Gibt es ein Menschenrecht auf Urlaub? - Ich reise, also bin ich

Verfolgt man die Schlagzeilen in den Medien, hat man den Eindruck, in Deutschland gäbe es nur eine Sorge: den nächsten Urlaub. Hier geht es aber mehr als nur um ein bisschen Erholung. Alexander Grau über die Frage, was eigentlich hinter dem Urlaubswahn steckt.

Menschenleere Strände sollen bald wieder mit Urlaubern gefüllt sein. Ob das bereits im Sommer möglich ist, bleibt abzuwarten. / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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„Öffnet Mallorca wieder für alle?“, titelte Bild-online am letzten Donnertag. Man spürte förmlich das Aufatmen, das durch das Land ging. Endlich wieder Malle! Das Leben hat wieder einen Sinn. Selbst Dieter Bohlens Rücktritt als DSDS-Juror konnte einen da nicht mehr erschüttern. Es geht wieder in den TUI-Flieger nach Palma. Herz, was willst Du mehr?

Offensichtlich bewegt kaum etwas das deutsche Gemüt so sehr wie die Frage, wann man endlich wieder in den Urlaub fahren darf. Von Gastronomen und Einzelhändlern einmal abgesehen scheint die Hauptsorge der meisten Deutschen ihre nächste Ferienreise zu sein. „Wo können wir Ostern und Sommer Urlaub machen?“, fragt RTL. Das Manager Magazin gibt Reisetipps „für Geimpfte und Genesene“. Der Deutschlandfunk rätselt: „Wann ist wieder Urlaub im Ausland möglich?“ Und sogar Cicero-online wollte gestern wissen: „Wohin kann man in der Pandemie noch verreisen?“ Was ein sorgenfreies Land dieses Deutschland doch sein muss. 

Ich reise also bin ich

Die Ferienreise hat in westlichen Ländern einen geradezu absurden Status bekommen. Insbesondere in Deutschland. Vom einfachen Statussymbol der Wirtschaftswunderjahre, als man im Käfer über den Brenner nach „Bella Italia“ fuhr, ist der Urlaub zur quasi religiösen Ersatzhandlung mutiert, die dem Mittelklassebürger Erfüllung und Lebenssinn verspricht. Doch wer meint, der Sinn des Lebens warte auf Teneriffa oder Pulau Sumba, der wird ihn auch dort nicht finden.

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Dennoch scheint die Urlaubsreise zu einer Art Menschenrecht des besser begüterten Teils der Menschheit geworden zu sein. Was schon deshalb komisch ist, weil genau diese Menschen ohnehin ein erholsames Leben leben – gemessen an anderen Lebensumständen auf diesem Planeten.

Doch der westliche Wohlstandsbürger definiert sich geradezu über seine Urlaubsreisen: Ich reise, also bin ich. Eine erstaunliche Entwicklung. Zumal wenn man bedenkt, dass die größte zivilisatorische Errungenschaft der Menschheit ihre Sesshaftwerdung ist: die neolythische Revolution. Der Mensch begann sich Hütten zu bauen, schuf Ackerflächen, säte und erntete und war froh, nicht mehr mit Kind und Kegel irgendwelchen Mammutherden hinterherziehen zu müssen. Das war vor etwa 12.000 Jahren.

Damals war alles anders

Viele tausend Jahre ging das gut. Die Menschen blieben an ihrem Ort. Nur Katastrophen bewogen sie, ihre Heimat zu verlassen. Einzig der Adel gönnte sich Kavalierstouren. Und einige Berufszweige wie Priester, Kaufleute und Handwerker bereisten die Welt. Der normale Bauer- oder Arbeitersohn kam allenfalls als Soldat in fremde Länder. Das war noch im 20. Jahrhundert so. Und es ist gar keine bösartige These zu vermuten, dass die Erfahrungen von Millionen Soldaten, die erstmals Italien und den Kaukasus sahen, in der Nachkriegszeit Fernweh zum Massenphänomen machten.

158 Millionen Kurz- und Langurlaube buchten die Deutschen im Jahr 2019, wobei die durchschnittliche Gesamturlaubszeit bei 12,2 Tagen lag. Die vielen buchungsfreien Reisen zu Freunden, Verwandten oder in das eigene Ferienhaus sind dabei gar nicht mitgezählt.

Konsum einer fremden Welt 

Bleibt die Frage: Was treibt die Menschen an? Fernweh, werden Sie jetzt sagen. Oder die Sehnsucht nach dem berühmten Tapetenwechsel. Aber ist da so? Der Soziologe Georg Simmel machte schon 1895 darauf aufmerksam, dass Tourismus im Zeitalter des Kapitalismus vor allem Vereinnahmung qua Konsum darstellt. Der bereiste Ort wird für eine gewisse Zeit erworben. Man kauft sich ein immaterielles Erlebnis, das – weil immateriell – medial dokumentiert wird.

Also klemmt der Urlauber zwischen sich und die Welt das Glasdisplay seiner Smartphones. Mit dessen Fotofunktion beglaubigt er den Konsum der fremden Welt, ohne dass dadurch das Fremde zu nah käme – und postet es rund um den Globus. Eigentlich ideal.

Ausdruck eines Abwehrreflexes

Denn die fremde Welt wird so nicht nur in Besitz genommen, sondern zugleich egalisiert. Sie erweist sich als harmloser Schauplatz der Globalisierung – genauso wie die heimischen Gefilde, in denen es schließlich auch thailändische Restaurants und spanische Tapas-Bars gibt.

Das Bedürfnis nach Urlaub entlarvt sich als Ausdruck eines Abwehrreflexes gegen die globalisierte Welt: Das Fremde wird verneint, indem es als Konsumgut vereinnahmt wird. Die Intensität des Urlaubswunsches ist nichts anders als ein Gradmesser des Bedrohungsgefühls durch die Globalisierung. Ohne sich reisend der Welt zu versichern, glaubt der Bürger der westlichen Welt, sie würde ihm entgleiten. Das ist natürlich Augenwischerei: Sie entgleitet ihm trotzdem.

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