Literaturen im Oktober - Misserfolg, Markt, Manipulation

Christopher Clark wagt sich an eine Neubewertung der bürgerlichen Revolution von 1848, Frank Dikötter wirft einen neuen Blick auf die chinesischen Wirtschaftsreformen, und Mattias Desmet schreibt über die Hypnose der Massen.

Literaturen im Oktober
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Neubewertung einer Epoche

Die Revolution von 1848 gilt allgemein als „gescheitert“ – eine These, die Christopher Clark mit seinem neuen Werk grandios widerlegt. Denn sie war letztlich ein Sieg des Liberalismus.

Für Golo Mann war die Revolution von 1848 eine „kummervolle, kläglich zu erzählende Geschichte“. Und die meisten anderen Historiker sind seinem Urteil gefolgt. Die Revolution von 1848 gilt als verlorene Revolution, als vertane Chance und Ausdruck des politischen Scheiterns.

Christopher Clark stellt in seinem neuen großartigen Werk „Frühling der Revolution“ dieses Urteil infrage, indem er versucht, unser Verständnis der Ereignisse von 1848 und deren Folgen neu einzuordnen. Clark, Regius-Professor für Geschichte in Cambridge, wendet sich damit gegen die Einschätzung der Mehrzahl seiner Historikerkollegen, die insbesondere die 1848er-Revolution in Deutschland als politisches Versagen des Bürgertums werten.

Clarks Hauptargument: „Erfolg“ und „Misserfolg“ seien keine sinnvollen Kategorien, um die Ereignisse ab 1848 in Europa sinnvoll einzuordnen. Dafür hätten die verschiedenen Revolutionen an sehr unterschiedlichen Orten viel zu unterschiedliche Intentionen gehabt. Gemessen an ihren Intentionen seien viele Ziele zumindest der liberalen Revolutionäre erreicht worden. Wichtiger als die Frage nach Erfolg oder Misserfolg seien jedoch die tatsächlichen Folgen der Revolutionen. Und die seien immens und bis in unsere Gegenwart präsent.

Das Klischee von Deutschlands Sonderweg

Wie schon in seinem Preußen-Buch von 2007 und seinem epochalen Werk „Die Schlafwandler“ von 2012 versucht Clark in seinem furiosen Buch über die 1848er-Revolutionen also eine Neubewertung einer historischen Epoche, indem er monokausale Erklärungen zurückweist und durch das Aufzeigen komplexer Zusammenhänge und Wechselwirkungen ersetzt.

So gesehen, ist der „Frühling der Revolution“ so etwas wie die Umkehrerzählung zu den „Schlafwandlern“. Taumelten 1914 die europäischen Mächte in einer Mischung aus Naivität, Großmachtpolitik und Gedankenlosigkeit in den Ersten Weltkrieg, so schlafwandelten die europäischen Nationen 1848 aufgrund sozialer Spannungen, enger kultureller Verflechtungen und jeweiliger lokaler Motive in die Revolutionsereignisse. Diese mündeten allerdings nicht in ein Desaster, sondern stießen die Tore zum modernen Europa weit auf – das dann in der Tragödie vom August 1914 unterging.

Und noch ein zweiter Aspekt verbindet Clarks neuestes Werk mit den „Schlafwandlern“ von 2012: Es dekonstruiert das Klischee von Deutschlands Sonderweg, wonach die gescheiterte Revolution in einen rückwärtsgewandten Militärstaat mündete und schließlich in die Alleinverantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Dagegen spricht, dass es einen Sonderweg nur dort geben kann, wo es einen Normalweg gibt. Aber genau diesen Normalweg gab es nicht – nicht in Frankreich, nicht in Italien, nicht in Ungarn oder Österreich.

