Neuropsychologe Thomas Elbert - Wie Gewalt funktioniert

Der Neuropsychologe und Traumaforscher Thomas Elbert hat bei seiner Arbeit in Kriegsgebieten in menschliche Abgründe geblickt. Und gelernt: Gewalt ist ein Gefängnis.

Der emeritierte Gewaltforscher Thomas Elbert ist noch immer gefragter Experte auf seinem Gebiet / Dirk Bruniecki
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Autoreninfo

Philipp Fess hat Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften studiert und arbeitet als Journalist in Karlsruhe.

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Hinter blühenden Wiesen und weiten Feldern ragen die Alpen empor. Von Thomas Elberts Terrasse aus lässt sich die bayerische Idylle besonders gut bestaunen. Der 72-Jährige ist allerdings gerade nebenan im Arbeitszimmer und fragt, ob er sich für das Foto ein Lächeln abringen muss. „Bei der aktuellen Weltsituation vergeht einem das Lachen ja“, findet er. Trotzdem lächelt Elbert an diesem Tag noch einige Male. Denn manche Dinge sind ohne Humor schwer zu ertragen. Das hat der Traumaforscher in seinem bewegten Leben lernen müssen. Seine Hoffnung für die Menschheit hat er nicht verloren, aber seine Zuversicht hat ziemlich gelitten.

Der ergraute, bärtige Mann mit den schmalen Augen nimmt am rustikalen Esstisch Platz. Und atmet durch. Thomas Elbert hat mehr Zeit für sich, seit er 2018 seine Professur an der Universität Konstanz aufgegeben hat. Bald geben der gebürtige Allgäuer und seine Frau auch ihren deutschen Wohnsitz auf und ziehen in ihr persönliches Arkadien nach Italien. „Dann ist Schluss mit dem Vagabundenleben“, sagt der Emeritus, in dessen Wohnung es vor afrikanischen Kleinodien nur so wimmelt. 

NET: Sein wissenschaftliches Vermächtnis

Von Ruhestand ist bis dahin noch nicht zu reden, erst am Tag zuvor hat das Leopoldina-Mitglied noch eine virtuelle Fortbildung zum Thema „Wie therapiere ich Täter?“ gegeben. Denn Elbert gilt gleichermaßen als Koryphäe für gewaltbedingte Traumata wie auch für traumabedingte Gewalt. Davon zeugen nicht nur Hunderte wissenschaftliche Publikationen, sondern auch die vielen Erfahrungen, die er im direkten Austausch mit Opfern und Tätern bei Gewaltverbrechen gesammelt hat. Es sind die weniger schönen Souvenirs aus Krisengebieten wie dem Kongo, Ruanda oder Uganda.

 

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Elbert kennt grauenhafte Geschichten. Von Folterüberlebenden. Von Kindern, die vergewaltigt und deren Eltern ermordet wurden, um sie zu Tötungsmaschinen zu erziehen. Von Männern, die menschliche Finger als Halskette getragen haben. „Wie können Menschen so entarten?“, habe er sich zu Beginn seiner Forschungstätigkeit gefragt. Und aus der Anforderung, die Überlebenden zu unterstützen, entstand schließlich sein wissenschaftliches Vermächtnis: die Narrative Expositionstherapie (NET). 

„Traumata“, sagt Elbert, „sind in erster Linie Gedächtnisstörungen. Die Menschen können nicht unterscheiden, was jetzt passiert und was war.“ Bei der NET werden traumatische Ereignisse einerseits als objektiver Teil der Lebensgeschichte, andererseits als subjektiver Teil der Gefühls- und Sinneswahrnehmung dokumentiert. Das soll Betroffenen dabei helfen, mit ihrer Vergangenheit abzuschließen, aus dem Gefängnis der Gewalt auszubrechen. 

Zwischen Vererbung und Veranlagung

Dabei ist Elbert ursprünglich weniger Therapeut als Naturwissenschaftler: „Mein angestammtes Forschungsgebiet ist die Organisation des Gehirns und die Fähigkeit des Menschen, es umzustrukturieren“, erklärt er. „Und ein Trauma ist die massivste Veränderung, die man sich vorstellen kann.“ Der Sohn eines Physiklehrers wollte schon immer wissen, wie die Dinge funktionieren. Und so lernte er auch, wie Gewalt funktioniert.

Liegt Gewalt in der Natur des Menschen oder wird sie erst durch das soziale Umfeld entfesselt? Beides, sagt Elbert. Die Erkenntnisse aus der Epigenetik zeigten, dass traumatische Erfahrungen teilweise über Generationen hinweg vererbt werden könnten. „Wenn Sie mir eine Speichelprobe geben, kann ich sagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit Ihre Mutter geschlagen wurde, oder ob Sie als Kind Gewalt erfahren haben“, sagt Elbert. Andererseits seien archaische Veranlagungen wie der männliche Jagdtrieb nicht zu leugnen: vom virtuellen Ballerspiel über das Ballspiel – bei dem sich Hooligans wirklich die Köpfe einschlagen – bis hin zum Krieg. 

Lügen als Gewaltkatalysator

Der zivilisierte Mensch sei jedoch nur imstande, Gewalt anzuwenden, wenn seine eingeprägte Hemmschwelle herabgesetzt ist, so Elbert. Ein bewährtes Mittel sei die Entmenschlichung des Gegners. Im Ukrainekonflikt diene etwa die russische Propaganda der „Entnazifizierung“ genau dazu. „Wenn die ihren Soldaten heute die Wahrheit sagen würden, wäre der Krieg morgen vorbei“, glaubt Elbert. Stattdessen werde Gewalt gegen das absolut Böse als reaktive Gewalt legitimiert – und für alternativlos erklärt. Dieses Problem sieht Elbert aber auch bei den deutschen Waffenlieferungen. „Über eine diplomatische Lösung habe ich auffällig wenig gelesen“, beklagt der krisenerprobte Psychologe. 

„Kriege können nur durch Lügen entstehen“, sagt Elbert. Und paraphrasiert damit den inhaftierten Journalisten Julian Assange. Seine Zuversicht, dass die Menschheit durch einen freien Zugang zu Informationen auch aus diesem Gefängnis der Gewalt ausbrechen kann, hat gelitten. Aber seine Hoffnung hat er nicht verloren.

 

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen.

 

 

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