Meistgelesene Artikel 2023: Dezember - 30 Jahre GenZ: Ein kollektiver Erziehungsfehler

Alle stöhnen über die GenZ, als wären abertausende überempfindliche, fordernde und zugleich verunsicherte junge Menschen vom Himmel gefallen. Doch wer hat die 13- bis 30-Jährigen erzogen, denen es an Resilienz mangelt, aber nicht an Ego? Ihre Eltern! Dies war der meistgelesene „Cicero“-Artikel im Dezember.

Überfordert und fordernd: die GenZ / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Miriam Stiehler leitet eine private Vorschule sowie eine Praxis für Förderdiagnostik und Erziehungsberatung. Sie studierte Sonderpädagogik und promovierte in heilpädagogischer Psychologie. Als Dozentin befasst sie sich mit den philosophischen und wissenschaftlichen Grundlagen von Bildung, als Autorin stellt sie auf www.WissenSchaffer.de Fachtexte und systematisch erprobtes Lernmaterial zur Verfügung. Zuletzt von ihr erschienen: „AD(H)S - Erziehen statt behandeln“.

So erreichen Sie Miriam Stiehler:

Anzeige

Zum Jahresende blicken wir auf die Themen des Jahres 2023 zurück und rufen die Cicero-Artikel in Erinnerung, die am meisten Interesse fanden. Lesen Sie hier: den meistgelesenen Artikel im Dezember.

Als die Generation Z zur Welt kam, waren mehrere Paradigmenwechsel im Gange. Der Begriff „Gehorsam“ war aufgrund einer pädagogischen Milchmädchenrechnung geächtet: Wer Gehorsam gewöhnt sei, gehorche einem Führer. Ergo: Wer niemandem gehorche, außer sich selbst, werde kein Faschist. 

Fortan stand jede Art von Verbindlichkeit und Struktur im Verdacht, Gleichschaltung zu erzeugen. Sei es das Basteln von Martinslaternen oder das Schreiben von Diktaten. So hielt der „situationsorientierte Ansatz“ Einzug in die Frühpädagogik, bei dem die Erwachsenen primär auf das reagierten, was die Kinder taten, statt Tätigkeiten zu steuern.

Humanismus und Hippie-Spiritualität

Gleichzeitig wurde in den 70er Jahren in einem Synkretismus aus Humanismus und Hippie-Spiritualität die Ganzheitlichkeit wiederentdeckt, das Holon Platons. Der Verstand wurde als kalt verachtet, die Sinne hingegen vergötzt. Der Rationalist urteilt mittels Anschauung und Verstand, der Holist jedoch schaut die Ideen qua Intuition. Nicht Kant und Popper, sondern Platon, Hegel, Marx und Husserl waren tonangebend. „Sich einfühlen“ ins Gegenüber, die wohlfeile „emotionale Intelligenz“ verhießen eine vermeintliche Demokratisierung menschlicher Beziehungen. 

Der Begriff des „urteilens“ wurde rasch mit „verurteilen“ gleichgesetzt. En vogue war stattdessen das „Ich bin ok – du bist ok“ der TZI. Nicht einmal die Naturwissenschaften blieben von holistischem Kitsch verschont, seit Millionen gerne lasen, wie der kalifornischen New-Age-Physiker Fritjof Capra bekifft am Strand saß und die Atome „schaute“, die in „Tanz Shivas“ aufeinanderprallten. Besonders in Westdeutschland setzte man dem Kollektivismus des 3. Reichs mit gutem Recht den betonten Individualismus entgegen. Leider gab man auch viele Werte auf, die verhindern, dass daraus bloßer Egoismus wird.

„Herr Doktor, was tut man gegen…?“

Völliger Individualismus ist gerade für Eltern schwer zu handhaben. Denn trotz aller Moden bestehen Regeln der Höflichkeit, Rechtschreibung usw. – und Grundwerte, die sich dem Gewissen des Einzelnen als allgemeingültig aufdrängen. Wie sollte man nun erziehen? Wie schon zur Zeit Mussolinis (Montessori) und Hitlers (Johanna Haarer) überschätzten Eltern die Halbgötter in Weiß, alias Kinderärzte, und vertrauten ihren fachfremden pädagogischen Aussagen.
 

Mehr zum Thema:


Das nutzte seit 1993 der Schweizer Arzt Remo Largo, um seine persönliche Auffassung von Erziehung zu verbreiten. Ärzte und Pädagogen kennen die Frage: „Herr Doktor, was tut man gegen…?“ Pädagogen betrachten das als die falsche Frage, sie arbeiten nicht nur gegen den Fehler, sondern für das Fehlende. Ihre zentralen Fragen lassen sich mit medizinischen, d.h. naturalistischen Begriffen nicht beantworten. Wer es dennoch versucht, unterliegt zwangsläufig dem naturalistischen Irrtum, man könne à la Platon vom Sein auf das Sollen schließen. 

So auch Largo, der glaubte, durch „Erspüren“ könnte man aus der „Individualität des Kindes“ schließen, was gute Erziehung ist. Pädagogen sehen ein gesundes Maß für Antriebe und Stimmungen lediglich als Ausgangspunkt der Erziehung – Largo kann mit seinen naturalistischen Begriffen nicht darüber hinaus denken. Pädagogen betrachten die Entwicklung des Willens (Welchem Ideal diene ich? Wie finde ich dazu den Mut, trotz täglicher Fehler?) und des Gemüts (Welche Gehalte bringen mir tiefe Freude, Staunen, Liebe, Glauben?). Naturalistisch lassen sich diese Fragen nicht beantworten.

