Politiker-Sprech - Die große Transformation

Früher ging es um Reformen, doch damit ist es inzwischen nicht mehr getan. Für jeden Lebensbereich fordert die Politik heute „Transformation“ ein. Sie scheint in den existenzbedrohenden Szenarien der Gegenwart der letzte Ausweg zu sein.

Auf der Höhe der Zeit: Figur aus dem Film „Transformers“ / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Streng genommen ist das Spiel wohl aus. Glaubt man den Auguren hinter den perfekt geeichten Hygrometern und folgt man weiterhin den feinen Linien auf den bis zur x-ten Nachkommastelle berechneten Meteogrammen, so befinden wir uns als Menschheit in Gänze im letzten Akt einer Tragödie. Nichts geht mehr! Rien ne va plus! Längst häufen sich die Meldungen über Wetterextreme, während das antarktische Meereis im letzten Winter so langsam wie nie zuvor gewachsen ist. Die Männer im Ausguck also schlagen unvermindert Alarm: Panisch funken sie S.O.S., nachdem der zurückliegende Juli wieder einmal der heißeste seit Beginn der meteorologischen Aufzeichnungen gewesen ist und nun allerorten auch noch die Wälder brennen.

Auf dieser Ebene des Daseins, so hat es den Anschein, könnte es wohl morgen schon mit dem Homo sapiens sapiens samt Mitwelt vorbei sein. Und in solch handelsübliche Apokalypsen sind drohende Risikokaskaden noch gar nicht eingepreist: Was, so fragte jüngst etwa Luke Kemp vom ­Centre for the Study of Existential Risk an der Universität von Cambridge, was, wenn es in absehbarer Zeit zu simultanen Megakrisen kommen sollte? Hier also ein Wetterextrem und zeitgleich eine Finanzkrise oder ein globaler Krieg? Hier eine kollabierende Versicherungswirtschaft, die mit einer weiteren globalen Pandemie, einem Börsencrash, vielleicht sogar mit dem atomaren Erstschlag zusammenfällt? Man mag sich die Vielfalt in der Kombination von Endzeitschlachten nicht einmal vorstellen. Nein, das Spiel scheint wirklich aus zu sein.

Der große Sprung muss her

Gebannt also sitzen wir in den in Ost wie West wiedereröffneten Atomschutzbunkern oder kauern im kommunalen Hitzeraum, wo wir uns durch die Schalen des Zornes, die sieben Plagen des Untergangs zittern. Und mag der finale Endpunkt auch noch nicht ganz in Sicht sein, eines scheint bereits ganz gewiss: Nur das biblische Abaddon, so lassen es zumindest die Bilder aus den Abendnachrichten vermuten, kann den Fluten, wie man sie in diesem Sommer aus dem slowenischen Medvode, dem griechischen Volos oder aus Libyen zu sehen bekam, überhaupt noch das Wasser reichen.

Jetzt gibt es vielleicht nur noch eines, um den Höllensturz noch einmal abzufedern: eine grundlegende Verwandlung; eine alles umfassende Transformation. „Du musst dein Leben ändern!“ War das nicht vor über einhundert Jahren bereits die rettende Order, die Rainer Maria Rilke in einem kleinen Pariser Studierzimmer in eines seiner vielen Schreibhefte notiert hatte? Die letzte Zeile aus seinem berühmten Sonett „Archaischer Torso Apollos“?

 

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Auch heute könnte sie ein vielleicht letztes Mal die Richtung weisen: Das Leben ändern – fundamental und ganz grundsätzlich. Aus der globalen Krise, so viel scheint sicher, führt uns gewiss nicht eine weitere Paleo-Diät oder eine gut vermarktete Reformbemühung. Nein, was jetzt gefordert ist, das ist der ganz große Sprung: Nicht Umkehr, sondern Überwindung! Nicht „re-“ und „zurück“, sondern „trans-“, „hinüber“ und auf hoffentlich immer „drüber hinweg“! Ganz so, wie es schon die alten Texte sagten: „In der Welt habt ihr Angst, doch seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“

Das Spezialgebiet von Endzeitsekten

Denn wenn eben nichts mehr richtig ist im grundsätzlich Falschen und wenn keine politische Reform mehr aus der Patsche hilft, dann wird es Zeit, jene geheimnisvolle Linie zu queren, die Diesseits und Jenseits – und mithin oben und unten für bis dato immer voneinander trennte. Alles, was hienieden vielleicht noch Plagen bereitet hat, könnte so auf eine ganz neue Ebene gehievt werden.

Und nur so könnte aus dem beiläufigen Appell aus dem oben zitierten Rilke-Sonett möglicherweise doch noch das „erlösende Stichwort zur Revolution in der 2. Person Singular“ werden, von dem einst Peter Sloterdijk träumte, als er in seinem noch immer lesenswerten Kommentar zu dem bekannten Gedicht einen neuen Menschentypus pries – einen, der in stetiger Willensgymnastik über seinen alten Adam hinauszuwachsen bereit sei.

