber wer so etwas heute sagt, ist Tellkamp überzeugt, gerät unter den Druck der „Gesinnungskorridore“. Ihn erinnert das an die DDR. Auch damals sei die Freiheit dadurch beschränkt worden, dass die Obrigkeit bestimmen wollte, was die Menschen zu denken und zu sagen hätten. Heute sitzt für Tellkamp das Politbüro allerdings in den Chefetagen einflussreicher bundesdeutscher Medien.

„Ihr wisst nicht, was das Volk will“

Rund um die Wende hat er nach eigenen Angaben die Schriften der „Reformsozialisten“ ausführlich studiert. Sie wollten die DDR erhalten, sie demokratisieren und nach einem „Dritten Weg“ suchen. Tellkamp erschien das schon damals surreal. Er fragte: „Habt Ihr je mit Eurer Klientel gesprochen?“ Die Antwort gab er selbst: „Ihr wisst nicht, was das Volk will.“

Der Widerspruch zwischen Basis und Führung, zwischen Volk und Elite ist für Tellkamp 30 Jahre nach der Wende wieder eine machtvolle Tatsache. „Wie kommt jemand dazu, Dir vorzuschreiben, was du sehen und lesen darfst?“, fragt er in einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Empörung. In der DDR sei dieser Gegensatz zwischen obrigkeitsstaatlicher Erwartung und lebenspraktischer Wirklichkeit durch eine Welt von „zweierlei Gedanken“ und durch das Doppelsprech aufgelöst worden: Man hätte gewusst, das private und das öffentliche Sprechen strikt voneinander zu unterscheiden.
 

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Nun sind das öffentliche und das private Sprechen ohnehin zwei inkommensurable Welten. Unter keinen Umständen wird man bei klarem Verstande bereit sein, seine privatesten Gedanken der Öffentlichkeit ohne Not preiszugeben. Aber das meint Tellkamp nicht. Er meint, dass heute – wie in der DDR – der citoyen nicht mehr ungestraft citoyen sein kann. Dass sozial bestraft wird, wer seine politischen Ansichten öffentlich äußert – jedenfalls dann, wenn sie dem von den medialen Eliten für zulässig gehaltenen „Gesinnungskorridor“ nicht entsprechen.

Ohne volkspädagogischen Zeigefinger

Das alles breitet Uwe Tellkamp in einem 90-minütigen Dokumentarfilm von Andreas Gräfenstein aus, der ebenso wie Tellkamps zweiter großer Roman „Der Schlaf in den Uhren“ dieser Tage der Öffentlichkeit präsentiert wurde. (Zu sehen etwa in der ZDF-Mediathek; Anm. d. Red.) Gräfenstein hat nicht, wie immer wieder behauptet, Tellkamp über zwei Jahre begleitet, sondern ihn mehrfach getroffen. Und er hat ihm als Beistimmen nicht nur die Schriftstellerin Monika Maron und die Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen, sondern mit dem Literaten Ingo Schulze und dem Kulturwissenschaftler Paul Kaiser auch Antipoden zur Seite gestellt.

Was Gräfenstein allerdings nicht getan hat, ist: sein Publikum mit volkspädagogischem Zeigefinger zu belehren. Ausgewogen lässt er alle Seiten zu Wort kommen und fabriziert so eine regelrechte Zumutung, auf dass sich das Publikum gefälligst selbst eine eigene Meinung bilde.

Quod erat demonstrandum?

Und als hätte Tellkamp seine Widersacher persönlich bestochen, damit sie  beweisen, was er behauptet, meldeten sich prompt namhafte Stimmen des Protestes zu Wort. Die Proteste richteten sich gar nicht in erster Linie gegen Tellkamp, sondern gegen Andreas Gräfenstein. Es geht den Kritikern nicht so sehr um das, was Tellkamp gesagt hat, sondern darum, dass er überhaupt öffentlich sprechen darf. Zu diesen „Wächtern der Gesinnungskorridore“, so würde sich Tellkamp vielleicht ausdrücken, gehört die Schriftstellerin und taz-Autorin Anne Rabe. Nach eigenen Angaben Sozialdemokratin, quoll es nach Ausstrahlung des Filmes auf Twitter mit insgesamt zehn Tweets nur so aus ihr heraus. Und sie ist damit noch immer nicht fertig.

Dass Tellkamp für seine Thesen ganze 90 Minuten Sendezeit ausgerechnet im öffentlich-rechtlichen Rundfunk erhalten hat, ist für sie nichts anderes als „beschämend“ und ein „Skandal“. Schließlich bedrohe Tellkamps „rechtes Narrativ“ unsere „ganze Gesellschaft“. Und das auch noch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, also „mit Gütesiegel“! Das alles könne sie nicht mehr „ertragen“.

Tellkamps These von der „Cancel Culture“

Dabei bemerkt Rabe nicht nur nicht, dass sie damit Tellkamps These von der „Cancel Culture“ überhaupt erst zur Wahrheit verhilft. Sie wirft zudem der Schriftstellerin Jana Hensel, die auch in dem Film zu Wort kommt, vor, den Rassismus in der ostdeutschen Bevölkerung zu verharmlosen. Hensel nämlich hatte bestritten, dass sich Ost und West diesbezüglich signifikant voneinander unterschieden. Die Differenz sei lediglich diejenige, dass die Ossis ihren Rassismus auf der „Straße“ kund täten, während die Wessis ihn im „Hinterzimmer“ verhandelten.