Kein Scheitern der Revolution

Die These von der gescheiterten 1848er-Revolution basiert auf zwei Blickwinkeln. Der eine ist ein politischer. Aus Sicht der radikalen Linken, namentlich der Kommunisten um Karl Marx und Friedrich Engels, stellte sich die Revolution als bürgerliche Revolution heraus, die schon deshalb zum Scheitern verurteilt war und auch scheiterte. Denn die radikale Linke und Teile der sich formierenden Arbeiterbewegung stritten nicht nur für Demokratie, Parlamentarismus und bürgerliche Freiheitsrechte, sondern auch für soziale Gerechtigkeit, Mindestlöhne und Preiskontrollen für Grundnahrungsmittel. Diese Ziele wurden bekanntlich nicht erreicht. Wer sie zum Maßstab nimmt, muss von einem Scheitern der Revolution sprechen. Doch die wenigsten Revolutionäre waren radikale Linke.

Die zweite Perspektive, aus der die Unruhen der Jahre 1848 bis 1849 häufig als gescheitert angesehen werden, ist eine sehr deutsche. Doch die ist natürlich sehr einseitig und provinziell. Italien etwa begab sich mit der Revolution auf den Weg zur nationalen Einheit. In Ungarn wurden die Aufstände mithilfe russischer Truppen zwar blutig niedergeschlagen, mündeten aber schließlich in die Doppelmonarchie von 1867 und damit in Ungarns goldenes Zeitalter.

Christopher Clark kann die These von einem Scheitern der Revolution deshalb souverän zurückweisen, weil er einen europäischen Blick auf die sehr heterogenen Ereignisse wirft. Und zugleich bewertet er die Ereignisse aus einer dezidiert liberalen Sicht. Die Liberalen jedoch bekamen im Wesentlichen, was sie wollten: Investitionssicherheit, Handels­erleichterungen, Parlamentarismus, liberalere Pressegesetze, bürgerliche Freiheitsrechte. Vor allem aber katapultierten die Ereignisse um 1848 Europa endgültig in die Moderne.

Ein herausragendes Buch

Was Clarks Werk zu einem Ereignis macht, sind jedoch nicht nur die neuen Deutungsperspektiven, die es einnimmt. Sondern auch das breite Panoptikum der zahlreichen Ereignisse, Protagonisten und Interessengruppen, die der Autor mit viel Liebe zum Detail zu einer glänzend geschriebenen Erzählung verwebt. Dass er trotz der zahllosen Schauplätze dabei nie den roten Faden verliert, liegt auch daran, dass er einige zentrale Fragen fest im Blick behält – etwa das Verhältnis von Radikalen und Liberalen. Letztere tendierten in der Folge von 1848 zu einem Bündnis mit den traditionellen Kräften und gegen die Linke. Eine Konstellation, die die europäische Politik über ein Jahrhundert prägen wird.

Clarks Hauptanliegen betrifft jedoch unsere Erinnerungskultur. 1848/1849 sei als gesamteuropäisches Ereignis erlebt worden, wurde in der Folge jedoch nationalisiert. Nun gelte es wieder zusammenzubringen, was eigentlich zusammengehöre, und so die Grundlage zu einer gesamteuropäischen Geschichte der Moderne zu legen. Das, so Clark, sei auch deshalb wichtig, weil Europa heute wieder von vergleichbaren sozialen Spannungen geprägt sei. Die Stichworte lauten: Gelbwesten, Occupy, Querdenker oder Populismus. Vieles erinnert dabei an die Verunsicherungen angesichts des rasanten technologischen und gesellschaftlichen Wandels in der Zeit um 1848.

Allein deshalb lohnt es sich, die politischen und sozialen Prozesse jener Jahre noch einmal näher zu betrachten. Christopher Clark hat dafür ein herausragendes Buch vorgelegt.  Alexander Grau

Christopher Clark: Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt. DVA, München 2023. 1168 Seiten, 48 €

 

Flickschusterei an der Planwirtschaft

Ein neuer Blick auf Chinas Wirtschaftsreformen seit Ende der 1970er Jahre.

