„Literaturen”-Special - Sex, Lügen und Coming-Out

Einer Minderheit, die bisher ohne literarische Traditionen aus­kommen musste, will der irische Schriftsteller Colm Tóibin eine historische Identität zuschreiben – den Homosexuellen. Sein Essay «Liebe in dunklen Zeiten» ist der Versuch, einen schwulen Kanon zu begründen

Wissen, woher man kommt und in welchen Traditionen man steht, gehört zum Mensch-Sein. Erst recht zum Schriftsteller-Sein. Umso quälender, wenn Autoren feststellen müssen, dass es keine anerkannten Traditionen gibt, oder sich genötigt sehen, diese zu verschweigen oder zu verleugnen.

Die längste Zeit blieben geschichtliche Beispiele für homosexuelle Schriftsteller weitgehend unsichtbar – sie hatten keine Möglichkeit, ihre literarische Identität zu be­grün­den. Die literarischen Spuren von Homo­sexualität in den Jahrhunderten zwischen dem Ende der Antike und Oscar Wilde waren verschleiert und zweideutig – und nach dem Prozess gegen Wilde 1895 erst recht gekennzeich­net von Angst und Verheimlichung. Keine Helden, keine Märtyrer, keine Vorbilder, an denen eine schwul-lesbische Autoren-Identität sich selbstbewusst ausbilden konnte.

Was der Wilde-Biograf Richard Ellmann eine «klandestine Welt von halben Enthüllungen, Erpressungen und Ver­leumdungsklagen» nennt, nahm homosexuellen Autoren noch lange den Mut, sich offen zu bekennen, ihr Schwul-Sein zu thematisieren und eigene literarische Traditionen festzuschreiben.
Der irische Schriftsteller Colm Tóibín holt nun Versäumtes nach. «Love in a Dark Time» nennt er seine Sammlung von Essays, in denen er am Beispiel von neun Künstlern deren Umgang mit ihrer eigenen Homosexua­lität und die Entstehung einer spezifischen Sensibilität untersucht – von Oscar Wilde bis Pedro Almodóvar.

Gerade weil der Zeitgeist darauf hindeutet, dass Homosexualität in liberalen westlichen Gesellschaften bald kein Motiv für Marginalisierung und Diskriminierung mehr sein wird, und weil mancherorts bereits optimistisch von einem Post-Gay-Zeitalter die Rede ist, kann endlich auch eine quasi kanonische Reihe schwuler Künstler aufgestellt werden. Das reicht von Gestalten, die ihre Homosexualität furchtlos auslebten und schwer dafür büßen mussten (Oscar Wilde, Sir Roger Casement), über Autoren, die sie unterdrückten oder verbargen, aber in ästhetische Energie umzusetzen verstanden (Thomas Mann, Elizabeth Bishop), bis zu Künstlern, die in feindseliger Umgebung ihr Schwul-Sein ostentativ zum Thema machten (Francis Bacon, Pedro Almodóvar) oder die Aids-Kata­strophe der achtziger Jahre in ihren Elegien beklagten (die Lyriker Thom Gunn und Mark Doty).

In einem großen einleitenden Essay, den „Literaturen” hier erstmals auf Deutsch publiziert, geht Colm Tóibín den schwierigen, verheimlichten und allzu oft tragischen Geschichten homosexueller Schriftsteller nach, denen mit der «Liebe, die ihren Namen nicht zu nennen wagt» mehr Leiden als Lebensglück widerfuhr, weil ihnen ein Doppelleben aufgezwungen wurde – von Walt Whitman über Henry James bis zu E. M. Forster. Dass Colm Tóibín von Henry James besonders fasziniert ist, beweist sein jüngster Roman:

«Portrait des Meisters in mittleren Jahren» (siehe „Literaturen” 10/2005). Darin zeigt er den amerikanischen Erzähler als Gefangenen seiner eigenen Ambivalenzen – als Mann, der seine Sehnsüchte sogar vor sich selber geheim hielt, und dessen Angst vor Kontrollverlust stets stärker war als sein Begehren, das sich mit fortschreitendem Alter immer expliziter auf junge Männer richtete. Dass in diesem biografischen Roman auch die heimliche Selbstbiografie seines Autors mitschwingt, stellt Tóibín, der nach langen Aufenthalten in Spanien heute wieder in Dublin lebt, nicht in Abrede.

Liebe in dunklen Zeiten

von Colm Tóibín

 

In seinem Essay «Der argentinische Schriftsteller und die Tradition» schrieb Borges, der argentinische – und überhaupt der südamerikanische – Schriftsteller habe durch seine gleichzeitige Ferne und Nähe einen höheren Anspruch auf die abendländische Kultur als jede abendländische Nation. Anschließend ging er auf den außerordentlich wichtigen Beitrag der jüdischen Künstler zur abendländischen Kultur und der irischen Schriftsteller zur englischen Literatur ein. Für sie, behauptete er, genügte die Tatsache, dass sie Iren und «anders» waren, um Erneuerer der englischen Kultur zu sein. Analog dazu arbeiten jüdische Künstler «innerhalb der jeweiligen Kultur und sind ihr gleichzeitig gefühlsmäßig nicht sonderlich verbunden». Sein Essay entstand um 1932, lange bevor sich eine klare Vorstellung vom Stellenwert des schwulen Schriftstellers innerhalb der literarischen Tradition herausbildete und bevor die Idee Gestalt annahm, dass irisches, jüdisches oder schwules (oder, später, südamerikanisches) Schreiben nicht so sehr ein Umschreiben des Zentrums von der Peripherie aus darstellte, als vielmehr das Zentrum selbst war.

Borges war in vielerlei Hinsicht ein konservativer Mensch und ein vorsichtiger Kritiker. Er hätte mit Interesse zur Kenntnis genommen, dass viele – oder die meisten – Mitbegründer der modernen Literatur homosexuell, irisch oder jüdisch waren: Melville, Whitman, Hopkins, James, Yeats, Kafka, Woolf, Joyce, Stein, Beckett, Mann, Proust, Gide, Firbank, Lorca, Cocteau, Auden, Forster, Kavafis. Leicht beunruhigt hätte ihn allerdings, wie ich glaube, der Gedanke an das schwule Element in dieser Liste, oder die Vorstellung, dass man in seinem Essay über die Kultur an die Stelle von «irisch», «jüdisch» oder «argentinisch» ohne weiteres «schwul» oder «homosexuell» setzen könnte. Gestört hätte ihn vermutlich auch die Idee, dass man im Werk Shakespeares und Marlowes und Bacons, um nur einige zu nennen, genügend Indizien – um nicht zu sagen: handfeste Beweise – finden könnte, um auch sie der schwulen Tradition, die wie ein verborgener roter Faden durch die ganze abendländische Literatur verläuft, zurechnen zu dürfen. Dennoch war Borges, wie die meisten Schriftsteller, von dem besessen, was ihm vorausgegangen war: von den Büchern und Schriftstellern – Don Quijote, dem Gaucho Martín Fierro, Flaubert, Kipling –, die seinen geheimen roten Faden in die Vergangenheit darstellten. Er hätte ohne sie nicht auskommen können.

Es ist leicht, das ungewisse Irisch-Sein bestimmter Schriftsteller zu erörtern. War Sterne «irisch»? War Oliver Goldsmith «irisch»? War Iris Murdoch «irisch»? Die Frage, wer schwul war und woher wir das wissen, ist da schon schwieriger zu entscheiden. Wie kann man jemanden als schwul bezeichnen, wenn – wie im Falle Gogols – keinerlei direkte Beweise dafür vorliegen? Doch wenn man Gogols Erzählungen mit entschlossener Ausdauer und einem engmaschigen Schleppnetz abfährt, wird man eine verborgene Welt von Zeichen und Momenten, Ängsten und Vorurteilen zutage fördern, die als Indizien für seine Homosexua­lität gedeutet werden können.

