Selbstbestimmungsgesetz - Die Abschaffung des Körpers

Mit Nachdruck arbeitet die Bundesregierung am sogenannten „Selbstbestimmungsgesetz“, also der Abschaffung des Körpers als biologische Tatsache. Diese Körperfeindlichkeit hat in Europa eine lange Tradition. In den USA wurde sie in Gestalt des Puritanismus prägend. Nun kehrt die Verachtung des Körpers nach Europa zurück.

Wäre heutigen Linkspuritanern wohl ein Dorn im Auge: „La jeunesse de Bacchus“ von William-Adolphe Bouguereau (1825–1905) / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Im Sommer letzten Jahres beschloss die rot-grün-gelbe Regierungskoalition die Ausarbeitung des sogenannten „Selbstbestimmungsgesetzes“. Bis zur Sommerpause soll es verabschiedet werden. Lobbyvertreter machen Druck. Das Bundesfamilienministerium beschwichtigt. Mit dem neuen Gesetz soll es möglich sein, den Geschlechtseintrag auf dem Standesamt zu ändern, ohne ein Gutachten oder ein ärztliches Attest vorlegen zu müssen. Auch Jugendlichen ab 14 Jahren soll die Änderung des Personenstandseintrags erleichtert werden.

Das Geschlecht wird damit hochoffiziell von einer biologischen Tatsache in eine idiosynkratische Kategorie umgedeutet. Der Körper als körperliche Realität wird faktisch abgeschafft. Und diese Abschaffung des Körpers wird als „Selbstbestimmung“ begriffen. So als gehörte der Körper zum Selbst eigentlich nicht dazu. Schon der Name des Gesetzes ist verräterisch.

Diese Entkörperlichung des Menschen kennen wir aus der europäischen Kulturgeschichte nur zu gut. Sie ist ein Produkt des Christentums. Oder genauer: dessen, was Glaubensbürokraten in Laufe der Antike aus dem Christentum machten. Ziel war vor allem eine Abgrenzung gegenüber den Polytheismen und ihren teils sehr sinnenfrohen und archaischen Ritualen und Festen – Dionysien und Bacchanalien inklusive.

Inwieweit diese kirchenoffizielle Körperverachtung die Alltagskultur späterer Jahrhunderte tatsächlich prägte, werden wir aufgrund der schlechten Quellenlage nie erfahren. Offensichtliche gesellschaftliche Relevanz bekam sie jedoch ab dem 16. Jahrhundert, als eine neue gesellschaftliche Klasse den Umgang mit dem Köper und die Sexualmoral für sich entdeckte: das Bürgertum.

Körperfeindlichkeit setzte sich in der Aufklärung fort

In Abgrenzung von den eher laxen Sitten des Adels einerseits und volkstümlichen Derbheiten andererseits entwickelt das Bürgertum mit dem Beginn der Neuzeit einen sittenstrengen Puritanismus, der sich auf reformatorische Lehren berief und über die Gegenreformation auch ins katholische Bürgertum ausstrahlte.

Diese Körperfeindlichkeit schreibt sich in säkularisierter Form in der Philosophie der Aufklärung fort. Auch vielen Vordenkern der Aufklärung ist der Körper verdächtig, seine Triebe unvernünftig, sein Begehren dunkel, seine Sinneseindrücke trügerisch. Dem gegenüber stand für die Aufklärung strahlend und unbefleckt die „res cogitans“, die Vernunft, alleinige Zierde des Menschen, Mittel der Erkenntnis und Werkzeug, um die Welt rational zu strukturieren.

 

Mehr aus der „Grauzone“:

 

Dieser Puritanismus der Aufklärung im Namen eines unkörperlich gedachten Geistes beherrschte die bürgerliche Alltagskultur und Lebensauffassung bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Der Körper und insbesondere die Sexualität galten allenfalls als Werkzeug der Fortpflanzung und der Arbeit, deren Neigung zu Sinnlichkeit und Ekstase aber jederzeit mit Mitteln der Selbstzucht und der Ratio einzuhegen sei. Der wahre Mensch ist Geist, und nur Primitive und Unkultivierte geben sich ihrer Körperlichkeit hin.

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass unsere sogenannte Linke nichts anderes ist als eine zutiefst bürgerliche, ja kleinbürgerliche Bewegung mit progressiver Fassade und reaktionärem Kern, dann hat sie ihn mit ihrer Leugnung des Körpers erbracht.

Puritanismus als Krisensymptom

War sich die traditionelle marxistische Linke im Namen des Materialismus der Bedeutung des Körpers für die menschliche Existenz immer bewusst, so schafft die neue Linke den Körper ab. Das Ich ist nicht mehr Einheit von Körper und Geist, von Arbeit, Schweiß, Sex und Schmerz, von Reflexion, Überlegung und Ratio, sondern ein körperloses Etwas, das vor allem aus Gefühlen, Sehnsüchten und egomanen Selbstverwirklichungsphantasien besteht.

Diese faktische Abschaffung des Körpers ist nicht nur wissenschaftlicher Unsinn und verkennt vollständig seine Bedeutung für das, was wir gerne Geist nennen. Sie übersieht auch, wie sehr wir uns als Individuen über unsere Körperlichkeit, über unsere körperliche Präsenz definieren.

Es verwundert in keiner Weise, dass die Wurzeln für diese neulinke Körperverachtung in den USA liegen, also dem Epizentrum des Puritanismus und eines verklemmten Verhältnisses zur Sexualität. Im Grunde ist die Gender- und Queerbewegung nichts anderes als der klassische Puritanismus amerikanischer Ausformung in popkulturellem Gewand. Der Geist soll über den Köper siegen. Besser noch: der Körper gar nicht existieren. Denn der Köper ist Sünde. Was er mit sich bringt, ist unmoralisch und verwerflich.

Dass dieser säkulare Puritanismus, der sich nicht minder hysterisch, verbissen und fundamentalistisch gibt als sein religiöses Original, nun auch in Europa Fuß fasst, mutet wie ein Treppenwitz der Geschichte an. Doch historisch betrachtet ist der Puritanismus nichts anderes als ein gesellschaftliches Krisensymptom. So gesehen kann seine Renaissance eigentlich nicht überraschen.

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