„Erziehung ist Beziehung“

Dr. Largo versucht es dennoch mit seinem banalen Slogan „Erziehung ist Beziehung“. Obwohl nicht die gesamte „Generation Z“ davon geprägt ist, sind die Folgen dieses Konzepts unübersehbar. Das Niveau seiner Quellen reicht nicht über Ethnokitsch wie das angeblich afrikanische Sprichwort „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man dran zieht“ hinaus. 

Solche zu Herzen gehenden Trivialitäten mischt er mit medizinischen Begriffen und Rezepten. Er entlastet Eltern scheinbar, indem er Normen für überholt erklärt und behauptet, Eltern müssten sich nur in ihr Kind einfühlen und es akzeptieren, um ihre größte Aufgabe zu erfüllen: „der Individualität des Kindes gerecht zu werden“. Es geht nicht mehr darum, Können, Wille und Gemüt von Kindern zu innerem Halt aufzubauen, sie zur Selbsterziehung zu befähigen. Sie müssen nur am Ende sagen können: „Ich mag mich so wie ich bin“.

Beispielsweise bestimme der Erwachsene, was auf den Tisch kommt, das Kind müsse aber nichts davon kosten und entscheide, wieviel es isst. Mag es etwas nicht, hat der Erwachsene für gleichwertigen Ersatz zu sorgen. De facto bestimmt also das Kind. Eine ähnliche Entmachtung der Erwachsenen empfiehlt Largo in allen Lebensbereichen. Die Folge: Die GenZ erwartet selbstverständlich, nicht essen zu müssen, was auf den Tisch kommt, und nicht arbeiten zu müssen, was anliegt: Sind Arbeit oder Essen nicht nach meinem Geschmack, hat der Erwachsene für gleichwertigen Ersatz zu sorgen. Man kennt nur die Pflicht der anderen, „meiner Individualität gerecht zu werden“.

Zuerst den linken oder den rechten Schuh?

Largo rät, man solle Kindern zum Schein eine Auswahl zwischen zwei gleichwertigen Dingen bieten, um keinen Gehorsam zu fordern. Man fragt also „Willst du zuerst den linken oder den rechten Schuh anziehen?“, statt zu sagen: „Zieh die Schuhe an, wir gehen!“ Eine Folge: Arbeitssoziologen stellen heute fest, durch nichts sei der GenZler so gut zu motivieren wie durch den Glauben, er könne in der Firma mitbestimmen. Falls das Kind aber gar keine Schuhe anziehen will, empfiehlt Largo vier „Erziehungsstrategien“:

  • Ablenken vom Unlustgefühl. „Schau mal, ein Feuerwehrauto“, und – schwupp – zaubert Papa den Schuh ans Fußi. Ablenkung zerstört Konzentration – AD(H)S folgt quasi aus der Erziehungsstrategie. – Was macht die GenZ, wenn sie Unlust empfindet? Sie lenkt sich ab, mit Essen oder Instagram. Social Media hätte keine besseren Opfer finden können als diese Generation.
  • Konflikt entzerren, z.B. den Blumentopf hochstellen, den das Kind dauernd ausleert. Anstatt einem Kind beizubringen, sich zu beherrschen und das Eigentum anderer zu respektieren, entfernt man alles, was seine Antriebe triggern könnte. – Und die GenZ? Erwartet, dass man alles aus ihrer Umgebung entfernt, was innere Regungen erzeugt, die sie nicht handhaben kann – Selbstbeherrschung und Stimmungsmanagement haben sie ja nie gelernt.
  • Ignorieren und sich nicht provozieren lassen, auch nicht von Beschimpfungen. Wer das rät, gibt Kindern keinen Halt. Kennen Sie „Deine Liebe klebt“ von Grönemeyer? „Am Anfang hielt ich's für Wärme, faszinierende Menschlichkeit / Heute weiß ich, dass du feige bist, nie zum Kampf bereit. / Glitschst wie Glibber durch die Finger, stellst dich keinem Streit…“. Es ist kein Wunder, dass die GenZ „Meinung“ nur spielt, wo man sie lässt, wie beim freitäglichen Schuleschwänzen. Möchte man fundierte Stellungnahmen zu Greta Thunbergs Antisemitismus hören, herrscht Stille. Urteilen hat man nie gelernt, nur Schreien bis zum Affektkrampf – oder ignoriert werden.
  • Verhaltensweisen loben, die Eltern als erwünscht betrachten. Das ordnete Paul Moor, der Vater der modernen Heilpädagogik, als die unterste Stufe der Erzieherliebe ein, denn um das Kind geht es dabei nicht. Die Inflation des Lobes ist mit dieser Strategie programmiert.

Die 5. Strategie wäre eigentlich verbieten und unangenehme Konsequenzen durchsetzen, aber Largo warnt im selben Atemzug, Kinder könnten sich dadurch „abgelehnt, gekränkt und entwertet“ fühlen. Lieber sollten die Eltern sich fragen, ob das Kind ihnen durch sein Fehlverhalten zeigen will, dass es „sich zu wenig geliebt fühlt“ oder „durch unsere Maßnahmen gedemütigt“. 

Doch wer Kinder auf Augenhöhe hievt, zieht ihnen den Boden unter den Füßen weg. Wir müssen sie so lange erziehen, bis sie uns auf Augenhöhe erwachsen sind und sich selbst erziehen können. Der gute Pädagoge schaut dabei auf das Entwicklungsalter, nicht das Lebensalter. Ein Trost für alle, die schon über 20 sind.

Anzeige