Aber wozu? Warum sollte das irgendeine Rolle spielen? – Deswegen: je mehr schwule Leser und Schriftsteller «sichtbar» werden und an Selbstbewusstsein gewinnen, und je gefestigter und ernsthafter die Schwulenpolitik wird, desto wichtiger wird «schwule Geschichte» für die schwule Identität, ebenso wie dies bei der irischen Geschichte in Irland oder der jüdi­schen Geschichte unter den Juden der Fall ist. Es geht nicht lediglich darum, ungewisse Spuren einer schwulen Präsenz in der Vergangenheit aufzuspüren (obwohl auch sie existiert), sondern Schriftsteller in diese Tradition einzuschließen – Whitman ist dafür ein gutes Beispiel –, die eindeutig und offenkundig schwul waren und deren, von den meisten Kritikern und Literaturwissenschaftlern ignorierte, Homosexualität einen beträchtlichen Einfluss auf ihr Werk ausgeübt hat. Heterosexuelle Kritiker tendierten in der Vergangenheit dazu, über schwule Schriftsteller so zu schreiben, als wären sie hetero gewesen, oder als spielte es gar keine Rolle, was sie waren. Lionel Trilling veröffentlichte 1944 ein Buch über das literarische Werk E. M. Forsters. 1972 schrieb er an Cynthia Ozick:

«Erst als ich mein Buch über Forster abgeschlossen hatte, gelangte ich zu der expliziten Einsicht, dass er homosexuell gewesen war. Ich weiß nicht, ob dies an einer besonderen Begriffsstutzigkeit meinerseits lag oder daran, … dass die Homosexualität sich innerhalb des Kulturgeschehens noch nicht als solche thematisiert hatte. Als diese Erkenntnis sich endlich einstellte, schien sie anfangs nicht von weitreichender Bedeutung zu sein, aber
diese Ansicht sollte sich bald ändern.»


Warum hat sich Thomas Mann nie geoutet?

Schwulsein ist in der Literatur der Vergangenheit bisweilen explizit und bisweilen verborgen, während es in der Gegenwart größtenteils nur explizit ist. Bald wird Schwulsein in der westlichen Welt keinerlei persönliche Schwierigkeiten und gesellschaftliche Diskriminierung mehr implizieren. Mancherorts, besonders in Großstädten, ist dies bereits heute der Fall, so dass sich sogar der Begriff «post-gay» allmählich durchzusetzen beginnt. Deswegen dürfte unser Verständnis der Vergangenheit – die Weise, wie wir die Vergangenheit lesen, was wir in sie hineinlesen und wie wir sie beurteilen – in zunehmendem Maße Gegenstand einer offeneren Diskussion werden. Die Versuchung, anachronistische Urteile zu fällen und anachronistische Fragen zu stellen, lässt sich dabei kaum umgehen. Warum hat sich Thomas Mann nie geoutet? Warum veröffentlichte Forster seinen Roman «Maurice» nicht schon 1914, sobald er ihn geschrieben hatte? Warum schrieb der amerikanische Literaturkritiker F. O. Matthiessen keine Geschichte der schwulen amerikanischen Literatur? Wie kommt es, dass Lionel Trilling Forsters Schwulsein nicht eher erkannte? Und warum werden Schwule in einem so großen Teil der Literatur als tragische Gestalten dargestellt? Warum können schwule Schriftsteller schwulen Männern kein Happyend gönnen, so wie Jane Austen es mit Heterosexuellen tat? Warum wird schwules Leben oft in einem so düster-sensationellen Licht präsentiert?

Die Dinge haben sich so rasch geändert, dass die Handlungen und Attitüden der Vergangenheit, selbst der jüngsten Vergangenheit, heute fast unvorstellbar erscheinen. Noch 1970 konnte der Essayist Joseph Epstein im «Harper’s Magazine» schreiben:

«Eine persönliche Akzeptanz der Homosexualität ist meiner Erfahrung nach nicht einmal bei den liberalsten, gebildetsten und aufgeklärtesten Menschen festzustellen. Die Homosexualität könnte der letzte noch existierende Gegenstand sein, der in Amerika keine ‹politisch korrekte› Beurteilung genießt … Verdammt ohne eine eindeutige Ursache, krank ohne erkennbare Heilungsmöglichkeit, sind die Homosexuellen ein Affront gegen unsere Rationalität, der lebende Beweis für die Aussichtslosigkeit unserer Bemühungen, jemals einen rationalen und nachvollziehbaren Schöpfungsplan zu entdecken.»

Und sollte sich einer seiner vier Söhne als schwul erweisen, fuhr er fort, würde er, Epstein, «wissen, dass dieser zu einem Zustand beständigen Negertums unter den Menschen ver­dammt wäre und sein Leben, ungeachtet der Veränderungen, die er mit Rücksicht auf seine Veranlagung daran vornähme, bis zum Ende als Teil des Leidens der Erde erleben müsste.»

Die schwulen Märtyrer sind alle vergessen

In einem «The Pink Triangle» (Der rosa Winkel) überschriebenen Kapitel schreibt Gregory Woods:
«Nach der ‹Befreiung› der Lager durch die Alliierten wurden diejenigen Überlebenden, die den rosa Winkel trugen – aus dem hervorging, dass sie als Homosexuelle inhaftiert worden waren –, wie gewöhnliche Verbrecher behandelt, die den Lageraufenthalt durchaus verdient hätten. Viele wurden zur Verbüßung ihrer Reststrafe in gewöhnliche Vollzugsanstalten verlegt … Der rosa Winkel wurde in Holocaust-Gedenkstätten vergessen. Die Nazis hatten 1935 eine strengere Fassung des gegen Homosexuelle gerichteten Paragraphen 175 des deutschen Strafgesetzbuches eingeführt. Anders als andere NS-Gesetze wurde dieses nach dem Krieg nicht aufgehoben.»

Andere ehemals unterdrückte Minderheiten – die Juden etwa oder die Katholiken in Nordirland – haben jede Möglichkeit, schon in ihrer Jugend die Implikationen ihrer Unterdrückung aufzuarbeiten. Sie hören die Geschichten; sie können die zahlreich vorhandenen Bücher lesen. Schwule dagegen sind allein aufgewachsen; sie haben keinen historischen Hintergrund. Es gibt keine Balladen über das Unrecht der Vergangenheit, die Märtyrer sind alle vergessen. Es ist so, als ob man, mit Adrienne Rich zu sprechen, «in den Spiegel schaute und nichts sähe». Somit ist die Entdeckung einer Vergangenheit und eines kulturellen Erbes jedem Einzelnen, als Teil seines Wegs zur Freiheit (oder zumindest zur Erkenntnis), anheim gestellt, doch sie besitzt auch ernste Implikationen für Leser und Kritiker, die kein spezielles persönliches Interesse an der schwulen Identität besitzen; und sie birgt auch ernste Gefahren.


Walt Whitman, ein heimliches Rollenmodell

Machen wir mit Whitman den Anfang: Er ist der Einfachste. Sein Gedicht «Als ich am Schluss des Tages hörte» besteht aus einem einzigen Satz. Obwohl der Erzähler «hörte, wie (s)ein Name mit Beifall begrüßt worden war im Kapitol», war es, wie wir aus dem Gedicht erfah­ren, keine glückliche Nacht für ihn; doch als er «daran dachte, dass mein lieber Freund, mein Geliebter, auf dem Wege zu mir war, o da war ich glücklich», und das Gedicht schließt mit:

«Denn der, den ich am liebsten habe, lag schlafend neben mir
unter derselben Decke in der kühlen Nacht;
In der Stille, in den Mondstrahlen des Herbstes
war sein Gesicht mir zugeneigt,
Und sein Arm lag leicht um meine Brust –
und diese Nacht war ich glücklich.»

Das ist nur eines von etlichen explizit schwulen Liebesgedichten Walt Whitmans. Es ist nicht schwer, sich F. O. Matthiessen und seinen Geliebten Russell Cheney dabei vorzustellen, wie sie es in den zwanziger Jahren lasen. Da sie keinerlei Rollenmodelle besaßen und nicht das Gefühl hatten, in irgendeiner Tradition zu stehen, musste ein solches Werk für sie von großer Bedeutung sein. Matthiessen schrieb:

«Natürlich ist dieses Leben, das wir führen, etwas vollkommen Neues – keiner von uns beiden kennt einen entsprechenden Fall. Wir stehen mitten in einem unerforschten, unbewohnten Land. Dass es schon andere Verbindungen wie die unsrige gegeben haben muss, ist offensichtlich, aber wir haben keine Möglichkeit, aus ihren Erfahrungen zu schöpfen. Wir müssen uns alles selbst erschaffen. Und Neuschöpfung ist niemals einfach.»


