Philosoph Omri Boehm - Patriot mit Utopie

Ausgebildet wurde er vom israelischen Geheimdienst. Heute lehrt er Philosophie in New York und lebt in Berlin. Omri Boehm denkt über Israel nach, über den Tag hinaus.

Philosoph Omri Boehm / Marzena Skubatz/Lai
Anzeige

Autoreninfo

René Schlott, geboren in Mühlhausen/Thüringen, ist Historiker und Publizist in Berlin.

So erreichen Sie René Schlott:

Anzeige

Omri Boehm ist ein viel beschäftigter Mann. Der deutsch-israelische Philosoph kommt etwas verspätet mit Rollkoffer und Anzugtasche zum Gespräch mit Cicero in ein Café in der Nähe des Berliner Hauptbahnhofs. Von da aus soll es gleich weiter auf eine einwöchige Arbeitsreise gehen. Die Universität Heidelberg hat den Kant-Experten im laufenden Wintersemester für ein Seminar zum Denken des Königsberger Philosophen verpflichtet. Von Heidelberg aus, wo Boehm selbst 2005/2006 studierte, reist er weiter nach Wien, um auf einem Podium über die Meinungsfreiheit zu diskutieren. Wenige Tage später eröffnet Boehm dann mit einer Keynote das Literaturfest in München.

War Boehm, der mit seiner Familie in Berlin und New York lebt, schon seit der Veröffentlichung seiner beiden Bücher „Israel – Eine Utopie“ (2020) und „Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität“ (2022) ein in Medien und Öffentlichkeit beiderseits des Atlantiks viel gefragter Gesprächspartner, so hat sich die Zahl der Anfragen nach dem Pogrom der Hamas am 7. Oktober noch erhöht.

Neben seiner Rolle als öffentlicher Intellektueller muss Boehm auch noch seinen Aufgaben als Professor an der New School for Social Research in New York nachkommen, wo er seit 2010 Philosophie lehrt. Omri Boehm, der israelischer und deutscher Staatsbürger ist, hat sich schon vor längerer Zeit entschieden, in der Stadt zu leben, aus der seine Großeltern einst als Juden flüchten mussten; in Berlin wird er im nächsten Jahr Fellow am Wissenschaftskolleg sein.

 

Mehr zum Thema:

 

Boehm kam 1979 im galiläischen Gilon zur Welt, nicht weit entfernt von Haifa, Israels drittgrößter Stadt ganz im Norden des Landes. Nach der multikulturellen Metropole, in der Juden, Muslime und andere Religionen weitgehend friedlich zusammenleben, hat er seine Utopie eines binationalen israelischen Staates benannt. Die „Republik Haifa“ entwarf Boehm als Alternative zur für ihn längst gescheiterten Zweitstaatenlösung. Stattdessen schwebt ihm im Sinne des kantischen Universalismus eine Föderation aller Menschen vor, die zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan leben, ausgestattet mit den gleichen Rechten und Pflichten.

In einer Moschee in Haifa fand Anfang November ein gemeinsames Friedensgebet von arabischen und jüdischen Israelis statt. Boehm teilt die Bilder davon auf Twitter nicht zufällig. Denn auch nach dem 7.Oktober hält der ehemalige Soldat, der seinen dreijährigen Militärdienst beim israelischen Inlandsgeheimdienst Shin Bet im Gazastreifen ableistete, an seinem „utopischen Wagnis“ (Sonja Zekri) fest. Gerade jetzt müsse man über den Tag und über eine rein militärische Lösung hinausdenken, insistiert Boehm.

Er sei ein israelischer Patriot, aber kein Nationalist

Der Süddeutschen Zeitung sagt er: „Ich bin nicht für Krieg, aber ich bin auch kein Pazifist.“ Bei der Zerschlagung der Hamas könne es keine Kompromisse geben. Allerdings dürfe es genauso wenige Kompromisse bei der strikten Einhaltung des Völkerrechts durch die israelische Regierung und beim Schutz der Zivilisten in Gaza geben. 

Boehm, der von sich selbst sagt, er sei ein israelischer Patriot, aber kein Nationalist, hatte unmittelbar nach dem 7. Oktober kurz überlegt, mit seiner Familie nach Israel zurückzukehren, auch wenn er kein Reservist ist. Seine Eltern, die bis heute in seinem Geburtsort leben, aber rieten ihm davon ab.

Vom israelischen Staat einst mit einem Hochbegabtenstipendium ausgestattet, ist Boehm ein kühner, kompromissloser Denker, der sich nicht scheut, für seine tiefe Überzeugung einer absoluten Verpflichtung auf die Würde jedes einzelnen Menschen die biblische Opfergeschichte um Abraham und Isaak neu zu deuten: von einer Geschichte des vermeintlichen menschlichen Gehorsams zu einer Erzählung der menschlichen Selbstermächtigung gegenüber jeder ungerechten Autorität. Boehm sieht sich als Kritiker der zeitgenössischen Identitätsdebatten und der israelischen Siedlungspolitik, der er eine „Apartheidstruktur“ attestierte, immer wieder scharfen Angriffen aus allen politischen Lagern ausgesetzt.

Aber wenn man ihm begegnet und ihn in seiner besonnenen und klaren Art argumentieren hört, wünscht man sich, Platons alte Idee eines von Philosophen regierten Gemeinwesens möge eines Tages im Nahen Osten Realität werden. Boehm ist jedoch klar, dass die Umsetzung seiner Utopie eines gemeinsamen jüdisch-palästinensischen Staates mit dem 7. Oktober in noch weitere Ferne gerückt ist. Er setzt vor allem auf die nächste Generation. Seinen Kritikern hält er einen Satz Theodor Herzls entgegen, den er seinem Utopie-Buch selbstbewusst vorangestellt hat: „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.“

 

Die Dezember-Ausgabe von Cicero können Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen.

Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige