Literaturen im November - Manierismen, Mädchen, Metropole

Martin Mosebach schwankt zwischen genialer Kunst und epigonalem Kitsch. Annie Ernaux hebt zu einem neuerlichen Triumph ihres furchtlosen autofiktionalen Erzählens an. Und Harald Jähner verdichtet das Lebensgefühl der Roaring Twenties. Belletristik und Sachbuch im November.

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Punktuell Kunst

Martin Mosebach fragt in „Taube und Wildente“ nach der Trennschärfe zwischen Kunst und Kitsch.

Sommer in Südfrankreich. Die Sonne drückt, eine Katze quält eine Zikade, und Ruprecht Dalandt notiert in sein Tagebuch: „idyllisch ist auch unser Leben hier“. Gemeint ist der whiskyselige Müßiggang in der Chaumière, dem malerischen Landsitz der Familie, auf dem es so gediegen zugeht wie bei „Downton Abbey“

Hier inszeniert Martin Mosebach einen guten Teil seines Kammerspiels. Hauptdarsteller sind der Verleger Ruprecht und seine Frau Marjorie, die eine Vernunftehe führen. Sie lebt ihre Leidenschaften im Pförtnerhaus aus, er hat sich vor Jahren auf ein Verhältnis mit seiner Stieftochter Paula eingelassen. Seither plagen ihn Schuldgefühle und Albträume. 

Brillanz oder Kitsch?

Etwas Ablenkung verschafft die bunte Gesellschaft in der Chaumière, darunter ein Klavierspieler ohne Talent, ein Schönheitschirurg mit Jagdhund, ein britischer Dekorationsmaler, der gern mit indischem Akzent spricht, ein Vertriebsleiter mit höheren Ambitionen und eine blauäugige Lektorin. Die Herrschaften lassen sich vom portugiesischen Hauspersonal bedienen, pflegen ihre Allüren und tratschen hinter vorgehaltener Hand. In vielen Satzserpentinen voller Grandezza. Doch nach und nach wird ein Riss im bourgeoisen Idyll sichtbar.

Der Anlass der Zwietracht hängt im Salon: „Taube und Wildente“. Marjorie sieht in dem Stillleben aus dem 19. Jahrhundert einen faden Anachronismus, Ruprecht verteidigt die technische Perfektion in der Anwendung historisch gewachsener Regeln. Die Genialität des unbekannten Malers erkennt er an einer kleinen Abweichung, einem roten Punkt.

Geniale Kunst oder epigonaler Kitsch? Die Parallele zwischen der ästhetischen Kontroverse im Roman und der bisherigen Mosebach-Rezeption ist sicher kein Zufall. Fürsprecher des Autors loben den noblen Stil eines Beschreibungskünstlers und brillanten Intellektuellen, Kritiker halten seine Weltanschauung und Sprache für hoffnungslos antiquiert.

Mit dem Wille zum Zeitlosen

Kunstliebhaber Mosebach, dessen Romane häufig mit Gemälden verglichen wurden, lässt nun seinen Stellvertreter Ruprecht Dalandt mit dem angeblich unkultivierten Geschmack seiner Kritiker abrechnen. Ein Apologet der Tradition rümpft die Nase über das Kulturbanausentum all jener, die mit der Mode gehen.

Mosebach versteht es, wie schon in seinen vorigen Romanen, farbnuancenreich und detailversessen von Räumlichkeiten, vom Äußeren und Inneren seiner Figuren und insbesondere von den Irrungen und Wirrungen der Liebe zu erzählen. Die Sprache aber stolziert wie eh und je auf morschen Stelzen daher. Keine Seite ohne Manierismus. Dazu jede Menge Stereotype über Inder, Algerier und andere Nichtdeutsche. Und ein Frauenbild, das Patina angesetzt hat.

Was nun also: Kunst oder Kitsch? Teils, teils. Mit den formverspielten Sperenzien junger deutscher Autoren hat Mosebachs Einstecktuchliteratur jedenfalls nichts zu tun. Der Wille zum zeitlosen Klassiker à la Fontane ist überdeutlich. „Taube und Wildente“ ist übrigens der erste Roman, seit Mosebach Anfang des Jahres mit seinem Verleger Alexander Fest von Rowohlt zu dtv gewechselt ist. Die alte Schreibmaschine scheint er mitgenommen zu haben. Und sollte sich im Buch ein roter Punkt verstecken, seine Stilgemeinschaft wird ihn finden.  Jérôme Jaminet

Martin Mosebach: Taube und Wildente. dtv, München 2022. 336 Seiten, 24 €

 

„Die Erfindung eines Du“

Annie Ernaux erschließt bewegend das Leben ihrer unbekannten Schwester.