Anne Rabe allerdings bringt das in Rage. Schließlich hätte sie höchstpersönlich einen taz-Artikel geschrieben, in dem sie unter Nutzung wissenschaftlicher Daten das Gegenteil bewiesen hätte. Gemeint ist damit die „10. Leipziger Autoritarismus-Studie“.  Und tatsächlich: Die Studie hat zum Ergebnis, dass im Grunde in allen rechtslastigen Einstellungsmustern der Osten deutlich vor dem Westen liegt. Die Widerlegung Hensels durch Rabe hat nur einen bedeutenden Kollateralschaden: Sie bestätigt damit wider Willen, dass Tellkamp doch recht mit der These haben könnte, zumindest im Osten hätten sich Volk und Elite weit voneinander entfernt und er eben auf der Seite des Volkes und nicht der links-grün angestrichenen Feuilletons stünde.

Keine Demokratie ohne Mündigkeit

Andreas Gräfenstein überraschen derartige Reaktionen nicht. Er sieht sich nicht als „politischen Aktivisten“, sondern als Filmemacher. Für ihn gelte der Grundsatz: „Jeder ist Herr seiner Urteilskraft und soll sich seine eigene Meinung bilden.“ Die Aufgabe von Journalisten und Filmemachern in Demokratien sei es eben, das entsprechende Material zur Erringung von „Mündigkeit“ zur Verfügung zu stellen und nicht, das Publikum „zu bevormunden“. Auf die Frage, ob es in dieser Hinsicht ein Defizit im realexistierenden medialen Milieu gebe, sagt Gräfenstein nur so viel: „Ich bin dankbar, dass ich diesen Film machen konnte. Das Meinungsspektrum der gesamten Gesellschaft abzubilden, ist die Hauptaufgabe der Medien, vor allem aber des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.“

Auch auf die Frage hin, ob man angesichts der spezifischen deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht den Anfängen wehren und frühzeitig das Ruder herumreißen müsse, reagiert Gräfenstein nachdenklich. Vielleicht nämlich sei es in manchen Fällen eher umgekehrt, dass man zur Radikalisierung der politischen Ränder ungewollt genau dadurch beitrage, dass man sie „ausgrenzt“ und so keine Kommunikation miteinander mehr möglich sei.

Wo die rote Linie verläuft

Die Unfähigkeit, im Trennenden noch das Gemeinsame zu finden, treibt offenbar auch den Kulturwissenschaftler Paul Kaiser um. Er hat gemeinsam mit anderen einen offenen Brief gegen Susanne Dagen geschrieben. Dagen, die Dresdner Buchhändlerin, ist nicht nur mit Tellkamp befreundet, sondern produziert auch mit Ellen Kositza gemeinsame filmische Buchbesprechungen. Kositza wiederum ist die Frau des neurechten Verlegers Götz Kubitschek aus Sachsen-Anhalt, dessen Verlag und „Institut für Staatspolitik“ unter dem Verdacht stehen, dem gemäßigten rechtsextremen Spektrum anzugehören. Bisher allerdings ohne richterliche Bestätigung.

Gräfenstein sieht genau an diesem Punkt eine rote Linie überschritten – auch für Tellkamp. Und der Filmemacher macht deutlich, dass er politisch „auf einer anderen Insel unterwegs ist“ als der berühmte Schriftsteller, den er porträtiert hat: „Ich unterscheide aber zwischen meiner eigenen politischen Meinung und meiner Profession, meiner Arbeit als Dokumentarfilmer.“

„Blockiert und gelähmt“

Zu den Kontakten seiner Freundin Dagen nach Schnellroda will sich Tellkamp gegenüber Cicero nicht äußern. Er verwahrt sich aber gegen jegliche „Anbräunungsversuche“ ihn betreffend. Soviel sagt er am Ende doch: Er halte nichts davon, das zwischenmenschliche Miteinander nach dem Muster von Infektionskrankheiten zu beschreiben, wonach sich ein Virus unerbittlich vom einen auf den anderen überträgt. Nach einer gewissen Zeit wären dann nämlich alle Menschen infiziert. „Und was dann?“, fragt Tellkamp.

Es ist wohl auch diese Weigerung, endgültige Verdammungsurteile über Menschen auszusprechen, die mit Menschen verkehren, die anderen wiederum suspekt erscheinen, die in die gegenseitige Sprachlosigkeit geführt hat. Der Kurator und Kulturwissenschaftler Paul Kaiser, der weder von Tellkamp noch Dagen in politischer Hinsicht allzu viel hält, muss zumindest eingestehen, dass Dagens „Buchhaus Loschwitz“ einst ein „freigeistiger Ort“ gewesen sei. Heute allerdings etwas zu freigeistig für den Geschmack von Kaiser. Und so stellt er fast ein wenig wehmütig fest: „Wir stehen blockiert und gelähmt nebeneinander.“ Uwe Tellkamp, der Erfolgsautor aus Sachsen, bringt es im Film von Andreas Gräfenstein aus der hohlen Hand etwas poetischer auf den Punkt: „Welch fremder Planet ein anderer Mensch sein kann!“

 

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