Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
()
Sex war gestern

Er gilt als Urvater der sexuellen Revolution: Sigmund Freud, geboren vor 150 Jahren. Doch statt Eros regiert im Freud-Jahr 2006 Thanatos.

Was bleibt von Sigmund Freud? Keine Frage – jener Wiener Arzt, der den Diskurs über die Sexualität salonfähig machte, würde nicht schlecht staunen, wenn er einen Blick in unsere Gegenwart werfen könnte: Wie hätte er auch ahnen können, dass unsere Ära von neuer Prüderie geprägt sein würde? Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Sexualität. Aber heute? Abstinenzkampagnen in den USA, Lustlosigkeit in Europa – Sex war gestern, so scheint es. Was aber vor allem verloren gegangen ist, das ist der Impetus der Befreiung, die emphatische Vorstellung einer Einheit von politischer und persönlicher Freiheit, wie sie in der revolutionären Libertinage der 68er-Bewegung umgesetzt wurde und die ohne Freud nicht denkbar gewesen wäre. „Lest Wilhelm Reich und handelt danach!“ Dieses Graffito schmückte 1968 die Außenwand der Frankfurter Uni-Mensa. Die Arbeiten des kommunistischen Freudianers Reich, die von den zwanziger bis in die vierziger Jahre entstanden waren, fanden Ende der sechziger Jahre reißenden Absatz. Auf keinem Büchertisch an den Universitäten fehlten „Die sexuelle Revolution“ oder „Die Funktion des Orgasmus“, und auch „Die Massenpsychologie des Faschismus“ wurde, so ein rückblickender Zeitzeuge, „atemlos“ verschlungen. Kein anderer Intellektueller bewegte die Studentenbewegung in ihren frühen Tagen so stark, und die Intensität dieses Impulses fand weder in den USA noch in anderen westeuropäischen Staaten eine Parallele. Obwohl Reich ohne Freud nicht denkbar gewesen wäre, hatten die 68er mit Sigmund Freud selbst weniger am Hut – auch wenn sie letztlich von dessen Enttabuisierung des Sexuellen profitierten. Gerade die Tatsache, dass Freud und Reich getrennte Wege gegangen waren, machte Reich sogar attraktiv: nicht zuletzt wegen Reichs kommunistischer Tendenzen und seines optimistischen Glaubens, dass die Sexualität in der Tat befreit werden könne und nicht irgendwie sublimiert werden müsse. Reichs Konzepte schienen dem allgegenwärtigen Slogan der sechziger Jahre „Make love, not war“ zusätzliche Legitimität zu verleihen. Das Schlagwort enthielt nicht nur den Rat, einer anständigeren und angenehmeren Betätigung nachzugehen, als sich durch vietnamesische Reisfelder zu quälen und sowohl das eigene Leben als auch das anderer aufs Spiel zu setzen. Es war darüber hinaus eine Theorie der Natur des Menschen: die tief gehende Überzeugung, dass diejenigen, die sich ungehemmt und häufig der Liebe hingeben, einfach kein Interesse am Töten hätten. Die Aufwertung und Politisierung der Sexualität Ende der sechziger Jahre lag in den komplizierten Wechselwirkungen zwischen den vierziger und den fünfziger Jahren begründet, zwischen dem Jahrzehnt der Massenmorde und dem Jahrzehnt, in dem die zukünftigen 68er heranwuchsen. In den Schriften der Neuen Linken konnte man immer wieder die These finden, dass sexuelle Befriedigung und Sadismus sich gegenseitig ausschlössen. Das hatte konkrete Konsequenzen. Ein Kinderladen-Vater beispielsweise klärte 1969 einen Reporter des Stern ebenso kühn wie anzüglich darüber auf, welche Bedeutung die Fäkation habe, wobei er geläufig im Freud-Jargon parlierte: Viele der Kinder hätten „schon auf den Topf gemacht“, erklärte er. „Jetzt scheißen sie wieder in die Hose. Sie holen ihre anale Phase nach. Das ist gut. Weißt du, dass die meisten KZ-Wächter in ihrer Kindheit anale Schwierigkeiten hatten?“ Die Neue Linke stand nicht allein da mit solchen Interpretationen. In den Sechzigern und Siebzigern gingen sowohl Linke als auch Liberale davon aus, dass der Faschismus und besonders der Holocaust die pervertierte Folge -sexueller Unterdrückung seien. In seinem viel diskutierten Werk „Die Gesellschaft und das Böse: Eine Kritik der herrschenden Moral“ (1967) resümierte der Philosoph Arno Plack, es sei „kurzschlüssig zu meinen, alles das, was in Auschwitz geschah, sei typisch deutsch. Es ist typisch für eine Gesellschaft, die die Sexualität unterdrückt.“ Viele der Veränderungen im Bereich der „Politik des Privaten“, für die sich die 68er einsetzten – antiautoritäre Kindererziehung, Kommune-Experimente, das „Zerschlagen der Kleinfamilie“, neu verhandelbare Sexualmoral und Geschlechterbeziehungen, Skepsis gegenüber Monogamie, offensive Promiskuität –, resultierten aus einer Abgrenzung gegen die vermeintliche Erbschaft des Faschismus. Viele 68er glaubten, dass der sexuelle Konservatismus, in dem sie aufgewachsen waren, eine verwässerte Fortsetzung der Sexualpolitik der Nazis sei, und ihr Traum der sexuellen Befreiung beruhte auf ihrer Lesart des Nationalsozialismus, der als grundsätzlich sexualfeindlich galt. Diese Interpretation des Dritten Reichs war aber schlicht falsch. Selbstverständlich gab es im Dritten Reich in