Übernimmt sich China? Wachstum, Wachstum, Wachstum! Größe, Größe, Größe! Um nichts anderes scheint es Peking seit Jahrzehnten zu gehen: geografisch und demografisch; politisch, wirtschaftlich und militärisch. Frank Dikötter hinterfragt diese Geschichte. Der Professor of Humanities an der Universität von Hongkong hat zuvor chinesische Historie an der School of Oriental and African Studies in London gelehrt und für sein Buch „Maos Großer Hunger“ den BBC Samuel Johnson Prize erhalten.

Nun geht es Dikötter um das „China nach Mao“, um die Zeit ab der „Reform- und Öffnungspolitik“, des von Deng Xiaoping 1978 eingeleiteten Programms der Wirtschaftsreformen. Dikötter ruft einmal mehr in Erinnerung, dass der rapide Wandel eines isolierten Landes, das noch unter dem Chaos der Kulturrevolution gelitten habe, zur weltweit zweitgrößten Volkswirtschaft durchweg als ein Wunder gepriesen werde. Doch kann man wirklich von einem solchen sprechen? Und wenn ja, ist es möglicherweise nun an sein Ende angelangt?

 

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Bislang in China nicht zugängliche Quellen haben es Dikötter erlaubt, bis heute weitverbreitete Annahmen über die Ära der „Reform- und Öffnungspolitik“ zu überprüfen. So seien viele Beobachter der Volksrepublik immer noch davon überzeugt, dass es eine echte Wirtschaftsreform mit einem konzertierten Wechsel von der Plan- zur Marktwirtschaft, von Staatsbesitz zu privatem Unternehmertum gegeben habe. Dies bezweifelt Dikötter nun nach seinem Quellenstudium: Man müsse sich fragen, ob man, ungeachtet der offiziellen Propagandaverlautbarungen aus Peking, überhaupt von einer „Wirtschaftsreform“ sprechen könne. Was man bislang erlebt hat, sei allenfalls „Flickschusterei an einer Planwirtschaft“.

Ohne politische Freiheit keine wirtschaftliche Freiheit

Und in der Tat lassen sich dafür Indizien finden – Dikötter listet sie auf: Die Kommunistische Partei stellt weiterhin Fünfjahrespläne auf. Auch hat sie den Besitz der gesamten Industrie und der meisten großen Unternehmen behalten. Bis heute gehört das Land dem Staat. Auch ein großer Teil der Rohstoffe ist in staatlichem Besitz. Wichtige Industriezweige werden direkt oder indirekt vom Staat kontrolliert. Auch die Banken sind weiterhin Staatseigentum. Dikötters Erkenntnis: Nach klassisch marxistischer Lesart verblieben damit die „Produktionsmittel“ in den Händen der Partei. Und eine Wirtschaft, in der die Produktionsmittel vom Staat kontrolliert würden, bezeichne man für gewöhnlich als eine sozialistische Wirtschaft.

Dikötter zieht hieraus wertvolle Rückschlüsse auf die weitere Entwicklung in China: Dort sei Kapital eine politische Ware geblieben, von den Staatsbanken an Unternehmen verteilt, die direkt oder indirekt vom Staat zur Verfolgung politischer Ziele kontrolliert würden. Hinzu kommt für Dikötter, dass ein Markt hauptsächlich auf dem Austausch von Waren zwischen Individuen basiere. Doch wie könne der Besitz dieser Waren ohne eine unabhängige Justiz geschützt werden, die auf der Gewaltenteilung aufbaue? Daher glaubt er, dass auch in China eine Markt­reform ohne politische Reform keinen Bestand haben könne. Denn ohne politische Freiheit keine wirtschaftliche Freiheit. Wer – im Westen – wird hier widersprechen?  Thomas Speckmann

Frank Dikötter: China nach Mao. Der Aufstieg zur Supermacht. Klett-Cotta, Stuttgart 2023. 464 Seiten, 30 €

 

In der Notstandshypnose

Mattias Desmet erklärt, wie Angst und Langeweile in den Abgrund führen.