Was Henry James in stiller Ekstase las

In den Jahren, in denen er dieses «unerforschte, unbewohnte Land» erkundete, lehrte Matthiessen in Harvard und schrieb «Amerikanische Renaissance: Kunst und Ausdruck im Zeitalter Emersons und Whitmans», das 1941 erschien und zum einflussreichsten Buch zu dem Thema überhaupt wurde. (Dass er Emily Dickinson darin nicht auch abhandelte, hat dem Werk in den letzten Jahren etwas von seinem «kanonischen» Status genommen.) Sein Essay über Whitman ist über hundert Seiten lang. Er schreibt mit großem Einfühlungsvermögen über Whitmans Sprache, die Spannung zwischen dem Dialektalen und der Abstraktion, dem Praktischen und dem Transzendentalen. Er schreibt über die Einflüsse, denen Whitman ausgesetzt war, darunter Oper und Malerei, und den Einfluss, den Whitman selbst auf andere ausübte, darunter Henry James – der Whitman, wie er gegenüber Edith Wharton äußerte, in «einer Verfassung stiller Ekstase» las – und Hopkins, der seinerseits schrieb: «Ich habe schon immer in meinem Herzen gewusst, dass keines lebenden Menschen Geist dem meinigen so verwandt ist wie derjenige Walt Whitmans.» «Hopkins», schreibt Matthiessen, «spielte wohl auf Whitmans Homosexualität und seine eigene Verdrängung dieser in ihm selbst latent vorhandenen Veranlagung an.» In einer Fußnote zitiert er in exten­so und kommentarlos einen explizit homosexuellen Brief Whitmans an einen Freund.

Schon fünfzig Seiten vorher geht Matthiessen auf Whitmans Homosexualität ein. Er schreibt dort über eine Passage gegen Anfang des «Gesangs von mir selbst»:

«Ich gedenke, wie einst wir lagen an solch einem durchsichtigen Sommermorgen,
Wie du dein Haupt quer über meine Lenden legtest
und dich leise über mich kehrtest
Und das Hemd streiftest von meinem Brustbein
und tauchtest deine Zunge in mein entblößtes Herz
Und hinaufreichtest, bis du meinen Bart fühltest, und
hinabreichtest, bis du meine Füße hieltest.»


«Ich hasse es, mich zu verstecken»

In seinem Kommentar äußert sich Matthiessen leicht missbilligend über den Ton dieser Passage. «In der Passivität des Körpers des Dichters», schreibt er, «äußert sich etwas unbestimmt Krankhaftes und Homosexuelles.» Dies ist ein Satz, der fünfzig und mehr Jahre, nachdem er niedergeschrieben wurde, auf der Seite brennt. «Etwas Krankhaftes und Homosexuelles.» Wie Jonathan Arac, der Herausgeber von Matthiessens Briefen, schrieb, musste «zur Schaffung der zentralen autoritativen kritischen Identität der ‹Amerikanischen Renaissance› viel verdrängt, verstreut oder verleugnet werden». Matthiessen war sich dessen durchaus bewusst. Im Januar 1930 schrieb er an seinen Geliebten:

«Meine Sexualität macht mir manchmal zu schaffen, Kumpel, wenn sie mir die Unredlichkeit meiner Stellung in der Welt zu Bewusstsein führt. Und das Bewusstsein meiner Unredlichkeit scheint meine Selbstsicherheit zu untergraben. Habe ich überhaupt das Recht, in einer Gesellschaft zu leben, die mich, wenn sie die Tatsachen kennte, durch und durch ablehnen würde? Ich hasse es, mich zu verstecken, wo doch vollkommene Offenheit die Nahrung meiner Seele ist.»

«Für die meisten seiner Studenten und jüngeren Kollegen», erklärt das Dictionary of American Biography, «deutete auf Matthiessens Homosexualität, wenn überhaupt, dann lediglich die Tatsache hin, dass sein Zirkel in stärkerem Maße heterosexuell war als in Harvards damaligen literarischen Kreisen üblich und dass Matthiessen sich gegenüber homosexuellen Kollegen, die ihre akademischen und sexuellen Beziehungen nicht reinlich zu scheiden wussten, ungewöhnlich feindselig zeigte.»
1950, fünf Jahre nach dem Tod seines Geliebten, und kurz bevor er vor dem Senatsausschuss zur Untersuchung «unamerikanischer Umtriebe» hätte erscheinen sollen – er war nicht nur schwul, sondern auch ein linker Aktivist –, stürzte sich Matthiessen aus dem 12. Stock eines Bostoner Hotels in den Tod. Er war achtundvierzig Jahre alt.


Schweigen und Angst, nur allzu gut bekannt

Bei unserer Suche nach einem «schwulen Kulturerbe» ist es leicht, Whitman für uns zu beanspruchen und aufzuzeigen, wie stark sich seine Homosexualität auf seine poetische Diktion auswirkte; aber was machen wir mit Matthiessen? Er führte ein Doppelleben, und er war darin nicht der Einzige; sowohl seine eigene Homosexualität als auch die anderer Menschen bereitete ihm tiefstes Unbehagen, und auch in dieser Hinsicht war er nicht der Einzige. Dies soll nicht bedeuten, dass ihm dieses Leben aufgezwungen worden wäre: Natürlich hätte er eine Wahl gehabt. Aber es wäre eine schwierige Wahl gewesen: Sie hätte heroischen Mut erfordert, und etwas in Matthiessen hegte einen tiefen Argwohn gegenüber jedem Heroismus. Was wir besitzen, sind seine Briefe und Tagebücher – und seine kritischen Schriften: Der Ton der einen ist eindeutig schwul (und offen und locker); der Ton der anderen ist brillant und akademisch und gibt nichts preis außer einer tiefen Angst vor der Homosexualität.

Diese Angst ist uns allen eigen: Sie ist etwas, das fast jeder schwule Mensch bis zu einem gewissen Grad, in einem bestimmten Alter, an einem bestimmten Ort schon einmal verspürt hat. Die schwule Vergangenheit ist nicht rein (während die irische Vergangenheit häufig zu rein erscheinen kann); sie ist zwiespältig und schlüpfrig, und sie erfordert eine ganze Menge Einfühlungsvermögen und Verständnis.
Die schwule Vergangenheit enthält also ebenso viel Schweigen und Angst wie Whitmans Gedichte und Shakespeares Sonette, und dies könnte der Grund dafür sein, dass Kafkas Werk eine so unverminderte Faszination auf schwule Leser ausübt, und dass es so leicht fällt, in Kafkas Romanen und Erzählungen einen schwulen Subtext zu finden. Manche Kritiker gehen allerdings noch weiter. «Erst wenn man Kafkas Schriften in ihrer Gesamt­heit liest», schrieb Ruth Tiefenbrun, «wird offensichtlich, dass die Befindlichkeit all seiner Helden auf der Tatsache ihrer Homosexualität beruht … Da Kafka seine Homosexualität sein Leben lang bewusst verheimlichte, überrascht es nicht im mindesten, dass sich in seinen Briefen, Tagebüchern, Notizbüchern und literarischen Werken nur relativ wenige direkte Anspielungen auf Homosexualität finden … Kafka teilt mit seinen Mit-Veranlagten deren hervorstechendstes Merkmal: ihr gleichzeitiges Bedürfnis, sich zu verbergen und sich zur Schau zu stellen.»

Gregory Woods bezeichnet in seiner «History of Gay Literature» Ruth Tiefenbruns Theorien als zu reduktiv gegenüber Kafkas Genie, wenngleich als überzeugend in Bezug auf sein Werk. «Die Frage, die wir uns stellen müssen», schreibt er, «lautet, ob wir, um die fraglichen Texte als schwule Literatur verstehen zu können, eine weitgehend spekulative Narration über das Leben des Autors akzeptieren müssen … Kurz gesagt: Warum sollte ein Text nicht aus sich heraus die Lesarten bestätigen können, die man an ihm vornimmt?»


