Ostdeutschland - Die selbst-verschuldete Spaltung

Vom Staat enttäuscht, von den Eliten missachtet: Die Wahlerfolge der AfD im Osten Deutschlands markieren weniger einen Rechtsruck als ein Votum gegen das Establishment. Solange man solche Wähler nur beschimpft, wird sich an der Entfremdung nichts ändern

Erschienen in Ausgabe
1990 wurde noch das Ende der DDR gefeiert. Was ist von der Euphorie übrig geblieben? / picture alliance
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Katja Koch leitet das Institut für Sonderpädagogische Entwicklungsförderung an der Universität Rostock.

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Warum braucht man im Westen 13 Jahre fürs Abitur? Weil ein Jahr davon Schauspielunterricht ist … Ja, so war das Anfang der neunziger Jahre im Osten. Der gelernte DDR-Bürger hatte schließlich auch reichliche 40 Jahre Zeit, um seine Witzekompetenz zu entwickeln. Der Witz diente als subversives Medium zur Rückeroberung politischer Freiheit, zumindest im Privaten. An diesem Kulturgut durften, nachdem die DDR-Eliten entmachtet waren, auch die Wessis teilhaben. Und zwar als Objekte des Spottes.

Erst seinerzeit entstand eigentlich die Ostidentität. Zuvor wollten (fast) alle bloß Gesamtdeutsche sein. Aber das änderte sich schnell. Ganz zu Beginn fiel das noch nicht auf. Der Osten wurde mit Westgeld und Gütern regelrecht geflutet. Der Konsumrausch brach los. Während der Wessi Jahrzehnte Zeit hatte, um sich zum „eindimensionalen Menschen“ (Marcuse) zu mausern, wurde der Ossi binnen Monaten in diesen Zustand katapultiert. Noch heute haben wir die Bilder von unseren ostdeutschen Mitbürgern vor Augen, die sich von westdeutschen Autohändlern erst völlig überteuerte Gebrauchtwagen aufschwatzen ließen, um anschließend stolz zu den flugs von großen Einzelhandelskonzernen aus dem Boden gestampften Verkaufszelten zu ziehen. Die Einkaufswagen quollen über – von Westseife, Haribo-Goldbären und palettenweise Zotts Fruchtjoghurt. Als ob die Mauer bald wieder geschlossen würde und man wenigstens die wenigen noch verbleibenden Wochen in vollen Zügen genießen wollte.

Der heimatliche Schoß war zerbrochen

Aber dieser Konsumrausch überdeckte nur kurze Zeit das, was sich in den Tiefenstrukturen Ostdeutschlands tatsächlich abspielte. Die Umlenkung der Konsumströme beschleunigte das Kollabieren der ostdeutschen Wirtschaft. Im Zentrum stand der Umbau einer staatlich gelenkten Mangelwirtschaft in eine kapitalistische Marktwirtschaft. Als Schlüssel hierfür galt die Privatisierung. Was sich nicht restituieren ließ, wurde verhökert. Der damalige Goldrausch des Westens ist bis heute ein kollektives Trauma. Und bis heute befinden sich ganze Teile ostdeutscher Städte in den Händen westdeutscher Ärzte, Vermögensberater und Anwälte. Womit auch hätten sich die Ossis am Ausverkauf ihrer Heimat beteiligen sollen? Die Volkseigentümer wurden nach 40 Jahren enteignet. So jedenfalls sehen sie das – bis heute. Dass diesen Vermögenswerten gleichzeitig gigantische Auslandsschulden gegenüberstanden, die späterhin gesamtdeutsch sozialisiert wurden, gerät dabei vielfach aus dem Blick.