Wie führt man Massen in die kollektive Hypnose? Wie werden Menschen, die stark von Vereinzelung, Sinnarmut, Angst und latenter Aggression betroffen sind, „von einem gemeinsamen Narrativ ergriffen, das sie in einem heroischen Kampf gegen ein Objekt der Angst vereint“? Und vor allem: Wie findet eine „sozial zerfallene Bevölkerung wieder zu einer Einheit“, zu einem mächtigen Geist der Solidarität zurück? 

Auf all diese Fragen versucht der belgische Psychologe Mattias Desmet eine Antwort zu finden. Dabei könnte in dem von ihm geschilderten Prozess der Schlüssel zum Verständnis nicht nur der Corona-Erfahrung liegen. Die meisten Industriegesellschaften nämlich boten 2019, vor Beginn der Krise, der von Desmet erläuterten Dynamik den richtigen Nährboden: Großbritannien hat einen Einsamkeitsminister ernannt, während allgemein im Westen der Verbrauch von Antidepressiva neue Höchststände erreichte.

Bestseller wie „Bullshit Jobs“ von David Graeber verarbeiteten die aus Gallup-Umfragen bekannte Tatsache, dass mehr als drei Viertel der Arbeitnehmer gleichgültig einer als sinnlos erlebten Tätigkeit nachgehen. Und die Klima-Apokalyptik behandelte die westliche Konsumzivilisation offen als zivilisatorischen Irrweg, den es schleunigst zu verlassen gelte.

Massenformierung führt zu Grausamkeiten

Viele verspüren noch immer den flauen Frust, alles Wünschbare zu besitzen – dies aber kaum freudig mit anderen teilen zu können. Digitalisierte Kommunikation tut einer gesunden Alltagsgeselligkeit Abbruch. Das Vor- und Nachspiel im persönlichen Umgang, das Zugehörigkeit und eine menschliche Atmosphäre stiftet, haben wir aus der Kommunikation technisch amputiert. Es wird tief vermisst.

Ein Staat, der als Rechtegarant für Selbstunternehmer konzipiert ist, bietet in dieser Lage keinen Trost. Die Fortschritte von Aufklärung und Naturforschung ebenso wenig; sie haben uns zusammen mit dem Liberalismus diese wohlversorgte, doch eher unglückliche Lebenswelt geschaffen. Unerfüllte Individualisten suchen Orientierung, Gemeinschaft und eine Möglichkeit, angestaute Aggression an einem Schuldigen abzureagieren. 

Die Ausrufung des Notstands kann in einer solchen Situation als Erlösung erlebt werden, die echte psychologische Gewinne mit sich bringt. Wird im Wege einer „öffentlichen Suggestion“ eine allgemeine Bedrohung ausgerufen, die gemeinschaftliches Handeln erfordere, so kann dies wie ein klärendes Gewitter erlebt werden. War man bisher einsam, so ist man jetzt Teil eines Kollektivs; Sinnarmut weicht einem klaren Ziel; bisher „frei flottierende Angst“ ist nun durch offizielle Ansage an ein Objekt gebunden – an die Terroristen etwa oder eben an Corona. 

Mit Bezug auf Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“ schildert Desmet, wie Massenformierung typischerweise zu Grausamkeiten führt. Sie sind das lang ersehnte Objekt aufgestauter Aggression und werden nun enthemmt misshandelt, „als wäre es eine ethische, heilige Pflicht“. So verteidige die Masse die von ihr als erlösend erlebte Geschichte vom „solidarischen Kampf“ gegen eine gemeinsame Bedrohung. Wer an all dem nichts Bedenkenswertes entdeckt, der ist vielleicht noch hypnotisiert.  Michael Andrick

Mattias Desmet: Die Psychologie des Totalitarismus. Europa Verlag, München 2023. 272 Seiten, 24 €

 

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe von Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

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