Netflix-Serie „Squid Game“ - Gewalt ist geil

Mit drastischen Gewaltdarstellungen bricht die südkoreanische Netflix-Serie „Squid Game“ gerade sämtliche Abrufrekorde. Liegt der Hype um die Kapitalismus-Parabel in ihrer Sozialkritik begründet oder ist es stumpfer Voyeurismus, der mehr als 100 Millionen Zuschauer vor die Bildschirme lockt?

„Squid Game“: Wer beim Murmelspiel gewinnt, kommt in die nächste Runde, die Verlierer werden umgehend getötet / dpa
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Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Zwei Fälle mit ein paar Parallelen reichen schon aus, damit ein neues Phänomen gewittert wird. So auch in diesem Fall zweier erfolgreicher Kapitalismuskritiken aus Südkorea. Fall eins: Vor zwei Jahren gelang dem südkoreanischen Regisseur Bong Joon-ho mit seiner Sozialsatire „Parasite“ ein Kritiker- und Publikumserfolg. Der Film gewann vier Oscars und spielte bis März mehr als 250 Millionen Dollar weltweit ein, davon rund 70 Millionen in den USA – was für einen fremdsprachigen Film in den Vereinigten Staaten bemerkenswert ist.

Der Film handelt von einem Jungen aus armer Familie, der einen Job als Privatlehrer bei einer reichen Familie bekommt. Mit einigen Tricks gelingt es ihm, seiner Familie ebenfalls Jobs in der Villa seiner neuen Arbeitgeber zu verschaffen. Konventionellere Filme moralisieren und individualisieren gerne soziale Schieflagen, indem sie „gierige Millionäre“ anprangern und daran appellieren, dass wir alle einfach bessere Menschen sein müssen. Bong Joon-hos Kapitalismuskritik ist systemisch. Die arme Familie ist roh und ungehobelt, die reiche freundlich. In einer Szene heißt es sinngemäß: „Wie kann jemand, der so reich ist, so freundlich sein?“ Die Antwortet lautet: „Diese Leute sind so freundlich, gerade weil sie reich sind.“ Ganz im Sinne Brechts: „Wir wären gut – anstatt so roh, doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.“

Jeder kann es schaffen!

Fall zwei: Derzeit sprengt die südkoreanische Serie „Squid Game“ von Regisseur Hwang Dong-hyuk in sensationellem Ausmaß sämtliche Abruf-Rekorde. 111 Millionen Kontoabrufe in nur vier Wochen konnte Netflix mit der brutalen Kapitalismus-Parabel weltweit verbuchen. „Squid Game“ ist damit die erfolgreichste aller Netflix-Serien, und das in einer Zeit, in der der Markt überquillt vor Erfolgsserien. Die tödlichen Spiele, die im Zentrum der Handlung stehen, werden bereits in verschiedenen Ländern nachgeahmt – ohne echte Tote (das ist jedenfalls zu hoffen).

Wächst in Südkorea gerade ein Gegenpol zu der „Jeder kann es schaffen, wenn er wirklich will“-Hegemonie, die unzählige Hollywood-Filme über Jahrzehnte so oft wiederholt haben, bis sie wie ein Naturzustand wirkt? Ein besonders perfides Beispiel ist der Propaganda-Streifen „Das Streben nach Glück“ aus dem Jahr 2006. Hollywood-Star Will Smith spielt darin den Unternehmer Chris Gardener, der durch unglückliche Umstände obdachlos wird, dann aber zum Millionär aufsteigt, weil er „immer an sich glaubt“. Warum ein System es zulässt, dass Zigtausend Menschen unabgesichert im Elend landen, fragt der Film nicht – sie haben wohl einfach nicht genug an sich geglaubt.

Voyeuristische Gewalt-Exzesse

Zum Inhalt von „Squid Game“. Seong Gi-hun (Lee Jung-jae) ist hochverschuldet. Seiner Tochter kann er nichts bieten, das Geld seiner gebrechlichen Mutter hat er beim Pferderennen verspielt. Als er tiefer nicht sinken kann, bietet ihm ein mysteriöser Mann die Teilnahme an einem Spiel an; dem Gewinner winkt eine sagenhafte Geldsumme.

Zusammen mit 455 weiteren gescheiterten Existenzen wird er betäubt und auf eine abgelegene Insel gebracht. Dort bekommen die Teilnehmer von bewaffnetem und maskiertem Personal Anweisungen. Der Wettbewerb besteht aus sechs Runden mit koreanischen Kinderspielen. Im ersten Spiel müssen sie feststellen, dass es um Leben und Tod geht. Beim Spiel „Rotes Licht, grünes Licht“ – die Teilnehmer müssen die Ziellinie erreichen, wenn eine Puppe „grünes Licht“ ruft, dürfen sie laufen, wenn sie „rotes Licht“ ruft, dürfen sie sich nicht bewegen, sonst werden sie erschossen – sind es dann insgesamt 255 Menschen, die niedergemetzelt werden.

Neben Seong Gi-hin gibt es noch eine Handvoll Figuren, die eine Hintergrundgeschichte erhalten und eine Beziehung zum Zuschauer aufbauen. Der verschuldete Unternehmer Sang-woo (Park Hae-soo), die aus Nordkorea geflüchtete Taschendiebin Sae-byeok (Jung Ho-yeon), der alte, demente und an einem Tumor zu sterben drohende Il-nam (Oh Young-soo), die großmäulige Mi-nyeo (Kim Joo-ryung) und der pakistanische Flüchtling Ali (Anupam Tripathi). Die meisten anderen bleiben identitätslose Statisten, die nur eine einzige Funktion haben, nämlich die Gewaltlust der Zuschauer zu befriedigen.

Die guten Momente der Serie

Anders als „Parasite“ ist „Squid Game“ ästhetisch und inhaltlich in vieler Hinsicht banal. Die Bildsprache kennt man aus zig westlichen Netflix-Serien. Die Mittel, mit denen Spannung erzeugt werden soll, hat man schon in x-beliebigen Hollywoodblockbustern gesehen wie die Schlusssekunden eines Countdowns in Zeitlupe oder eine Abstimmung, bei der es beim allerletzten Wähler natürlich noch unentschieden steht. Zum Schluss gibt es einen Twist, der nur noch diejenigen überraschen kann, die noch nie einen Krimi gesehen haben, in dem sich am Ende der Gärtner als Mörder entpuppt. Merke: Die Figur, von der man es am wenigsten erwartet, ist erwartbar häufig doch nicht unschuldig.

Dennoch hat die erste Staffel mit ihren neun Folgen ihre guten Momente. Die Teilnehmer müssen eine Erklärung mit drei Regeln unterschreiben. Eine davon besagt, dass das Turnier abgebrochen wird, wenn die Mehrheit der Teilnehmer dafür stimmt. Nach der blutigen ersten Runde entscheidet sich eine knappe Mehrheit dafür und die Teilnehmer kehren nach Hause zurück. Dort erwartet sie aber eine solche Aussichtslosigkeit, dass fast alle von ihnen freiwillig (vermeintlich) auf die Insel zurückkehren.

Hier macht die Serie zwei Punkte deutlich. Das Turnier ist quasi das physisch brutalere Äquivalent zur systemischen Brutalität eines neoliberalen Marktkampfes. Die Erzählung, dass jeder es schaffen kann, wobei es letztendlich nur einer schafft, ist hier in zugespitzter Form zu sehen. Die Turnierveranstalter wiederholen immer wieder, die Teilnehmer seien freiwillig hier und hätten eine Wahl, zudem habe hier jeder die gleichen Chancen, unabhängig von der Herkunft. Was, wie im echten Leben, nicht stimmt, denn manche Teilnehmer haben durch Vorerfahrung Vorteile. Zudem breiten sich schnell die gleichen Diskriminierungsmechanismen aus wie in der Welt draußen: Frauen, Migranten und Alte werden diskriminiert, weil sie als zu schwach oder unintelligent für den Wettbewerb gelten – wie der Literaturwissenschaftler und Filmkritiker Wolfgang M. Schmitt in seinem Beitrag für seinen Youtube-Kanal „Die Filmanalyse“ festgestellt hat. Hinzu kommt: Von Freiwilligkeit, wie die Veranstalter immer wieder betonen, kann angesichts der Existenznöte und der Perspektivlosigkeit, die die Teilnehmer drängen, nicht uneingeschränkt die Rede sein.

Banale Moralappelle

Am Ende korrumpiert „Squid Game“ diese herausgearbeiteten Punkte selbst. Es gibt ein paar Reiche, die selbstverständlich böse und sadistisch  sind und auf die Teilnehmer wetten wie auf Rennpferde. Das Problem der Ungleichheit ist hier also kein systemisch bedingtes, stattdessen wird es wieder mal auf konkrete Individuen geschoben.

In einer der letzten Szenen liegt ein obdachloser Mensch reglos auf der Straße, keiner hilft ihm und eine Figur fragt rührselig, ob man überhaupt noch an die Menschen glauben könne. Als hätte die Serie nicht zuvor zumindest andeutungsweise herausgearbeitet, dass bestimmte Bedingungen Menschen zur Unmenschlichkeit treiben, markiert ein banaler Moralappell ans Individuum das Ende der Serie.

Stumpfe Konsumaffekte

Der Tagesspiegel schrieb jüngst, die Ursachen für den sagenhaften Erfolg lägen nicht in seiner Sozialkritik, die Südkorea-spezifische Elemente hat, aber auch auf andere Länder übertragbar ist. Stattdessen seien die Gründe ziemlich profan: „Hype erzeugt Hype erzeugt Hype. Schließlich gilt Südkorea als Kulturnation der Stunde. Ein Land, das beneidenswert durch die Pandemie kommt. Ein Land, dem K-Pop in aller Welt Absatzrekorde beschert. Ein Land, dessen Filmindustrie vom gefeierten Alien-Horror ‚Save the Green Planet‘ bis zum Oscar-Gewinner ‚Parasite‘ Lorbeeren sammelt.“

Dazu gehört auch, dass die Serie mit ihrer marktschnittigen Ästhetik und der leicht wegkonsumierbaren Gewalt selbst unreflektiert die stumpfen Konsumaffekte bedient, die sie zu kritisieren vorgibt. Der derzeit oft gezogene Vergleich zu „Parasite“ ist naheliegend, bei genauerem Hinsehen aber unbegründet.

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