Lange Zeit lag dieses befreiende „drüber hinaus“, dieses „trans“, das auf eine andere Seite führte, im Klang des heute oft nur noch dumpf nachhallenden Wortes „Transzendenz“ verborgen. Dieses Wort nämlich, es wies auf jenen magischen Ort hinterm Horizont, an dem niemand je war und an den auch morgen noch kein Auge hinreichen sollte. Kein Wunder also, dass Endzeitsekten wie Katharer, Wiedertäufer oder Waldenser historisch immer dann am stärksten wurden, wenn die Drohungen durch Risikokaskaden am größten waren. In einer Art religiösen Verblendung schreckte dann manch selbsterkorener Messias nicht einmal vor flammenden Kreuzzugsreden oder vor der Anstiftung zum Massenselbstmord zurück. Erst jüngst kursierte übrigens im medialen Geraune wieder eine Meldung, nach der irgendeine christliche Sekte mitten im kenianischen Shakahola-Urwald von Kilifi County zum Gruppensuizid angetreten war. In Erwartung des ganz großen Sprungs hatten sich dort wohl Hunderte Todessüchtige nach dem Leben getrachtet.

Die Geburt der Transformation

Uns Diesseitigen mögen solche Nachrichten zu Recht schockieren. Doch was bleibt eigentlich uns, die wir die vertikale Spannung längst nicht mehr spüren, wenn die Querung der rettenden Grenzen nur in transzendentalem Bewusstsein möglich und wenn das rettende Jenseits immer nur ein Ort am anderen Ufer des Lebens, mindestens aber der profanen Wahrnehmung diametral gegenüberliegend zu sein scheint? Wie soll man von neuem geboren werden in der erbarmungslosen Diesseitigkeit einer Moderne, der alles Übernatürliche so fabulös und fantastisch geworden ist wie die immergrünen Wiesen im Auenland von J.R.R. Tolkien?

Man will resignieren. Doch auch uns hat das Leben einen Durchschlupf gelassen. Auch den Hiesigen ist das Absprungbrett ins große Drüben versprochen: Der Traum von der alles ergreifenden Verwandlung! Just zu jener Zeit nämlich, als mit der beginnenden Renaissance das Jenseits in die Defensive geriet, kam im 14. Jahrhundert, zunächst über den Umweg des Altfranzösischen, ein Begriff in das europäische Denken zurück, dessen Ursprünge weit zurück im Lateinischen liegen: „Transformation“. Seit dem Ausgang des Mittelalters lag darin die Erlösungsformel eines sich selbst aufklärenden Bewusstseins. Die Selbsterleuchtung einer Welt im Schatten abgedimmter Himmelslichter. 

Aus der Überschreitung also wurde die Überformung, aus Metaphysik Metamorphose und aus Transzendenz schließlich Transformation. Ein genialer Kunstgriff. Vor ihm schien selbst die einstmals noch göttliche Schöpfung nicht mehr sicher zu sein. Bald schon nämlich brauchte es nicht mal mehr einen Gott, um das menschliche Dasein zu erklären. Auch dieses war Ergebnis von Transformationsprozessen: „Des lois de transformation des êtres organisés“ – „Das Gesetz der Transformation der organisierten Wesen“ – lautete dementsprechend der Untertitel zur französischen Übersetzung des Darwin-Klassikers von der „Entstehung der Arten“.

Der letzte Ausweg

Seither also verwandelt sich die Welt wie ehedem Callisto oder Daphne in Ovids „Metamorphosen“. Aus Steinen werden Menschen, aus Drachenzähnen Krieger. Denn was unter der wachsenden Bedrohung der Lebensräume jetzt einzig noch zu helfen scheint, das ist eine große, alles ergreifende Verformung: „Schon sahen die Fliehenden ihren Tod vor Augen, da rief die Frau in ihrer Angst die Hilfe der Alten an“, heißt es weitsichtig in einem alten Hausmärchen der Gebrüder Grimm: „Und in dem Augenblick waren sie verwandelt, sie in eine Kröte, er in einen Frosch. Die Flut, die sie erreicht hatte, konnte sie nicht töten.“

Und was ist schon eine Flut im profanen Hausmärchen gegen die nun drohende globale Sintflut, ja gegen den wachsenden Problemdruck, der sich im Zusammenkommen sozialer, ökologischer und ökonomischer Risiken abzeichnet? Will man in Anbetracht solch globaler Bedrohung nicht ebenso aus seiner angestammten Haut fahren, ja seine Form verändern wie der Frosch in der oben zitierten Märchengeschichte? Schon bald nämlich, so prophezeit es zum Beispiel der niederländische Transformationsforscher Jan Rotmans, ein in den letzten Jahren gern zitierter Professor für Sustainability Transitions, könnte es zu „skalenübergreifenden Systemkrisen“ kommen, die die planetarischen wie sozial-ökonomischen Leitplanken überschreiten. Wer wollte bei solchen Zukunftsaussichten nicht sein altes Adamskostüm abstreifen, um zum Adler, zum Fisch oder auch nur zur Kröte zu werden? 