Bezug auf das Thema Sex keine einheitliche Linie, sondern ein Konglomerat aus widersprüchlichen Positionen. Einige Nationalsozialisten wollten zweifellos zu konservativeren Werten und Verhaltensweisen zurückkehren. Und immer wieder benutzten sie antisemitische Vorurteile, um für diese konservativeren Einstellungen zu werben. Weimar mit seiner sexuellen Experimentierfreudigkeit galt als „Judenrepublik“, Juden, so behaupteten die Nazis, pflegten eine „ekelhafte Lüsternheit“ und eine zügellose Moral, und sie seien überdies für die Verbreitung von Pornografie verantwortlich. Konservative NS-Wortführer waren regelrecht fixiert auf Freud. Sie warfen ihm nicht nur vor, er habe eine „schmutzige Fantasie“ und deute Sexualität fälschlich „schon in die Kinderseele“ hinein, sondern auch, er habe das Konzept des „Es“ – der „unbewussten Macht“ – nur ersonnen, „um die Stimme des Gewissens, die sich bei Onanie und außerehelichem Verkehr im nordischen Menschen regt, zu töten“. Ein NS-Kinderarzt beklagte, dass für den Freudianer „der Mensch nur noch aus einem Geschlechtsorgan besteht, um das herum der Körper vegetiert“. Als NS-Studentenorganisationen öffentlich Bücher verbrannten, deklamierte ein Demonstrant: „Gegen seelenzerfressende Überschätzung des Trieblebens, für den Adel der menschlichen Seele! Ich übergebe der Flamme die Schriften des Sigmund Freud.“ Die bis zum Ende des Dritten Reiches anhaltenden Angriffe auf Freud hinderten regimefreundliche Psychotherapeuten und Ärzte sowie Juristen und Journalisten aber nicht, sich eine selektive Version seiner Ideen anzueignen. Während manche Nazis behaupteten, dass „Rassereinheit“ und das Wiedererstarken der Nation von vorehelicher Keuschheit und der treuen, kinderreichen Ehe abhingen, waren andere Vordenker und Wortführer des Nationalsozialismus vom Gegenteil überzeugt. Sie steckten viel Energie und Kreativität in das Projekt, vor- und außereheliche Sexualität als ein „germanisches“, „arisches“ Privileg umzudeuten, das völlig legitim neben dem ehelichen Liebesglück existiere. Das einzige Problem bestand darin, diese sexuell emanzipatorischen Tendenzen von ihrer Assoziation mit der „Wiener Schule“ und der freudianischen Psychoanalyse zu trennen. Das Spezifische der nationalsozialistischen Sexualpolitik lag in dem Versuch, die wachsende gesellschaftliche Beschäftigung mit Sexualität aufzugreifen und für ihr rassistisches, elitäres und homophobes Programm zu nutzen. Das bedeutete auch, dass nationalsozialistische Ärzte nun als Sexualratgeber auftraten, mitsamt diversen Tipps, wie man am besten zum Orgasmus komme und wie man Kondome benutze – die übrigens während des ganzen Dritten Reichs weiterhin legal blieben. Viele nationalsozialistische Autoren verteidigten das Recht auf glückliche Sexualität in und außerhalb der Ehe, mokierten sich über die „armseligen Komplexe“ der konservativen Kritiker in den eigenen Reihen und priesen Sex als gesund, natürlich und erfreulich. Der Rassentheoretiker Hans Endres etwa verlangte 1941, „dass unsere jüngeren Generationen… stolz auf ihren Körper werden und die natürlichen Freuden des Geschlechtslebens ohne Scham genießen.“ Mit Attacken gegen die „freudianische“ Moral, flankiert von Empfehlungen zum freieren Handeln, wurde die Herrenrasse ermuntert, ihre Rechte wahrzunehmen. Nach einigen wenigen Jahren bereits wurde es unübersehbar, dass das Regime frischfröhlich den vorehelichen Coitus unter Teenagern beförderte, und spätestens Anfang der vierziger Jahre wurde auch die eheliche Untreue offen befürwortet. Es ging dabei durchaus auch um erhöhte Reproduktionsraten, aber mehr noch um die gesteigerte Lust – und nicht zuletzt um die Vermittlung der Idee, dass dieses Glück ein Geschenk der braunen Machthaber sei. „Man gewinnt im Blick auf die frühe Bundesrepublik geradezu den Eindruck“, schrieb 2001 der Soziologe und Sexualwissenschaftler Martin Dannecker, „als ob sie keine andere Sorge gehabt hätte, als die Sexualität in Ordnung zu bringen.“ Und in der Tat: Nach den Wirren der unmittelbaren Nachkriegszeit schafften es die Kirchen, die CDU, die Gerichte und die Publizistik in den frühen fünfziger Jahren, wieder eine konservative Sexualkultur zu zementieren. Gerade weil der Nationalsozialismus aus Sicht der Kirchen als sexuell enthemmt galt, war es möglich, für eine konservative Sexualkultur als legitime Antwort auf die Nazi-Barbarei zu werben. Aber die Zusammenhänge zwischen Vergangenheitsbewältigung und Sexualpolitik wurden für die Heranwachsenden immer schwieriger zu entziffern. Nicht zuletzt lag nämlich ein Haupteffekt des „Normalisierungsprojekts“ der fünfziger Jahre darin, dass die sexuell aufgeheizten Seiten des Nationalsozialismus – also genau die Elemente, die in den unmittelbaren Nachkriegsjahren den Umschwung in den Konservatismus hinein ursprünglich gerechtfertigt hatten – völlig in Vergessenheit gerieten.

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.