Verrohung der politischen Sitten - Wenn „Oma Courage“ die Contenance verliert

Wer die oft hysterisch geführten Debatten unserer Zeit beklagt, sollte selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Das gilt insbesondere für Politiker und auch für Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Ein Mandat ist kein Freibrief für schlechtes Benehmen.

FDP-Politikerin Strack-Zimmermann / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Die viel beklagte Verrohung der Sitten äußert sich in der Bundesrepublik der neuen 20er Jahre in mannigfaltiger Weise. Sie ist dort zu beobachten, wo im öffentlichen Raum akribisch gefahndet wird nach Diskussionsfragmenten, die dem diskursiven Ganzen entnommen werden, um die nächste Sau durchs Dorf zu jagen. Auch dort, wo einzelne meinen, sie seien aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Religion oder ihrer „Geschlechtsidentität“ besonders sensibel zu behandeln, während sie selbst besonders aggressiv versuchen, ihre hypersubjektive Interpretation der Welt zur allgemeingültigen Wahrheit zu erklären. 

Sie ist dort zu sehen, wo sich der kritische Bürger auf seine Grundrechte beruft, um sich aufzuführen wie die Axt im Walde. Aber auch dort, wo Politiker meinen, ihre Mandate und ihre Privilegien machten sie sakrosankt – oder weil sie, wie Bundesinnenministerin Nancy Faeser, der irrigen Annahme verfallen sind, dass ein Politiker als Repräsentant des Staates gleich „der Staat“ sei, der nicht verhöhnt werden darf; obwohl sich „der Staat“ in einem demokratischen System von unten nach oben konstituiert – und nicht andersherum.  

„Hass und Hetze“

Selbstredend ist Politiker kein einfacher Beruf. Insbesondere Volksvertreter der vorderen Reihen arbeiten – entgegen allen Klischees – häufig viel und schlafen wenig. Gleichzeitig ist Lob eher selten, Kritik der Dauerzustand, und je mehr die Sitten verrohen, desto häufiger verabschiedet sich die jeweilige Kritik von der inhaltlichen Ebene auf die persönliche und lässt gewisse Höflichkeitsformen schmerzlich vermissen.   

Aber nicht jede harte Kritik, nicht jede Polemik, nicht jeder Klartext ist deshalb automatisch unangebracht oder, um das große Bullshit-Duo unserer Zeit zu bemühen, „Hass und Hetze“. Erstens kann eine angebrachte Kritik auch unangebracht formuliert werden. Daher wäre die bessere Frage zumeist auch die nach dem was, nicht die nach dem wie. Und zweitens: Wer sich aufrichtig eine Deeskalation wünscht in den oft hysterisch geführten Debatten unserer Zeit, muss selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Politiker könnten hier eine entscheidende, wenn nicht die entscheidende Rolle spielen – wenn sie nur wollten. 

Bitte keine Gute-Laune-Debatte

Dies soll kein Plädoyer für eine Gute-Laune-Debatte sein. Denn die Lage ist viel zu ernst, um so zu tun, als wäre sie es nicht. Und Sprache ist – anders als in der feministischen Linguistik behauptet – auch nichts, das Wirklichkeit schafft, sie kann sie nur beschreiben und interpretieren. Deshalb ist die „Ihr werdet sehen, dass wir wissen, was wir tun“-Attitüde samt Selbstvergewisserung der Richtigkeit der eigenen Utopien der amtierenden Bundesregierung auch so ärgerlich, wenn alle aktuellen volkswirtschaftlichen Kennzahlen doch sagen, dass Deutschland tendenziell eher den Bach runtergeht

Nein, es geht nicht um Gute-Laune-Debatten. Die will keiner und die braucht auch keiner. Worum es geht, sind Kritikfähigkeit und ein daraus resultierender angemessener Umgang des einzelnen Politikers mit Kritik an ihm oder dem Handeln seiner Partei respektive der Koalition, deren Mitglied seine Partei ist. Derzeit macht ein Video von Marie-Agnes Strack-Zimmermann die Runde. Die FDP-Politikerin, die für die Freien Demokraten ins EU-Parlament in Brüssel einziehen will, nennt sich jetzt großflächig plakatiert „Oma Courage“, die „EU-Politik für Menschen“ machen will, „nicht für Gurken“, die nach Brüssel will „um es sich unbequem zu machen“. Das sind Slogans, die sich die zuständige Werbeagentur Heimat TBWA ausgedacht hat.