Die verborgenen Sehnsüchte von Kafkas Helden

Die Diskussion leitet dann zur Frage über, was Kafka meinte, was Kafka wirklich meinte und was wir meinen, wenn wir Kafka lesen.

Ich glaube, wir meinen eine ganze Menge. Die Erzählungen und Romane schildern das Leben isolierter männlicher Protagonisten, die gezwungen sind, nichts für selbstverständlich zu halten, die ständig Gefahr laufen, als das, was sie wirklich sind, entlarvt und ertappt zu werden («Die Verwandlung»), oder über die zu Unrecht geflüstert wird («Jemand musste Josef K. verleumdet haben»), oder deren Beziehungen zu anderen Männern voll halb verborgener und kaum verborgener und oft unverhohlener Sehnsüchte stecken («Beschrei­bung eines Kampfes» oder manche Szenen im «Schloss»-Roman). «Kein anderer Schriftsteller dieses Jahrhunderts», schrieb Irving Howe, «hat die klaustrophobischen Empfindungen des modernen Lebens – die Verwirrung, das Gefühl des Verlusts, der Schuld, der Enteignung – so eindringlich heraufbeschworen … Die Krisenstimmung, die über Kafkas
Leben und Werk schwebt, ist zugleich aufs innigste subjektiv – ausschließlich seine – und aufs strengste unpersönlich, uns allen vertraut.»

Diese «Krisenstimmung» erwächst natürlich aus der Tatsache, dass Kafka ein deutschsprachiger Jude in Prag, ein Genie in einer bürgerlichen Umwelt und – zumindest in den Augen schwuler Leser, wenn schon nicht Irving Howes – ein Homosexueller war. Dies soll nicht heißen, dass schwule Leser Kafka ausschließlich als schwulen Autor gelesen wissen möchten – wenngleich dies auf einige schon zutrifft –, aber doch als einen Menschen, dessen Werk hinlänglich von seiner Homosexualität bestimmt war, um in weiten Teilen als eine Parabel ebenso sehr über einen schwulen Mann in einer feindseligen Stadt gelesen zu werden wie über einen ungläubigen Juden und einen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts.


Winston und Julia – oder Winston und Julian?

Gregory Woods liefert eine brillante Lesart von George Orwells Roman «Neunzehnhundertvierundachtzig», die gewisse Zweifel an dieser Deutung Kafkas aufkommen lässt. Er versteht Winstons und Julias verbotene, heimliche Liebesaffäre und die Bemühungen von Orwells Gedankenpolizei, Sex und Sexualität restlos auszurotten, als eine Schilderung des Lebens schwuler Männer im London von 1948, dem Jahr, in dem dieser Roman entstand. Woods zitiert Passagen wie die folgende:

«Er wünschte sich, sie wären ein altes Ehepaar, und er könnte mit ihr so wie jetzt durch die Straßen gehen, aber offen und ohne Angst, über Nebensächlichkeiten sprechen und Krimskrams für den Haushalt kaufen. Er wünschte sich vor allem, sie hätten einen Ort, wo sie miteinander allein sein konnten, ohne die Verpflichtung, bei jedem Treffen miteinander schlafen zu müssen.»
Und kommentiert: «Schwulen Lesern könnte dieser Wunsch durchaus vertraut erscheinen. Womit wir zum springenden Punkt kommen.»

Und der lautet bei Woods: «Wann immer ich ‹Neunzehnhundertvierundachtzig› lese, kann ich nicht umhin, mir zwischen den Zeilen die gespenstische Präsenz eines anderen Romans, eines Schwulenromans mit dem Titel ‹Neunzehnhundertachtundvierzig›, vorzustellen, in dem zwei junge Londoner mit Namen Winston und Julian sich ineinander verlieben und darum kämpfen, ihre Beziehung angesichts der ständigen Gefahr von Erpressung, Entlarvung und Verhaftung aufrechtzuerhalten.»
Ihm ist natürlich bewusst, dass weder Orwell noch seine heterosexuellen Leser den leisesten Verdacht hatten, dass der Roman auf diese Weise gelesen werden könnte: «Was sich für den heterosexuellen Leser wie ein futuristischer Albtraum liest, muss dem homosexuellen Leser wie eine ziemlich paranoide und grobschlächtige Parabel vorgekommen sein – grobschlächtig, weil so dicht an der Realität homosexuellen Lebens im damaligen England, und dumm dazu, weil darin nichts darauf hindeutete, dass Orwell selbst sich dieser Tatsache bewusst war.»


Vor Oscar Wilde gab es keinen öffentlichen Diskurs

Der schwule Leser, insbesondere der Leser, der in der Welt vor «Stonewall» aufgewachsen ist, also bevor diese britische Schwuleninitiative zur Abschaffung diskriminierender Gesetze ihre Lobbyarbeit aufnahm – dieser Leser  bewegt sich subjektiv zwischen Texten, die von verbotenen Territorien, Heimlichkeit, Angst handeln. Während sich in Kafkas Werk einige Indizien dafür finden, dass er verzweifelt versucht haben könnte, seine Sexualität zu verbergen und gleichzeitig auf irgendeine Weise mit ihr umzugehen, spricht in Orwells Werk nichts für eine analoge Situation. Mehr noch: seine Biografen lassen keinen Zweifel an seiner Heterosexualität aufkommen – was bei Kafka keineswegs der Fall ist. Nichtsdestoweniger, betont Woods, liegt die Entscheidung letztlich beim Leser.

In ihrer «Epistemology of the Closet» schreibt Eve Kosofsky Sedgwick: «Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts traten ein klassenübergreifendes homosexuelles Rollenbild und eine schlüssige, ideologisch umfassende thematische Erörterung der männlichen Homosexualität vollständig ins öffentliche Bewusstsein, und zwar durch Entwicklungen, die durch die Oscar-Wilde-Prozesse – wenngleich keineswegs ausschließlich durch sie – ins Rampenlicht gehoben wurden.»

Kosofsky Sedgwick hütet sich, über diese bloße Feststellung hinauszugehen, aber andere Autoren – Woods bezeichnet sie als «Post-Foucaultianer» – haben die These vertreten, dass es bis zur Zeit des Wilde-Prozesses selbst unter denjenigen, die sich zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlten, keinen eigentlichen Begriff der Homosexualität gab: Es gab homosexu­elle Handlungen, aber aufgrund des Fehlens eines öffentlichen Diskurses ist es – bis Wilde – schwierig zu entscheiden, was dies, selbst für die Beteiligten, bedeutete.


Besser, die Sache vor sich selbst zu verheimlichen

Gregory Woods schreibt über Théophile Gautiers 1835 erschienenen Roman «Mademoisel­le de Maupin», in dem der Held d’Albert erkennt, dass er einen Mann liebt und sich über die Implikationen dieser Tatsache Gedanken macht: «Dies war das Coming-out eines Franzosen vor sich selbst (und seinem engsten Freund) im Jahr 1835. Man beachte seine Überzeugung, dass sich sein Leben von Grund auf verändert hat. Er ist nicht lediglich durch den Gedanken verstört, dass er – nur dieses eine Mal und vorübergehend – durch den Körper eines Mannes körperlich erregt worden ist, ja, nicht einmal durch die implizite Folgerung aus diesem Gedanken, dass er dieser Erregung nachgeben und mit dem fraglichen männlichen Körper sexuell aktiv werden könnte. Nein, das Problem reicht weit tiefer und betrifft nicht bloß eine zeitweilige sinnliche Verirrung, sondern den innersten Kern seiner Persönlichkeit.»

Dies, so Woods weiter, würde später als «Homosexualität» bezeichnet werden. Man könnte immerhin vorbringen, dass das, was Woods in Gautiers Roman hervorhebt, Menschen seit Anbeginn der Zeit widerfahren ist (oder, vielleicht genauer, seit Anbeginn der Menschheit). Diejenigen, denen es widerfuhr, waren bis in die jüngste Vergangenheit in der Regel so vernünftig, die Sache für sich zu behalten – ja, sie vor sich selbst zu verheimlichen und sich nach außen hin konform zu den von ihrer jeweiligen Gesellschaft sanktionierten Sexualbräuchen zu verhalten (im antiken Griechenland und in Rom etwa hatten Beziehungen zwischen gleichaltrigen Männern und ausschließliche Homosexualität einen ganz anderen Stellenwert als Beziehungen zwischen Männern und Knaben).


