Sachbuch im Dezember - Expansion als Prinzip

Der britische Historiker Orlando Figes erzählt Russlands Geschichte pointiert und elegant geschrieben als Politik der territorialen Ausdehnung – zur Sicherung der eigenen Grenzen.

Führt Wladimir Putin ein Land mit expansionistischem Wesen? / dpa
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Thomas Speckmann ist Historiker und Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität Potsdam.

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Was ist eigentlich mit Russland los? Von Tag zu Tag wirken die Nachrichten aus Moskau bedrohlicher. Erst die „Spezialoperation“ gegen Kiew, dann die Teilmobilmachung Russlands und nun immer lauter der Ruf nach dem Einsatz von Nuklearwaffen gegen die Ukraine. Wo soll, wo wird das enden? Diese Frage stellt sich immer dringlicher. Kann man sie überhaupt aus der unmittelbaren Gegenwart heraus beantworten? Aus dem Moment der Breaking News vom ukrainischen Kriegsschauplatz heraus? Vielleicht hilft ein Blick zurück in die immer schon sehr kriegerische Historie Russlands. Orlando Figes zeichnet sie in einer pointiert verfassten Erzählung nach – in all ihrer Brutalität, in all ihrem Schrecken. Dazu dürfte der Professor für Geschichte am Birkbeck College in London wie nur wenige andere berufen sein – international bekannt für seine elegant geschriebenen und vielfach ausgezeichneten Standardwerke nicht nur zu den politischen und militärischen, sondern auch zu den gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen in Russland und der Sowjetunion.

In seinem neuen Buch macht Figes eine Reihe wiederkehrender Motive und struktureller Kontinuitäten aus. Er erinnert daran, dass sich Russland auf einem flachen und offenen Territorium ohne natürliche Grenzen entwickelte. Seine Lage habe es für Invasionen anfällig gemacht, aber auch offen für den Einfluss umliegender Mächte, deren Beziehungen zu Moskau vom Handel definiert worden seien – so bei den Chasaren, Mongolen, Byzantinern, Europäern und Osmanen.

Ein expansionistischer Staat?

Vom 16. Jahrhundert an erkennt Figes einen russischen Staat, der stärker wurde und sein Hauptaugenmerk auf die Verteidigung der eigenen Grenzen legte. Diese Priorität prägte die Landesgeschichte: die Unterordnung der Gesellschaft unter den Staat und militärische Anforderungen.

Daraus leitet Figes eine Verhaltens­tradition ab, die bis heute die Nachrichten aus Moskau prägt: eine Politik der territorialen Ausdehnung, um Russlands Grenzen zu sichern. Vom Aufstieg Moskowiens oder Moskaus, dem Gründungskern des russischen Staates, bis zu Putins Kriegen in der Ukraine lehre die russische Geschichte, dass Russland dazu neige, die eigene Sicherheit zu stärken, indem es seine Nachbarländer schwach lasse und Kriege jenseits der eigenen Grenzen führe, um feindliche Mächte auf Abstand zu halten.

 

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Bedeutet dies, dass Russland seinem Wesen nach expansionistisch ist, wie ihm angesichts von Putins Aggression vorgeworfen wird? Oder sollte seine Tendenz, nach außen zu drängen und die Räume ringsum zu kolonisieren, eher als Defensivreaktion betrachtet werden, weil man es in Moskau für notwendig hielt und weiterhin hält, zum eigenen Schutz Pufferstaaten zu besitzen? Figes greift diese gegenwärtig kontrovers diskutierten Fragen selbst auf. Eine Antwort gibt er mit seinem Hinweis auf Moskaus Sieg über ein großes Tatarenheer im Jahr 1380 – das erste Mal, dass eine russische Streitmacht gegen die Mongolen eine Schlacht gewinnen konnte.

Russland vermisst Dank

Für Figes markiert dies nicht nur den Beginn der Befreiung Russlands von den „tatarischen Ungläubigen“, sondern auch den Moment des „nationalen Erwachens“. Und in der Tat wird dieser Sieg in Russland immer noch gefeiert. Putin hat mehrfach auf ihn verwiesen als Beweis dafür, dass sein Land schon im 14. Jahrhundert eine Großmacht gewesen sei und Europa vor der „Mongolengefahr“ gerettet habe. Diese Selbstwahrnehmung – Russland als Wächter, der Europa vor den „asiatischen Horden“ beschützt – ist seit dem 17. Jahrhundert Bestandteil des nationalen Mythos, als das Moskauer Reich anfing, sich selbst als europäische Macht in der asiatischen Steppe zu sehen.

Heute ist der Sieg auf dem Kulikowo Polje nach dem Urteil von Figes im nationalen Bewusstsein der Russen eng mit weiteren Episoden verknüpft, als das militärische Opfer Russlands erneut den Westen „rettete“, wie gegen Napoleon und Hitler. Doch jedes Mal sei es Russland nicht gedankt, von den westlichen Verbündeten sei es nicht gebührend gewürdigt worden – so zumindest die russische Wahrnehmung, die Figes an sich sehr einfühlsam beschreibt. Den bis heute in Russland tief sitzenden Hass auf den Westen führt er nicht zuletzt auf diesen nationalen Mythos zurück.

Der Unterschied zwischen Asien und Europa

Für Figes markiert schließlich die Herrschaft Iwans des Schrecklichen den Beginn von Russlands Wachstum als imperialer Macht. Er verdeutlicht dies sehr anschaulich mit einer Statistik: Vom Beginn des 16. Jahrhunderts bis zur Revolution von 1917 wuchs das Russische Reich im Durchschnitt täglich um 130 Quadratkilometer. Damit sei aus dem Moskauer Kerngebiet das größte Territorialreich der Welt entstanden.

Auch dieses außergewöhnliche Wachstum, das bislang keine andere Macht in der Weltgeschichte erlebte, erklärt Figes mit dem Fehlen natürlicher Grenzen, wodurch Russland wiederum selbst angreifbar war. Entsprechend wurde die Eroberung von Kasan im Südwesten Russlands, bis heute Zentrum des russischen Islam, 1552 als ein „Sieg der Vorsehung für die Orthodoxie“ gefeiert – der erste Sieg über den Islam seit dem Fall Konstantinopels fast hundert Jahre zuvor. Nun standen die Steppengebiete im Osten offen. Russlands Armeen konnten weiter vorstoßen, um die Reichtümer Sibiriens und die Handelsrouten nach Zentralasien und China unter russische Kontrolle zu bringen.

In den folgenden Kriegen sollte sich dann nach der wieder einmal luziden Russland-Analyse von Figes zeigen, was bis heute gilt: Russland konnte sich leichter in Asien ausdehnen, wo es eine europäische Macht war, als in Europa, wo die westlichen Nachbarn stärker waren und sich auch in diesen Tagen zunehmend fragen: Was ist eigentlich mit Russland los?

Orlando Figes: Eine Geschichte Russlands. Klett-Cotta, Stuttgart 2022. 448 Seiten, 28 €

 

Dieser Text stammt aus der Dezember-Ausgabe des Cicero, die Sie direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

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