Man sieht nur, was man sucht - Als der Vatikan eine lustfreudige Lasterhöhle war

Der splitternackte Barberinische Satyr bezeugt die Freizügigkeit von Papst Urban VIII. gegenüber homosexuellen Neigungen. Warum nicht heute die Flagge von LGBT+ von der Loggia des Petersdoms flattern lassen? Es täte nichts anderes bedeuten, als den unter Soutanen verheimlichten Tatsachen zu entsprechen.

Der hellenistische oder kaiserzeitliche Barberinische Satyr ist in der Münchner Glyptothek zu sehen / Image Broker, dpa
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Autoreninfo

Beat Wyss hat an zahlreichen internationalen Universitäten gelehrt. Er hat kontinuierlich Schriften zur Kulturkritik, Mediengeschichte und Kunst veröffentlicht. Beat Wyss ist Professor an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe.

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Na ja, weihnachtlich, auf den ersten Blick zumindest, wirkt das Sujet dieser Bildkolumne nicht unbedingt. Und doch passt, nach dem Scheitern des Synodalen Weges, der Barberinische Satyr ganz gut in den Kirchenkalender. Die Skulptur des nackten Flurgotts erschien mir nächtens, als ich, bekennender Kulturkatholik, Worte für meine Enttäuschung zu finden suchte. Könnte hinter dem Weihnachtswunder, wie das Lukas­evangelium berichtet, nicht auch ein Fall von Kindsmissbrauch vorliegen?

Freimütig wird da berichtet, Gottvater hätte mittels Heiligem Geist eine Jungfrau geschwängert. Zwar verschweigt uns die Heilige Schrift das genaue Alter der Maria von Nazareth, Mädchen wurden im einfachen Volk der Levante im zarten Alter verheiratet, und unsere Jungfrau war doch dem von Gott gehörnten Josef versprochen! Nehmen wir die Heilige Schrift beim Wort, hat der Allmächtige selbst es an Keuschheit vermissen lassen! Sein Übergriff wurde zwar nachträglich von der Kirche zum Dogma der „Immerwährenden Jungfräulichkeit“ verklärt; aber jene Schutzbehauptung von der Taube des Heiligen Geistes mit göttlichem Spermium im Schnabel will im 21. Jahrhundert nicht mehr so recht einleuchten. 

Die Lasterhöhle Vatikan

Im Vergleich zum verklemmten Priesterstaat heute war der Vatikan bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges eine genussfreudige Lasterhöhle, man denke an die ausschweifenden Feste, die Langzeitpapst Urban VIII. zu feiern pflegte, jener Gottesmann, dem wir die Vollendung des Petersdoms samt „Urbi et orbi“ der umarmenden Kolonnaden rund um den Petersplatz verdanken, allen Fernsehchristen in Vogelschau bekannt bei Weihnachts- und Ostersegen. Bernini, deren Architekt, soll das angewinkelte rechte Bein des betrunkenen Schläfers ergänzt haben. Es war der Skulptur nach einem Sturz vom Mausoleum des Hadrian abhandengekommen. Oströmische Truppen hatten den Skulpturenschmuck am Bau zu ihrer Verteidigung als Wurfgeschosse eingesetzt, als sie im Jahr 537 die Urbs gegen die Goten verteidigten. 
 

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Im Unterschied zum Borgia-Papst Alexander VI., der mindestens acht Kinder mit verschiedenen Mätressen gezeugt hatte, sind von Urban VIII. keine Nachkommen aktenkundig. Doch der Besitz einer splitternackten Skulptur, die uns so ganz unschuldig ihr Gemächt zur Schau stellt und neckisch vielleicht nur so tut, als würd’ sie schlafen, um so unsere Lüsternheit zu wecken, bezeugt Urbans Freizügigkeit gegenüber Neigungen zum eignen Geschlecht. Diesen Satyrn schenkte der Pontifex seinem Lieblingsneffen Francesco, der im Familienpalast der Barberini eine Kunst- und Wunderkammer einrichtete, wo der Trunkene Faun als Hingucker diente. 

Schwule Mehrheit im Vatikan

Tempi passati. Was geht denn heutigentags unter den scharlachroten Soutanen der Kardinäle vor, während knackige Ministranten an ihnen im Weihrauchdunst vorbeischweben, um dem Messopfer am Altar zu dienen? Mir, Ministrant a. D., stoßen da peinliche Erinnerungen auf, die man lieber mit einem Weglächeln vergisst. Frédéric Martel, Soziologe, investigativer Journalist und bekennender Schwuler, hat im katholischen Gottesstaat unter muffigen Messgewändern ein wahres Sodom und Gomorrha entdeckt. 80 Prozent des geistlichen Personals seien dort in mehreren Richtungen andersherum unterwegs. Nach außen aber pflegt Mann Homophobie: die aggressive Maske verklemmter Sexualität. 

Gottesmänner, macht euch doch endlich mal ehrlich! Die weltweit älteste Monarchie am Leben in einem Zwergstaat, in der Schwule und Queere heimlich die Mehrheit bilden? Bekennt euch! Es täte nichts anderes bedeuten, als den unter Soutanen verheimlichten Tatsachen zu entsprechen. Lasst die Flagge von LGBT+ von der Loggia des Petersdoms flattern! Es lebe Päpstin Clara I., Nachfolgerin von Franziskus, der zu Benedikt umziehen möge, dem Emeritierten, zur Seniorenresidenz im vatikanischen Kloster Mater Ecclesiae, von Nonnen verwöhnt, mit Blick auf die Peterskuppel. 

Wenn es so weit ist, könnte der Freistaat Bayern den Trunkenen Faun dem Vatikan zurückerstatten. König Ludwig I. hatte die Skulptur für die Glyptothek in München erworben. Ihm kann, im Gegensatz zum Nachfolger, dem „Kini“, keine Schwulität nachgesagt werden. Bleibt es aber in der Ewigen Stadt so, wie es ist, tröste der Gedanke, den Faun auch weiterhin im katholischen Kulturraum zu wissen. 

 

Dieser Text stammt aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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