Shakespeares schwule Helden

Umso interessanter ist jeder von wem auch immer zwischen dem Untergang des Römischen Reiches und dem Prozess gegen Oscar Wilde geäußerte Hinweis auf homosexuelle Empfindungen, was auch der Grund dafür ist, dass manche englischen Texte des 16. Jahrhunderts von größter Relevanz sind, etwa Shakespeares erste 126 Sonette ebenso wie bestimmte Szenen aus seinen Dramen. Woods geht zunächst auf die Dramen ein und fordert uns auf, Antonio, den «Kaufmann von Venedig», und, mit größerer Überzeugungskraft, Achilles und Patroklus in «Troilus und Cressida» als schwul zu verstehen.

Dann zitiert er die Passage aus «Othello», in der Iago berichtet, mit Cassio im Bett gewesen zu sein (für sich genommen nichts weiter Aufsehenerregendes, wie Woods betont) und gehört zu haben, wie dieser «Süße Desdemona!» ausrief. Dann «ergriff und drückt er meine Hand / Rief: ‹Süßes Kind!› und küßte mich mit Inbrunst, / Als wollt’ er Küsse mit der Wurzel reißen / Aus meinen Lippen, legte dann das Bein / Auf meines, seufzt’ und küßte mich und rief: / ‹Verwünschtes Los, das dich dem Mohren gab!›»

Warum, fragt Woods, stößt Iago Cassio nicht einfach fort? Doch er will nicht darauf beharren, Iago sei lediglich ein schwuler Protagonist (wenn er denn überhaupt einer ist, heißt das). Tatsächlich bereitet er lediglich den Boden für den Spaß vor, den er an den Sonetten haben wird. Am meisten Vergnügen bereitet ihm das zwanzigste:

«Ein weibliches Gesicht gab die Natur
Dir, Herr und Herrin meiner Leidenschaft;
Ein weiches Frauenherz, doch ohne Spur
Von Launen, Weiberlist und Hexenkraft.
Dein Auge, strahlender und minder flirrend,
Vergoldet alles, was sein Blick umfängt;
Für Männeraug’ und Frauenherz verwirrend,
Du, Mannsbild, das die Blicke auf sich lenkt.
Als Weib wollt’ die Natur nach ihrem Plan
Dich schaffen, aber sie verliebte sich
In dich dabei und hängte dir was an:
Ein Ding, das keinen Wert besitzt für mich.
Gab sie das Ding dir, Frauen zu entzücken,
Schenk mir die Liebe; sie magst du beglücken.»

Ein Sonett, das Kritiker in Verlegenheit stürzt

In «The Art of Shakespeare’s Sonnets» weist Helen Vendler darauf hin, dass dies das einzige Shakespeare’sche Sonett mit ausschließlich weiblichen Reimen ist. Wie Woods berichtet, hat dieses Sonett etliche Kritiker in nicht geringe Verlegenheit gestürzt. D. L. Richardson etwa schrieb 1840: «Ich wünschte von Herzen, Shakespeare hätte es nie geschrieben.» 1963 wandte H. M. Young ein, das 20. Sonett könne «unmöglich von einem Homosexuellen verfasst worden sein». Wie, so fragte er, könnte das Ding, das die Natur anhängte – ein Penis –, für den Dichter, wenn er homosexuell gewesen wäre, «keinen Wert» besessen haben (beziehungsweise, wörtlich:«nothing», also nichts, gewesen sein)? «Es wäre doch im Gegenteil das einzig wirklich Wesentliche gewesen.»

Nicht unbedingt, entgegnet Gregory Woods, völlig zu Recht: «Ein Junge hat schließlich erheblich mehr zu bieten als nur seinen Penis. Was ist etwa mit seinem Arsch?» Eve Kosofsky Sedgwick, schreibt er, erinnert uns daran, dass «hier, wie überall sonst in den Sonetten, ‹nothing›, also nichts, unter anderem das weibliche Geschlechtsteil bezeichnet.» Somit wird der Jüngling, wie Woods schreibt, «in erster Linie wegen der Hoffnung auf sein Hinterteil bewundert».

Ein paar Absätze weiter schlägt Woods ernüchtert wieder einen etwas ernsthafteren Ton an und weist darauf hin, dass das Sonett, mag’s uns passen oder nicht, seinen Gegenstand sexualisiert und «eine reflexive Feststellung des Coming-out des Dichters vor sich selbst» darstellt. Der Leser hat, wie ich meine, das Recht, einen Ausdruck wie Coming-out im Zusammenhang mit Shakespeare und dem 20. Sonett mit einem gewissen Unbehagen zu registrieren, und ich vermute, dass Woods ihn ganz bewusst verwendet.

In seinem Kapitel über Shakespeare führt er Kritiker an, die mit ihren Vorurteilen gegen die Homosexualität zu kämpfen haben. «Es steht viel auf dem Spiel», schreibt er. «Ein Nationaldichter läuft weit eher Gefahr, negativ missdeutet zu werden als ein lediglich guter Schriftsteller, der rein zufällig in der betreffenden Nationalsprache schreibt.» Er zitiert Eric Partridge, der in «Shakespeare’s Bawdy» (1968) seine Argumentation gegen Shakespeares «angebliche» Homosexualität mit den Worten beginnt: «Wie die meisten anderen heterosexuellen Menschen glaube ich …»

Woods führt Partridges Argumente ad absurdum. Dann zitiert er Shakespeares Biografen Hesketh Pearson: «Die Homosexualisten haben sich die allergrößte Mühe gegeben, Shakespeare zu annektieren und ihn als Galionsfigur für ihre spezielle Neigung einzusetzen. Um zu beweisen, dass er einer der Ihren gewesen sei, haben sie das 20. Sonett angeführt. Aber das 20. Sonett beweist eindeutig, dass er sexuell normal war.»

Hallet Smith sagte vom selben Sonett: «Die Haltung des Dichters gegenüber dem Freund ist von Liebe und Bewunderung, Ehrerbietung und Besitzanspruch gekennzeichnet, aber sie zeugt ganz entschieden nicht von sexueller Leidenschaft»; Robert Giroux erklärte, dass die in den Gedichten zum Ausdruck kommenden Empfindungen «nicht diejenigen eines aktiven Homosexuellen darstellen»; und Peter Levi, dass «homosexuelle Liebe in Elisabethanischer Zeit unweigerlich platonisch» gewesen sei.


König Eduard und der rotglühende Spiess

Aber klar doch, Peter. Niemand, der Christopher Marlowes Drama «Eduard der Zweite» sah, hätte auch nur für einen Augenblick auf die Idee kommen können, die Beziehung zwischen Eduard und Gaveston sei «platonisch»; ebensowenig hätte jemand, der Eduard im Stück seine Zuneigung auf den jüngeren Spenser übertragen sah, verkennen können, dass Eduard eben eine Vorliebe für Männer hatte. Gegen Ende der 4. Szene des 1. Akts scheint der ältere Mortimer der Überzeugung Ausdruck zu verleihen, dass Eduards Beziehung zu Gaves­ton in einer langen Tradition stand, Eduard ihr aber mit der Zeit schon entwachsen würde:

«Und da er so in Gaveston vernarrt ist,
Lass ihm doch seinen Willen unbeschränkt.
Die größten Herrscher hatten ihre Schätzchen:
Liebt’ Alexander nicht Hephaistion?
Der starke Herakles weinte um Hylos,
Um Patroklos Achilles, der Gestrenge.
Und nicht nur Fürsten, auch die größten Weisen:
Tullius der Römer liebt’ Octavius;
Der ernste Sokrates den wilden Alkibiad.
Lass Seine Gnaden also, dessen Jugend
Formbar und vielversprechend, diesen Fant,
Den eitlen Grafen, ungestört genießen;
Der Mann wird solchem Spielzeug schon entwachsen.»

«Der Anblick des Instruments», schrieb Harry Levin, womit er den rotglühenden Spieß meinte, der gegen Ende des Stücks Eduard in den Arsch gerammt wird, «dürfte genügt haben, um dem Publikum ein entsetztes Schaudern einzuflößen; und feinere Beobachter könnten, wie William Empson, darin eine Parodie von Eduards Laster erkannt haben».