Als der französische Schriftsteller Serge Doubrovsky 1989 seinen Roman „Le livre brisé“ veröffentlichte, in welchem er die Depressionen und die Alkoholsucht seiner Frau publik machte und diese sich daraufhin wenig später das Leben nahm, dokumentierte er mit seiner Art autofiktionalen Schreibens (dessen Begriff er seinerzeit damit prägte), wie riskant, aber auch befreiend eine Literatur sein kann, die schonungslos das Allerprivateste ausstellt, ohne es bloß effekthascherisch zu inszenieren.

Doubrovskys Buch löste seinerzeit in Frankreich eine Debatte darüber aus, wie radikal Privates öffentlich gemacht werden darf – und rief literarische Gefolgsleute wie Didier Eribon oder die 1940 geborene Annie Ernaux auf den Plan. Und Ernaux, die nach klassischen Erzählbüchern 2008 ihren ersten autofiktionalen Roman „Die Jahre“ vorlegte und sich damit selbst die Tür zu einer rigorosen Art der literarischen Zurschaustellung ihres Lebens und das ihrer Nächsten aufstieß, entwickelte rasch einen eigenen autofiktionalen Ton. Bücher über den Tod ihres Vaters („Der Platz“), ihre Mutter („Eine Frau“), ihre ersten sexuellen Erfahrungen („Erinnerung eines Mädchens“) oder ihre Abtreibung („Das Ereignis“) machten sie zu einer, wie sie sagt, „Ethnologin ihrer selbst“.

Entsprechend spielen sich ihre kleinen autofiktionalen Dramen durchweg auf der Ebene familiärer Dekodierung ab. Doch ihre Leser erleben die darin Porträtierten nie als bloß Scheiternde oder von ihr Angeklagte, sondern durchweg als Opfer ihrer sozialen und charakterlichen Begrenzungen oder Deformationen. Das Resultat sind Bücher, die jedes einzelne für sich ausrufen: „Seht her! Familie ist Kampf!“ Und sich an eine Leserschaft richten, die bereit ist, Ernaux’ erlittenen Schmerz, den ihre Werke ungeschönt beschwören, auf sich selbst zu beziehen – und ihn dadurch mit ihr zu teilen und sich daran zu stärken.

Der erzählerische Kreis schließt sich

Ernaux, die mit ihren radikal autobiografischen Büchern auch all jenen Frauen eine Stimme gibt, deren Sache es nicht ist, für sich und jene zu sprechen, die ähnliche Erfahrungen machen mussten, den diesjährigen Literaturnobelpreis zuzusprechen, ist auch diesbezüglich eine hervorragende Entscheidung. Dieser Umstand wird ihren Worten noch mehr Gewicht und ihrer Stimme eine noch größere Reichweite verleihen.

Mit ihrem neuen Buch „Das andere Mädchen“ nun scheint sich der Kreis, den sie mit ihren insgesamt sieben sich ausschließlich um Mitglieder ihrer Familie drehenden Bänden gezogen hat, fürs Erste erzählerisch zu schließen. Ernaux enthüllt uns darin die lange von ihren Eltern vor ihr geheim gehaltene Existenz einer älteren, bereits im Alter von sechs Jahren an Diphterie verstorbenen Schwester. An sie richtet sie sich, in dem Wunsch, ihr auf die Spur zu kommen, in Form eines langen Briefes. Und es ist bewegend, wie Ernaux es kraft ihrer an die Unbekannte gerichteten Worte vermag, sich das kurze Leben der nie Erlebten ein Stück weit zu erschließen – und fiktional erfahrbar zu machen.

So verdichtet sich ihr „Brief“, der anhebt als tastende Erkundung einer Fremden und als der Versuch, eine innerfamiliäre Leerstelle rückblickend mit Worten zu schließen, am Ende zur berührenden literarischen Beschwörung – und zum neuerlichen Triumph ihres furchtlosen autofiktionalen Erzählens.  Peter Henning

Annie Ernaux: Das andere Mädchen. Suhrkamp, Berlin 2022. 80 Seiten, 18 €


Höhenrausch und Erschöpfung

Harald Jähner schreibt hinreißend neu über die Weimarer Republik.