Die DDR-Mangelwirtschaft hatte ihre Konsequenzen. Zusammenhalt und Solidarität wurden großgeschrieben, ob in der Hausgemeinschaft oder im Volkseigenen Betrieb – also unter seinesgleichen. Kunst und Kultur blühten, wenn auch politisch gelenkt. Regelmäßig marschierten ganze Betriebskollektive in Museen, Kunsthallen oder Volkstheater. Es gab ja sonst auch wenig. Mit all dem war schlagartig Schluss. Zahlreiche Betriebe schlossen ihre Werkstore, die Arbeitslosigkeit schnellte hoch. Die sozialstaatlichen Sicherungssysteme konnten zwar den Konsumrausch am Laufen halten, aber der heimatliche Schoß war zerbrochen und der Sitz im Leben genommen. Das Arbeitslosengeld übte keine Brückenfunktion aus, sondern wurde zum sozialen Schweigegeld. Mit Konsequenzen über Jahrzehnte hinweg, bis zur Rente.

Immerhin Schauspielunterricht

Gleichzeitig zogen Karawanen von Westdeutschen in ostdeutsche Spitzenpositionen. Neben gut qualifizierten Nachwuchskräften befand sich darunter nicht selten aber auch die dritte Garde Westdeutschlands, aus der jenseits der Grenze aus gutem Grund nichts geworden war. Aber sie hatte immerhin den Schauspielunterricht. Das sprach sich in Windes­eile herum.

Aus dieser Gemengelage heraus erst entwickelte sich der Ossi zum Ossi. Und er wehrte sich gegen die neuen Obrigkeiten so, wie er es in der DDR gelernt hatte. Mit Witz und Spott. Das war in aller Regel ganz persönlich motiviert. Jeder hatte einen oder mehrere Witzewessis vor Augen, deren koloniales Gebaren es zu verarbeiten galt. Heute ist das nicht mehr so, der Ossi kein Antiwessi mehr. Wer unter 30 ist, weiß ohnehin nicht mehr, wovon eigentlich die Rede ist. Alle anderen kennen sie noch, die Wessifrotzelei. Und sie wird auch noch praktiziert, aber vor allem als Folklore. Die Gegnerschaft der neunziger Jahre ist eher einem ironischen Miteinander gewichen.

Ein fataler Irrtum

Dennoch bäumt sich der Osten seit einigen Jahren wieder auf. Sichtbar wird dieser Protest allerdings nicht mehr an den Ergebnissen der Nachfolgepartei der SED, die man zu ihren Hochzeiten noch leicht als Ausdruck „alter Seilschaften“ verbuchen konnte und die irgendwann aussterben würde. An ihre Stelle ist die rechtsgerichtete AfD getreten. Rund ein Viertel der Ostdeutschen macht bei ihr inzwischen das Kreuz. Seitdem überschlagen sich ost- wie westdeutsche kulturelle Eliten insbesondere aus dem linksliberalen Milieu mit gut gemeinten Ratschlägen und verteilen Haltungsnoten. Dieses Lebensgefühl kennen die Ossis nur allzu gut. Das hatten sie schon einmal, Anfang der neunziger Jahre. Auch da wurde ihnen gesagt, was richtig ist und was falsch. Und falsch waren vor allem sie selbst. Viele, die sich vorher selbst niemals so gesehen hatten, wurden nun zu Ostdeutschen.

Das aber ist lange her, das schleicht sich aus? Ein fataler Irrtum! Selbst eine große Zahl derer, die aufgrund ihres Alters „den Osten“ nie selbst erlebt hat, fühlt sich heute als ostdeutsch – und meint damit nichts Gutes. Aufmerken sollte man auch angesichts der Tatsache, dass es eben nicht nur die „echten Ossis“ sind, die AfD wählen. Teilt man Sachsens Bevölkerung in die Gruppe jener, die die DDR noch bewusst erlebt haben (älter als 45), und die der Jüngeren, beträgt der durchschnittliche Stimmenanteil in ersterer 27, in der zweiten 25 Prozent. Vielleicht sollten wir, inzwischen tut es selbst Angela Merkel, endlich zur Kenntnis nehmen, dass das Land niemals so versöhnt war, wie man dachte.