Woods hat für diese Idee von den «feineren Beobachtern» nichts übrig. Die Sache, schreibt er, ist doch ganz klar: Der Mörder Lightborn «gibt vor, den tuntigen König verführen zu wollen, und verpasst ihm dann das, was jede Tunte braucht: einen rotglühenden Schürhaken in den Arsch». Jedes Publikum hätte das verstanden.


Der Mythos vom tragischen Schwulen

Die ersten 126 Sonette Shakespeares sind größtenteils von einem raffinierten, verspielten und fast lichten Verlangen erfüllt; Marlowes Version der homosexuellen Liebe war da weit finsterer. Eduard ist dumm und launenhaft; sein schwuler Liebhaber findet ein böses Ende. Eduards Strafe dürfte mit ihrer grauenvollen Melodramatik jedem Zuschauer, der jemals mit einem anderen Mann geschlafen hatte, eine Heidenangst eingejagt haben. Sie stellt den vielleicht politisch unkorrektesten Augenblick im ganzen elisabethanischen Theater dar. Sie lässt die homosexuelle Liebe, vorsichtig ausgedrückt, nicht gerade in einem positiven Licht erscheinen – dem positiven Licht Shakespeares, das sich insbesondere in «Was ihr wollt» zeigt.

Für schwule Schriftsteller und Leser wurde dies zu einem wichtigen Problem. Die von Schwulen produzierte Literatur der siebziger Jahre, schreibt Woods, lieferte schwulen Lesern oft «Rollenmodelle, die sie in ihrem Streben nach den verschiedenen Arten von Glück, aus dem das Post-Gay-Liberation-Leben der Schwulen theoretisch bestehen sollte, einsetzen könnten». Auch Foucault begriff, dass Glück für Homosexuelle ein ernstes Vergehen darstellte, und bemerkte: «Die Leute können es ertragen, wenn sie zwei Homosexuelle miteinander den Raum verlassen sehen, aber wenn die beiden am nächsten Tag lächeln, Händchen halten und sich zärtlich umarmen – das ist unverzeihlich. Unerträglich ist nicht das Sich-Verabschieden zum Zweck des gemeinsamen Lustgewinns, sondern das glückliche Aufwachen am Morgen danach.»

Weiter schreibt Woods: «Schwule Kritiker haben schwule Schriftsteller in ihrem Gefühl für ein angemessenes Ende verunsichert. Keine zentrale schwule Figur durfte ermordet werden oder Selbstmord begehen, selbst wenn es aus Gründen geschehen wäre, die eindeutig nichts mit der Tatsache ihrer Homosexualität als solcher zu tun hatten, weil dies den Mythos des tragischen Schwulen hätte bestärken können.»

(Eine moderne Version von «Eduard der Zweite» müsste demnach damit enden, dass Lightborn Eduard eine Dose Quality-Street-Bonbons oder eine Flasche Aftershave von Calvin Klein schenkt.)


E. M. Forster wagt sich an ein Happyend

Bereits 1913, als er die Arbeit an seinem Roman «Maurice» aufnahm, war sich E. M. Fors­ter dieser Tatsache bewusst. Er begann das Buch, als ein Freund Edward Carpenters, George Merrill, ihn am Hintern berührte, «sanft und direkt über den Gesäßbacken. Ich glaube, das tat er praktisch bei jedem. Die Empfindung war ungewöhnlich, und ich erinnere mich noch heute an sie, so wie ich mich an den Ort eines schon lange verschwundenen Zahns erinnere. Sie war ebenso sehr seelischer wie körperlicher Natur. Sie schien durch mein Kreuz direkt in meine Ideenwelt zu dringen, ohne jegliche Beteiligung meiner Gedanken.»

Forster fuhr nach Harrogate, wo seine Mutter gerade in Kur war, «und begann sofort, ‹Maurice› zu schreiben»: «Der Grundplan, die drei Hauptpersonen, das Happyend für zwei von ihnen, alles floss mir wie von selbst in die Feder. Und das Ganze ging reibungslos vonstatten. 1914 war es fertig. Ein glücklicher Ausgang war zwingend notwendig. Sonst hätte ich mich gar nicht erst ans Schreiben gemacht. Es stand für mich fest, dass sich zwei Männer, zumindest in der Fiktion, ineinander verlieben und für das Immer-und-Ewig, das die Fiktion erlaubt, verliebt bleiben sollten, und in diesem Sinne spazieren Maurice und Alec noch immer durch den grünen Wald. Ich widmete das Buch ‹Einem glücklicheren Jahr›, und dies nicht ganz grundlos. Glück ist seine Grundstimmung – was es, beiläufig gesagt, schwieriger machte, das Buch zu veröffentlichen. Wenn es unglücklich endete, damit, dass einer der Jungen am Strick baumelt, oder mit einem gemeinsamen Selbstmord, wäre alles in bes­ter Ordnung. Aber die Liebenden kommen ungestraft davon und stellen somit einen impliziten Aufruf zum Verbrechen dar.»

Über vierzig Jahre später machte sich Forster noch immer Gedanken über das Ende des Buches, und er schrieb es um: Es blieb ein Happyend, aber ein plausibleres. (Die Liebenden leben nicht mehr in einer Holzfällerhütte zusammen.)


Ein fataler Hang zu Unglück, Zerstörung und Tod

Die allgemeine Tendenz der schwulen Literatur zum Tragischen und Unerfüllten – eine Tendenz, der Forster und etliche Schriftsteller nach «Stonewall» gegenzusteuern versuchten –, besitzt gewisse Parallelen in der irischen Literatur. Auch diese scheint dann am zufriedens­ten zu sein, wenn es einen toten Vater oder ein totes Kind gibt (Leopold Blooms Vater beging Selbstmord; sein Sohn ist tot) und wenn häusliches Chaos herrscht. Kein irischer Roman endet mit einer Hochzeit. Bilder häuslichen Glücks kommen in Romanen wie Oliver Goldsmiths «Der Landpfarrer von Wakefield» (1766) und Roddy Doyles «The Snapper» (1989) nur vor, um anschließend gnadenlos zerstört zu werden. Die stärksten Eindrücke, die man aus der irischen Literatur – Prosa, Drama und Lyrik – gewinnt, sind Bilder der Gebrochenheit, des Todes, der Zerstörung. Die Stücke sind voller Geschrei, die Dichtung ist voll elegischer Stimmungen, die Romane sind voll von Begräbnissen.

Es hat etwas Heroisches, wie sich E. M. Forster in «Maurice» weigert, die Sache damit enden zu lassen, dass Scudder verhaftet wird, sich erhängt oder nach Buenos Aires fährt. Stattdessen trifft er Maurice wieder und sagt: «Und jetzt werden wir nicht mehr getrennt, und diese Geschichte hat ein Ende.» Und doch ist das irgendwie nicht recht befriedigend – ebenso wenig wie wenn Leopold Bloom glücklich verheiratet gewesen und mit seinem Sohn an der Hand durch Dublin geschlendert wäre. Es wäre ermutigend und hoffnungsvoll und politisch korrekt, aber einer anderen Wahrheit, die nichts mit Hoffnung oder Politik zu tun hat, würde es nicht gerecht werden. Diese Wahrheit kann sich natürlich ändern, ebenso wie das Leben der Schwulen und Irland sich ändern; und dann können tote Kinder und wahnsinnige alte Väter irgendwie aufgesetzt wirken – aus Gründen, die nichts mit der Wahrhaftigkeit zu tun haben, die die Kunst verlangt.


Schwules Glück darf nicht die Norm sein

Vorerst würde ich meinen, dass die zwei besten Werke schwuler Autoren, die in den Neunzigern erschienen sind (und mit die besten, die während dieser Periode überhaupt veröffentlicht wurden) Elegien über schwule Männer darstellen, die an Aids starben. Ich spreche von Thom Gunns «The Man with Night Sweats» und Mark Dotys «My Alexandria». Beide Bücher schildern eine Welt, über die Forster gestaunt hätte, eine Welt, in der schwules Glück – ohne Foucault nahe treten zu wollen – die Norm ist.