So scheint in den existenzbedrohenden Szenarien der Gegenwart Transformation der letzte wirkliche Ausweg zu sein. Nicht von ungefähr verspricht daher in diesen Tagen besonders die Politik, alles zu verwandeln und zu überformen, was in der jetzigen Situation noch möglich scheint: Als größte Industrie- und Exportwirtschaft Europas, so heißt es etwa im 2021 geschlossenen Koalitionsvertrag der Ampelregierung, stünden wir in den 2020er Jahren vor tiefgreifenden Transformationsprozessen – „von der Dekarbonisierung zur Einhaltung des 1,5-Grad-Pfads über die digitale Transformation bis hin zum demografischen Wandel“.

Die Inflation der Transformation

Ganze 43-mal hat sich die regierende Zwangsgemeinschaft aus SPD, Grünen und Liberalen vor zwei Jahren das magische Füllwort „Transformation“ in die gemeinsame Arbeitsgrundlage diktiert. Automobilwirtschaft, Gesundheitswirtschaft, Verkehr, Transparenz, Mitbestimmung, Digitalisierung … Es ist, als sollte ein ganzes Land auf die nächste und hoffentlich für immer erlösende Ebene katapultiert werden: „Im Dialog mit Wirtschaft, Gewerkschaften und Verbänden wollen wir eine ,Allianz für Transformation‘ schmieden und in den ersten sechs Monaten des Jahres 2022 stabile und verlässliche Rahmenbedingungen für die Transformation besprechen“, so der mitreißende Sound im Manifest der Transformer. Reichten in den späten 1990er Jahren während der rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder noch die damals so oft beschworenen „Reformvorhaben“, so steht anstelle von Rückformung nun eine Art Update in den nächsten Level an.

Dabei ist die rettende Transformation längst in allen Klangfarben und in jeglichen Kombinationen zu haben. Der große Schritt nach drüben ist heute überall dort als Dummy-Term im Einsatz, wo die Kraft konventionellen Fortschritts nicht mehr hin-, geschweige denn ausreichend ist: Da sind etwa die sogenannten „Transformationstarifverträge“, mit denen die IG Metall seit geraumer Zeit den Frieden zwischen den Tarifpartnern abzusichern verspricht; da sind „Transformationsfonds“, die der aktuellen Regierung neue Möglichkeiten für Nebenhaushalte eröffnen; und da ist das „Transformationsgeld“, mit dem der Deutsche Gewerkschaftsbund einmal jährlich eine Zusatzzahlung für Arbeiter und Angestellte verheißt. Die Friedrich-Ebert-Stiftung schwärmt derweil von der Einführung sogenannter „Transformationsräte“, und selbst der heiß umstrittene Industriestrompreis könnte laut eines Vorschlags der SPD bald schon „Transformationspreis“ heißen.

Das bis dato Beste aber: Selbst die Revolution, bis gestern noch die stärkste Interventionsform, die im Raum der hart erkämpften politischen Realität zu haben war, dürfte bald schon ein Upgrade in den Transformationsmodus erhalten. Ein im März 2023 vom Bundeskabinett bewilligter Gedenkort für die Friedliche Revolution von 1989 jedenfalls soll auf den Namen „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ getauft werden.

Wir müssen unser Menschsein behaupten

Du musst ein anderer werden! Du musst dein Leben ändern! Ganz so, als wäre der Siedepunkt der Katastrophe bald erreicht, an dem die menschliche Zivilisation in einen anderen Aggregatzustand hinüberwechselt: vom Festen ins Flüssige und vom viel gescholtenen Cis-Befund ins Offene und Fluide. Denn „trans-“, dieses merkwürdige Über-die-Dinge-Hinausschießen, dieses Jenseits- und Darüber-hinweg-Sein, es ist längst zum tragischen Vor-Wort einer ganzen Epoche geworden: Trans-gender, Trans-formation, Trans-humanismus, Trans-ition. Nicht mehr hier- und niemals da sein. Und am Ende getrennt von allem und allen sein. Irgendwo auf der Schwelle zwischen cis und ultra, zwischen Realität und Traumgebilde. Ein Zustand, der nicht haltbar ist. 

Realitätsverloren wie im Bann einer unerträglichen Dissoziation und abgekoppelt vom rettenden Schmerz, den es jetzt vermutlich bräuchte, wenn wir als Menschheit nicht völlig die Bodenhaftung verlieren wollen, lassen wir uns von politischen Sprechblasen forttragen, während jetzt eigentlich die Zeit wäre, unser nacktes Menschsein zu behaupten. Denn seien wir ehrlich: Es wird keine Verwandlung geben. Der erste Leitsatz für die Verteidigung des Menschen heißt: Was immer passiert, wir bleiben hier!

 

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe von Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

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