Folgt Chinas Aufstieg einem Masterplan; vielleicht sogar einer Art „Playbook“? Man könnte das tatsächlich glauben, liest man allein den Titel des gerade auf Englisch erschienenen neuen Buches der chinesischen Wirtschaftswissenschaftlerin Keyu Jin: „The New China Playbook: Beyond Socialism and Capitalism“. Es lohnt sich, dieses Buch zu lesen. Man erfährt darin viel über Chinas Selbstverständnis, über kulturelle, politische und wirtschaftliche Kontexte; und nicht zuletzt zeigt die an der London School of Economics lehrende Keyu Jin, was man in asiatischen (nicht nur chinesischen) Kontexten aktuell schreibt, andeutet oder erst gar nicht anspricht.
Chinas Aufstieg durch „Öffnung und Reform“ ist einzigartig; einem „Playbook“ aber folgte er nicht. Es war vielmehr, in den Worten von Deng Xiaoping, ein tastendes Überqueren des Flusses, von Stein zu Stein, Versuch und Irrtum, Korrektur und neue Justierung. Die Erfolge, von Keyu Jin in ihrem Buch in Phasen unterteilt, sind enorm und weit mehr als wirtschaftlicher Natur: Man hat das Analphabetentum ausgerottet, den Hunger besiegt, eine breite Mittelklasse, ein leistungsfähiges Bildungssystem, ein leidliches Sozialsystem geschaffen.
Unumstritten war das nie. Ein Beispiel dafür, dass die zunächst als Agrarreform angelegte Öffnung nach der Niederschlagung der Studentenbewegung auf dem Tiananmen gegen planbürokratische Orthodoxie gerettet werden musste, kommt in dem Buch leider zu kurz; doch dass mit „Öffnung und Reform“ faktisch ein neuer Gesellschaftsvertrag formuliert war, findet Erwähnung. Dass es aber auch andere, überaus erfolgreiche Gesellschaftsmodelle in Skandinavien oder mit der „sozialen Marktwirtschaft“ auch in Deutschland gibt (oder wieder geben könnte), bleibt unerörtert.
Die Herausforderungen Chinas
Jins Buchtitel legt eine Art Spielplan nahe, sogar einen, der jenseits von Sozialismus und Kapitalismus verortet ist. Das ist mutig und spannend zu lesen. Denn tatsächlich hat China lange Zeit sehr erfolgreich versucht, Elemente aus verschiedenen wirtschaftlichen Systemen zu vermischen. Mit den großen Erfolgen gehen aber auch große Herausforderungen einher. Umwelt, Natur und Klima; Ressourcen- und Energieeffizienz; Demografie und Sozialstaat sind nur einige davon.
Aktuelle (nicht allein konjunkturelle) Herausforderungen kommen hinzu. Vielleicht ist es der Geschwindigkeit der Entwicklung nach Abschluss des Manuskripts geschuldet, dass die laufende innerchinesische Debatte über eine Anhebung der Altersgrenzen für die Rente, die ausgeprägte Skepsis gegenüber dem wirtschaftlichen Umfeld mit hohen Sparquoten und relativ schwachen Konsumausgaben, die erhebliche Jugendarbeitslosigkeit sowie die lautstarken Proteste der Älteren gegen Kürzungen im Gesundheitsbereich kaum Erwähnung finden.
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Ob die demografischen Herausforderungen, wie es die Autorin behauptet, allein durch Wachstum der Produktivität bewältigt werden können, ist angesichts ernster Hinweise auf Deflation noch nicht ausgemacht. Dieser Teil des Buches zeigt: China steht vor großen Aufgaben. Und dass in anderen Teilen der Welt politischer Nationalismus und wirtschaftlicher Protektionismus ihre unheilvolle Verbindung neu befestigen, ist gefährlich genug.
Keyu Jin kann man vielleicht so lesen, dass man die Grundlagen der chinesischen Entwicklung besser verstehen lernt, den globalen Kontext im Auge behält und den Interessen im geopolitischen und weltwirtschaftlichen Umfeld folgen kann. Kein neues „Playbook“, aber ein wirklich lesenswertes Buch.
Keyu Jin: The New China Playbook. Viking, New York 2023. 368 Seiten, ca. 22,38 €
Dieser Text stammt aus der September-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.
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