Trotzdem hat die Wahl der AfD wenig mit einem einfachen Ost-West-Konflikt zu tun. Es ist viel schlimmer. Der Unmut richtet sich gegen den Staat und seine Institutionen, also gegen das Establishment. Auch das hatte man in der DDR schon geübt. Und zum Establishment zählt 30 Jahre nach der Wende selbst die Linkspartei. Den betreffenden Ossis ist dabei herzlich egal, ob dieses Establishment aus dem Westen stammt oder aus dem Osten. Allerdings sind sie empfänglicher für die Verheißungen der AfD. Die 1989 empfundene Selbstermächtigung ist, so muss es Ossis vorkommen, inzwischen lange unter die Räder geraten. Darauf rekurriert die AfD. Nicht umsonst textet sie auf Wahlplakaten „Wende 2.0“. „Ihr seid das Volk, lasst euch euer Land nicht von den abgehobenen Eliten diktieren.“ Das fällt dort auf fruchtbaren Boden, wo es kaum „Eliten“ gibt. Und es ist eine Quittung dafür, dass zunächst gezielt, später als Folge mangelnden sozialen, kulturellen und ökonomischen Kapitals und augenscheinlich gründlich verhindert wurde, dass sich in Ostdeutschland neue Eliten bilden.

Die Tribüne der Vergeltung

Der britische soziologe Colin Crouch hat den schleichenden Erschlaffungszustand moderner westlicher Demokratien bereits vor mehr als zehn Jahren beschrieben. Doch im Osten Deutschlands vollzieht sich dieser Prozess nicht schleichend, sondern eruptiv. Er muss als Versuch der Verarbeitung gesellschaftlicher Entgrenzung verstanden werden. Es ist ein Protest gegen die Kollateralschäden des Liberalismus. Gewachsen auf dem Boden der Verluste der neunziger Jahre und gut gedüngt durch die drei Jahrzehnte Anpassungsdruck danach. Die AfD bietet, so muss es den Enttäuschten scheinen, zum einen die Tribüne für die Vergeltung einer systematischen und durch eben jene Eliten einfach in Kauf genommenen strukturellen Benachteiligung. Zum anderen bietet sie ein Versprechen gegen die Zumutungen der Entgrenzungen.

Im Osten überlagerten sich in den vergangenen 30 Jahren zwei Prozesse mit einem heute explosiven Ergebnis. Ostdeutschland wurde einerseits in den Schoß des Kapitalismus aufgenommen und seine Sozialstruktur vollständig umgebaut. Gleichzeitig beschleunigten sich nach dem Wegfall der Ost-West-Blöcke im Weltmaßstab Freihandel und Globalisierung enorm. Die politischen Folgen sind verheerend: Die Nationalstaaten liefern sich zugunsten des Massenkonsums immer mehr den Erpressungspotenzialen der Märkte aus und verlieren an Regulierungskraft. Die politische Gestaltungsmacht der Nationalstaaten erodiert – seit Jahrzehnten.

Die Mechanismen des Marktes

Der gelernte Ossi weiß, worum es dabei geht. Schon vor rund 150 Jahren warnte Karl Marx vor dem „Fetischcharakter der Ware“. Gemeint war damit nicht die Vergötzung des Konsums, sondern eine Kritik an kapitalistischer Entgrenzung. Marx prophezeite dem modernen Kapitalismus die Herausbildung des Weltmarkts – mit der Folge seiner drohenden Unkontrollierbarkeit. Menschengemachte Sozialbeziehungen nehmen in ihm die Gestalt von Naturmächten an, die scheinbar nicht zu lenken sind. Am sichtbarsten werden die Folgen hiervon an der allseits, aber bisher folgenlos diskutierten Vernutzung unseres Planeten Erde. Es war die politische Hohepriesterin des Neoliberalismus Margaret Thatcher, die den Phantasmen des Fetischcharakters mit dem Schlachtruf „There is no alternative“ schon vor der Wende Ausdruck verlieh. Während die Ossis früher ihre Souveränität an die DDR-Nomenklatura verloren hatten, müssen sie nun mit ansehen, wie die neu gewonnene Souveränität unter den Mechanismen des Marktes zermahlen wird.