Das Ende kündigt sich mit einem Tempowechsel an. Einer Verlangsamung. Einer Sehnsucht nach Ruhe und Vereinfachung. Mit der Wirtschaftskrise wird ab 1930 jede Ausgelassenheit von einem tiefsitzenden Pessimismus abgelöst, der selbst noch auf den Tanzflächen spürbar ist. Auf den aktionsgeladenen Charleston folgt wieder der getragene Walzer.

Dabei war es gerade die Geschwindigkeit, die zum Signum der turbulenten und experimentierfreudigen Weimarer Republik wurde. Die Schnelligkeit, mit der das Kaisertum 1918 hinweggefegt wurde, der steile Aufstieg der Wirtschaft und kurz darauf die Rasanz, mit der das Geld während der Inflation seinen Wert verlor. Das Tempo, mit dem versucht wurde, einen „Neuen Menschen“ zu schaffen, der an diese rastlose Hypermoderne angepasst war.

Harald Jähner hat ein großartiges Buch geschrieben über die 1920er-Jahre, von denen man doch glaubt, so viel zu wissen. Denn es gelingt ihm, einen hinreißend neuen Blick auf diese „kurze Zeit zwischen den Kriegen“ zu werfen. Indem er sie als Geschichte der Stimmungen, Überzeugungen und letztlich auch als Überforderungsgeschichte schreibt. Jähner, der für sein Buch „Wolfszeit“ den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse erhielt, erweist sich einmal mehr als eleganter Geschichtserzähler, indem er das Nebeneinander von Politik, Mode, Sport, Kunst neu zusammenführt und zu einem Lebensgefühl verdichtet.

Manches erscheint wie eine Blaupause der Gegenwart

Denn die Geschwindigkeit erfasste alle Lebensbereiche. Das hektische Schreibmaschinengeklapper in den Großraumbüros der Angestellten. Den Verkehr, Sinnbild des beschleunigten Lebens. Die Vergnügungssucht, die Gier nach immer neuen Sensationen. Die Übererregtheit, die Unversöhnlichkeit der politischen Ansichten, das Dürsten nach Radikalismen. Und wohl nichts illustriert die Dynamik der Weimarer Republik so sehr wie die Geschwindigkeit, mit der Frauen sich emanzipierten, sich als arrogante, knabenhafte Vamps inszenierten.

Manches, was Jähner schildert, erscheint wie eine Blaupause der Gegenwart, etwa die Fülle sexueller Identitäten, die ausprobiert werden, das Ende „einer bipolaren Erotik“, das der Schriftsteller Franz Blei 1928 begrüßte. Der Hang zur Selbstoptimierung. Die Extreme der Standpunkte in der öffentlichen Diskussion.

Und natürlich schildert Jähner auch den dunklen Untergrund, vor dem die Roaring Twenties so schillern. Den Frauenhass. Die Blutspur politischer Morde, die die Weimarer Republik durchzieht. Die Kampfgruppen von rechts und links. Den „Aufstand der Landschaft gegen die Stadt“. Und den Antisemitismus.

Am Ende, als die Wirtschaftskrise die Hoffnung, es gehe immer weiter aufwärts, zerstört, nähern sich die Extreme in ihrem Hass auf das Establishment, nähern sich links und rechts in ihrer Kulturkritik an. „Einfachheit, Gemüt und Gefühl“, das Altdeutsche in der Kunst: Der das jetzt fordert, ist kein Anhänger der Völkischen, sondern George Grosz, der giftige Zeichner der Weimarer Gesellschaft. Und als Alfred Döblin, der die Großstadt stets als „Mutterboden all seiner Gedanken“ gesehen hat, den Dialog mit der Natur empfiehlt, verliert die Metropole einen ihrer leidenschaftlichsten Verteidiger. Auf den Höhenrausch folgt Erschöpfung. Die Gesellschaft ist republikmüde geworden.  Ulrike Moser

Harald Jähner: Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen. Rowohlt, Hamburg 2022. 560 Seiten, 28 €

 

Diese Texte stammt aus der November-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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