«Wenn die Unendlichkeit sich selbst mir heute anböte – / Ich hätte, glaub’ ich, überhaupt nichts / Anders gemacht», schreibt Doty. Beide Bücher enthalten ebenso sehr Bilder von schwulem Leben wie von schwulem Tod: von Liebhabern und Freunden, von schwulem Sex und der schwulen Gesellschaft. Aber in jedem Vers klingt ein elegischer Unterton mit, jeder geschilderte Augenblick Leben lässt ein trauriges Ende vorausahnen; die Freiheit schwulen Lebens wird zugleich als ein außergewöhnliches Geschenk und als eine Tragödie empfunden. Gregory Woods zitiert eine Rezension aus dem «Economist», die Gunns 1982 erschienenen Band «The Passages of Joy» als wenig bemerkenswert bezeichnet, weil er «Homo­sexualität in heiteren Farben schildert», während der zehn Jahre später veröffentlichte «Man with Night Sweats» Gunns «Dichtung mehr Lebendigkeit und mehr rohe menschliche Kraft verleiht, als sie je besaß». Woods wiederum befindet Gunns zwei Gedichtbände vor «The Man with Night Sweats» für «gleichermaßen gut».

Ich bin da anderer Meinung. Die Gedichte in «The Man with Night Sweats» sind nicht wegen ihrer «Lebendigkeit» oder ihrer «rohen menschlichen Kraft» (was immer das bedeuten mag) hervorragend, sondern wegen des Wechselspiels zwischen der verwundeten, elegischen Stimme und dem formal strengen, fast unpersönlichen Ton der Gedichte. Und vielleicht auch, weil sie in mir ein Bedürfnis befriedigen, schwules Leben als tragisch dargestellt zu sehen – ein Bedürfnis, das ich, wie ich weiß, unterdrücken sollte.

Henry James und die schönen jungen Männer

«Mitte der 1890er Jahre begann Henry James etwas Unerhörtes zu widerfahren, das sich im darauf folgenden Jahrzehnt immer häufiger wiederholen sollte», schrieb Fred Kaplan in seiner Biografie über den amerikanischen Erzähler. Der Schriftsteller begann, sich in junge Männer zu verlieben. «James’ sexuelles Selbstverständnis», fuhr Kaplan fort, «muss­te entweder unvorstellbar arglos oder aber peinlich explizit wirken.» «Tatsächlich will ich mehr von Ihnen», schrieb er an Morton Fullerton, einen dieser jungen Männer. «Sie sind überwältigend … Sie sind schön; Sie sind mehr als taktvoll, Sie sind auf zärtliche, magische Weise taktil. Aber Sie haben kein Herz. Man muss es aussprechen. Sie haben kein Herz.»

Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass James mit irgendeinem dieser Männer je eine körperliche Beziehung hatte. In «Henry James: The Young Master» allerdings liefert Sheldon Novick die seltsam überzeugende Schilderung einer Affäre, die James im Jahr 1865 mit Oliver Wendell Holmes gehabt haben könnte, dem späteren Richter am Obers­ten Bundesgericht, als er selbst zweiundzwanzig und Holmes vierundzwanzig war. Dann zeigt Novick auf, dass James sich bemühte, Holmes mit seiner Kusine Minnie Temple zusam­men­zubringen: ein Verweis auf Kate Croy und Madame Merle, die einer unschuldigen jungen amerikanischen Frau, die im Begriff ist, sich zu verlieben, eine interessante und wissenswerte Tatsache vorenthalten.

James war vom Leben John Addington Symonds’, über das ihn Edmund Gosse regel­mäßig auf dem Laufenden hielt, zutiefst fasziniert, und als Gerüchte aufkamen, Symonds könnte homosexuell sein, erklärte er Gosse, er sei «bezüglich dieser neuen Entwicklung von Neugier zerfressen. Schon eine (verschlüsselt formulierte) Postkarte würde meine Spannung lindern.» 1893 schenkte Gosse ihm eines der fünfzig im Selbstverlag erschienenen Exemplare von «A Problem in Modern Ethics», in dem Symonds – auf der Grundlage ihrer sittlichen Vertretbarkeit und ihres ästhetischen Werts – eine Lanze für die Homosexualität brach. Als nach Symonds’ Tod eine zweibändige Biografie über ihn erschien, las James sie nach eigenen Worten mit «sonderbarem Interesse … Es sollte ein erstklassiger – ein wirklich anschaulicher – Artikel über ihn erscheinen – er bietet sich als Gegenstand wirklich an. Aber wer sollte ihn schreiben? Ich kann nicht; obwohl ich’s gern täte.»


Wie ein Autor sich umsichtig verschweigt

1892 aß James mit der «moralisch entfremdeten Ehefrau des launischen John Addington» zu Abend, und dies lieferte ihm die Idee zu seiner Erzählung «The Author of Beltraffio», in der ein junger Amerikaner einen berühmten Schriftsteller aufsucht, dessen Frau sich von dem moralischen Grundton seines Werks abgestoßen fühlt. «Er war außerstande, den Ausdruck seiner tiefsten Empfindungen in seiner Kunst zu beherrschen», schrieb Kaplan. «Zwei seiner stärksten Kurzgeschichten, ‹The Author of  Beltraffio› und ‹The Pupil› verleihen dieser homoerotischen Sinnlichkeit, die kein anderes Ventil fand, deutlichen Ausdruck.»

Das Problem ist, dass sie das nicht tun. Es ist erstaunlich, wie James es fertig brachte, seine Homosexualität aus seinem Werk herauszuhalten. Ebenso erstaunlich ist es, wie schlecht manche seiner Erzählungen sind, wie weltschmerztriefend und ahndungsreich und seltsam unfertig sie wirken, und zwar selbst Erzählungen, die er in den Jahren schrieb, in denen er an den großen letzten Romanen arbeitete. Eine Serie von Anspielungen auf Rom, Griechenland und Florenz lässt beim Leser den Schluss zu, dass Mark Ambient, der Autor im «Beltraffio», in seinem Meisterwerk schwule Themen behandelt hat, und dass seine Frau deswegen so aufgebracht ist. Ebenso statthaft ist es anzunehmen, dass der amerikanische Ich-Erzähler, der Ambient so sehr bewundert, selbst schwul ist. Ebenso möglich ist es aber, dass Ambients Buch überhaupt nichts mit Homosexualität zu tun hat und dass der Erzähler nicht schwul ist.

Mark Ambient ist verheiratet und hat einen außergewöhnlich schönen kleinen Sohn. Möglicherweise fürchtet seine Frau wegen der sexuellen Orientierung ihres Mannes um ihren Sohn. In der Erzählung aber befürchtet sie lediglich, der Sohn könnte das Werk seines Vaters lesen. Und da der Sohn so klein ist, ist das nicht eben glaubwürdig. Ähnliches gilt für den «Schüler». Pemberton hat bei der Familie Moreen eine Stelle als Privatlehrer des früh­reifen und kränkelnden (und ziemlich unglaubhaften) Sohnes angetreten. Die Familie zahlt ihm keinen Lohn, aber er bleibt trotzdem, da er den Jungen liebt. Nichts deutet da­rauf hin, dass er in den Jungen verliebt oder überhaupt schwul ist. Wenn man möchte, kann man das in die Geschichte hineinlesen, aber im Text ist es nicht enthalten.

James hätte durch Hinzufügung einiger weniger Sätze, selbst einiger weniger Worte, die ganze Aussage der Erzählung ändern können. Aber dann hätte er wieder von vorn anfangen müssen. Indem er sich dafür entschied, diese Worte nicht hinzuzufügen, beraubte er sich der Möglichkeit, die Szene, die ihm vorschwebte, auszuspielen, da er sie nicht einmal klar artikulieren konnte. Er war in seinem Leben und seiner Arbeit so besonnen, so beherrscht, dass er aus seiner Prosa alles, was er nur wollte, hätte herauslassen können. «The Author of Beltraffio» und «The Pupil» sind insofern interessant, als James darin um ein Haar die Beherrschung verloren hätte, aber stattdessen die Erzählungen aus der Hand verlor.