Die Globalisierung beschleunigte sich in den zurückliegenden 30 Jahren schrittweise. Die dadurch eingetretenen Änderungen waren lange kaum sichtbar. Aber irgendwann schlagen auch kleine Änderungen in große um oder werden durch katalytische Prozesse ans Tageslicht gespült. In Ostdeutschland begann das mit der Finanzkrise 2001 und wurde durch die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 vollbracht. Das regulatorische Eunuchentum des deutschen Staates hatte sich allerdings schon lange zuvor schrittweise ausgebildet. Ob Tatverdächtige, die nach einigen Monaten folgenlos die Untersuchungshaft verlassen dürfen, weil die Gerichte mit der Arbeit nicht mehr hinterherkommen, oder das Debakel um den Berliner Flughafen: Überall im Land zeigt sich der Staat immer wieder handlungsunfähig, eingezwängt in überbürokratische Regelungen und die Gesetze des Weltmarkts. Aber erst mit der Flüchtlingskrise wurde das Dilemma nicht nur hier und da, sondern überall und gleichzeitig sichtbar. Es wurde von heute auf morgen handgreiflich, dass sich mit den Rechtsnormen des rheinischen Kapitalismus der globalisierte Kapitalismus nicht bändigen lässt und die Synchronisierung beider Systeme politisch versäumt wurde.

Wer die Wahlergebnisse der AfD im Osten vor allem als einen Rechtsruck interpretiert, macht es sich daher zu einfach. Natürlich gibt es im Osten Nazis. Die gibt es im Westen aber auch. Vielmehr haben wir es mit einem, wenn auch nach politikwissenschaftlichen Maßstäben unreflektierten, Protest gegen die Liberalisierung der Märkte, letztlich mit einem Protest gegen das Ende der Politik zu tun. Und es ist keinesfalls absurd, dafür die bisherigen politischen Eliten in Haftung zu nehmen. Und ja, wenn es einen tief greifenden Mentalitätsunterschied zwischen echten Ossis und Wessis gibt, dann vielleicht den: Obwohl er ihm misstraut, erwartet der Ossi vom Staat, dass er die Gesellschaft ordnet.

In einer Sache voraus

Die Reaktionen in Ost und West auf die Wahlergebnisse der AfD können Beklemmungen hervorrufen. Damit, die AfD und ihre Wähler als „Nazis“ zu beschimpfen, kann man sich nicht nur mit einem Fingerschnippen auf der richtigen Seite fühlen, sondern sogar Wahlen gewinnen. Brandenburg und Sachsen zeigen es. Zugleich aber sorgt man damit dafür, dass der AfD noch mehr Wähler in ihre Arme getrieben werden und sie so schnell nicht mehr verlassen werden. Oder würden Sie jemandem Ihre Stimme geben, der Sie noch bei der letzten Wahl als „Nazi“ tituliert hat? Das Ergebnis dieser billigen Kulturtechnik ist eine immer tiefere Spaltung des Landes.

Dabei könnte man, wenn man einen Blick über den Tellerrand wagte, eine erstaunliche Entdeckung machen. Dass der Osten Europas ganz ähnlich tickt wie der Osten Deutschlands, kann nicht wirklich überraschen. Aber auch im Westen stößt der politische Liberalismus samt Freihandel auf immer größeren Widerstand. Ob in den USA, Italien oder Großbritannien: Zunehmend mehr Menschen gehen dem liberalen Establishment lagerübergreifend von der Fahne. Oder wie Johann Michael Möller sich ausdrückt: „Auch im Westen ist der Lack ab.“ Die Ossis zeigen den Wessis bloß ihre Zukunft. Nur, dass das kein Witz ist.

Dieser Text ist in der November-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

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