„Weiß ihr Chef, was Sie hier tun?“

Im erwähnten Video ist die FDP-Politikerin zu sehen, wie sie, geschützt von Polizisten, Autogramme gibt. Zu hören ist ein Mann, der sagt, er arbeite im Maschinenbau für einen Automobilzulieferer. Er kritisiert in unaufgeregtem Ton: „Sie machen mit der gesamten Regierung gerade alle möglichen Arbeitsplätze kaputt.“ Mit Blick auf das derzeit auf vielen Plakaten kommunizierte Selbstverständnis Strack-Zimmermanns hätte man erwarten können, dass sie in die Diskussion geht. Stattdessen verliert die FDP-Politikerin die Contenance: „Was arbeiten Sie denn? Weiß Ihr Chef, was Sie hier tun?“, sagt sie gleich mehrfach. Und auch: „Nennen Sie mir doch mal Ihre Firma.“
 

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Niemand außer den Beteiligten weiß, welche Szenen dieser Szene vorausgegangen sind. Viral geht das Video trotzdem. Und das völlig zu Recht, weil hier eine Politikerin, die eine Liberale sein will, durch und durch unangemessen reagiert; weil diese Politikerin tatsächlich auf die Idee kommt, dass Kritik an der Bundesregierung vielleicht auch dadurch unterbunden werden könnte, dass jene, die eine solche Kritik äußern, Ärger mit ihrem Arbeitgeber bekommen. 

„Oma Courage“ verliert die Contenance

Ungeachtet dessen, ob Strack-Zimmermann das tatsächlich so sieht – in dubio pro reo –, ist aber schon der Umstand, in einer solchen Situation überhaupt auf eine solche Idee zu kommen, hochproblematisch. Ideen entstehen nicht einfach so, sondern benötigen eine entsprechende Grundlage wie die Pflanze den Samen, aus dem sie wächst. Die meisten Menschen, die im weitesten Sinne liberal sind, würden auf eine solche Idee jedenfalls nicht kommen respektive sie mindestens nicht öffentlich äußern. 

Da wundert es nicht, dass Strack-Zimmermann der Vorgang als Einschüchterungsversuch ausgelegt wird. Und da nutzt es auch nichts, wenn Strack-Zimmermann von diesem Vorfall ablenken will, indem sie ein Video teilt von einer dieser Szene vorausgegangenen Rede, die von Demonstranten gestört wurde. Denn auch in diesem Video bewahrt „Oma Courage“ nicht die Contenance und ruft den pfeifenden Demonstranten entgegen: „Ihr seid zum Teil zu blöd, um eine Pfeife in den Mund zu stecken!“

Geradezu grotesk ist daher ein Post des SPD-Politikers Michael Roth, der das zweite Video enthält, jenes also, das zeigt, wie Strack-Zimmermann eine Gruppe Demonstranten beleidigt. Roth will sich solidarisch zeigen mit Strack-Zimmermann und schreibt: „Es galt schon immer: Geschrei und Wut können niemals Argumente ersetzen. Und gerade jetzt sollten wir uns gegenseitig zuhören und es einfach mal mit Respekt versuchen.“ Als wäre das hirnlose Geschrei der einen, weil sie Politikerin ist, besser als das hirnlose Geschrei der anderen, weil sie Demonstranten sind. 

Zwischen Klartext und Hysterie

Ja, Politiker könnten ihren Teil dazu beitragen, dass die Debatten in diesem Land wieder etwas unaufgeregter geführt werden – wenn sie nur wollten. Dies gilt aber keineswegs nur für die FDP-Politikerin Strack-Zimmermann. Dies gilt für alle Politiker, die keine Populisten sein wollen, aber dennoch nicht fähig sind, zwischen kluger Polemik und dumpfer Pöbelei zu unterscheiden, zwischen harter Kritik und unfairen Vorwürfen, zwischen Klartext und Hysterie. 

Ich plädiere deshalb schon länger dafür, dass gewählte Volksvertreter zum Beispiel grundsätzlich nicht twittern sollten. Dadurch verschwinden zwar irgendwelche Mitschnitte von irgendwelchen Wahlkampfveranstaltungen nicht aus dem Netz. Aber immerhin machen es die einzelnen Politiker dann nicht noch schlimmer, indem sie versuchen, ihr schlechtes Benehmen zu kaschieren respektive davon abzulenken. Und immerhin – und das ist noch viel wichtiger – laufen sie dann auch seltener Gefahr, als gewählte Volksvertreter mitzuzündeln, statt mit gutem Beispiel voranzugehen.
 

Serdar Somuncu im Gespräch mit Ben Krischke
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