Allerlei Lesarten sind möglich

Die Kritiker geben bei James einfach die Hoffnung nicht auf. Er war schwul; folglich muss er auch Geschichten geschrieben haben, die, wenn wir sie nur aufmerksam und gründlich genug lesen, Beweise für diese Tatsache liefern werden. Zum Thema von Miles’ Schulverweis in «Die Drehung der Schraube» fragt Woods: «Und betraf das, was jeder Junge flüsterte, nicht nur bloß die Jungen, die er mochte, sondern auch die Tatsache, Jungen zu mögen, an sich?» Und antwortet dann selbst: «Hier kann man nur spekulieren.» Wozu dann überhaupt die Frage stellen?

Der Grund, warum «Die Drehung der Schraube» überzeugt, ist der Umstand, dass mehreren Möglichkeiten die Gelegenheit eingeräumt wird, in der Erzählung frei zu atmen: Der Rahmenerzähler könnte wahnsinnig und völlig unzuverlässig sein; Peter Quint könnte Miles wirklich und sogar sexuell korrumpiert haben; oder beides. Ein schwuler Subtext wird nicht, wie in «The Author of  Beltraffio» und «The Pupil» angedeutet und dann wieder zurückgezogen; er wird uneingeschränkt zugelassen. Einfacher wird dies dadurch, dass der schwule Subtext Bilder des reinen Bösen anbietet, während der nette Erzäh­ler und das Genie im «Author of Beltraffio» schon beide schwul sein müssten; und ebenso der nette Lehrer und der kränkelnde Junge in «The Pupil». Man sollte sich hier in Erinne­rung rufen, dass im Jahr 1885 eine Gesetzesnovelle verabschiedet wurde, die einvernehmliche homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen mit zwei Jahren Zwangsarbeit belegte. Es fällt nicht schwer, sich Henry James’ Einstellung zu Zwangsarbeit auszumalen.

In den drei angeführten James’schen Erzählungen kommen auffallend schöne Jungen, wahre Engel, vor, die am Ende sterben. Möglicherweise fand James heraus, als er sich 1910 und 1911 bei einem Schüler Freuds einer Analyse unterzog, was er gemeint hatte, als er diese Erzählungen schrieb; aber wenn, hinterließ er uns keinerlei Hinweise darauf. (Thomas Manns Familie konnte nicht begreifen, wie er seinen vergötterten Enkel Frido als Vorbild für das Kind verwenden konnte, das er im «Doktor Faustus» so grausam sterben lässt.) Eine vierte Erzählung Henry James’ (die man fast als ein Meisterwerk bezeichnen könnte), «Das Tier im Dschungel», hat man ebenfalls als schwule Geschichte zu interpretieren versucht.


«Das Tier im Dschungel» und sein Geheimnis

Eve Kosofsky Sedgwicks «Epistemology of the Closet» enthält einen interessanten Essay über James und «Das Tier im Dschungel». Möglicherweise, schreibt sie, glaubten manche Kritiker, James habe selbst «reale homosexuelle Wünsche, sofern er welche hatte, so gründlich und so erfolgreich in literarische heterosexuelle übersetzt, dass der Unterschied keinen Unterschied mehr ausmacht, die Transmutation keinerlei Rückstand hinterlässt». Sie selbst ande­rerseits glaubt, James habe zwar «oft, wenngleich nicht immer, eine solche Verkleidung oder Transmutation angestrebt, aber unweigerlich einen Rückstand hinterlassen, sowohl von Material, das er nicht erst zu transmutieren versuchte, als auch von solchem, das sich nur gewaltsam und unsauber hätte transformieren lassen».

Als May Bartram im «Tier im Dschungel» John Marcher begegnet, erinnert sie sich an das «Geheimnis», das er ihr zehn Jahre zuvor anvertraut hatte. «Sie sagten, Sie hätten seit frühester Jugend, als das Tiefste in Ihnen, die Vorahnung gehabt, für etwas Seltenes und Seltsames, möglicherweise Wundersames und Schreckliches vorbestimmt gewesen zu sein, das früher oder später eintreten würde.» Eve Kosofsky schreibt: «Ich würde sagen, dass, insoweit Marchers Geheimnis überhaupt einen Inhalt hat, dieser Inhalt homosexueller Natur ist.»

Ich würde dagegen sagen, dass Marchers Geheimnis eindeutig einen Inhalt hat und dass dieser Inhalt möglicherweise homosexueller Natur ist. Das Problem bei der Erzählung ist die Tatsache, dass das «Geheimnis» an sich, dieses «etwas Seltenes und Seltsames», wenn wir es zum ersten Mal erfahren, lächerlich klingt: nach einer unbeholfenen Selbst-Dramatisierung, von der sich Marchers Figur in der Erzählung erst mit der Zeit wieder erholt. Der Leser hat das Recht zu erwarten, dass sich Marchers Geheimnis im Laufe der Jahre als ein Hirngespinst erweist, in dem ihn May Bartram die ganze Zeit bestärkt hatte – oder aber dass ihn tatsächlich vor dem Ende der Geschichte irgendeine Katastrophe ereilt.


Die Katastrophe im Leben des Henry James

Es ist so, als hätte Kafka gewisse Spuren in Lamb House, dem Wohnsitz von Henry James in Rye, hinterlassen. In der Erzählung kommen nur zwei Personen vor, beide seltsam neurotisch; und bevor sie stirbt, deutet May an, sie wisse, was das «Geheimnis» sei, und es beziehe sich auf etwas, das sich bereits ereignet habe. Nach ihrem Tod begreift auch Marcher, undeutlich, worum es dabei geht: Er hat nie geliebt; er ist unfähig gewesen zu lieben. Jeden­falls ist er unfähig gewesen, May Bartram zu lieben, so wie James unfähig gewesen war, Constance Fenimore Woolson zu lieben; und es bleibt dem Leser überlassen, zu glauben oder nicht zu glauben, dass May die ganze Zeit gewusst hat, was Marcher sich nicht eingestehen kann. Vielleicht konnte er sie nicht lieben, weil er schwul war. Und weil er außerstande war, mit seiner Sexualität umzugehen, schaffte er es auch nicht, sonst jemanden zu lieben. Das, erklärt Kaplan, ist «eine Verkörperung von James’ albtraumhafter Vision, niemals gelebt, die Liebe und die Sexualität verleugnet zu haben».

Noch viel düsterer wird die Erzählung (was im Zusammenhang mit seinen Romanen fast nie der Fall ist), wenn man etwas von James’ Biografie weiß. Man begreift dann, dass die Katastrophe, auf deren Eintreffen man die ganze Zeit gewartet hatte, tatsächlich das Leben war, für das sich James entschieden hatte – oder das ihm aufgezwungen worden war. «In seinem ganzen Werk», schrieb Leon Edel, «findet sich keine zweite Geschichte, in die er so viele eigene Gefühle investiert hätte.» Im «Tier im Dschungel» offenbart sich James’ einsames Dasein in seiner beängstigendsten Manifestation: als ein Leben reiner Kälte. In der Erzählung findet sich der Satz: «Er war ein Mann seiner Zeit gewesen, der Mann, dem nichts auf Erden widerfahren sollte.»

Eve Kosofsky Sedgwick schreibt: «Die Leugnung, dass das Geheimnis einen Inhalt habe – die Behauptung, dass sein Inhalt gerade ein Fehlen sei –, ist eine elegante und ‹befriedigende› James’sche formelle Geste.» Aber das ist eben keine elegante oder befriedigende formelle Geste. Es ist offensichtlich eines Mannes Erkenntnis, dass seine Unfähigkeit zu lieben eine Katastrophe gewesen ist; es ist aber auch – für Leser, die mit Edels oder Kaplans James-Biografien vertraut sind, und für solche, die den Willen haben, im Text selbst entsprechende Indizien zu entdecken – die Geschichte eines schwulen Mannes, der durch seine Sexualität zu einem tiefgefrorenen Dasein in der Welt verurteilt wurde. «Das Tier im Dschungel» ist mit all seinen Implikationen eine trostlose und verstörende Geschichte, laut Edel James’ «modernste Erzählung». «Keine Leidenschaft hatte ihn jemals berührt, denn das war es, was Leidenschaft bedeutet. Er hatte sie außerhalb seines Lebens beobachtet, nicht von innen her erfahren.»    

 

(Aus dem Englischen übersetzt von Giovanni und Ditte Bandini)

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