Lab Leaks - Die unterschätzte Gefahr

Eine im Magazin „The Lancet“ erschienene Studie hat sich mit Laborunfällen in der medizinischen Forschung beschäftigt. Das Ergebnis lässt aufhorchen. Von Pest bis Ebola bergen Lab Leaks immense Gefahren. Und sie sind weit häufiger, als man gemeinhin glaubt.

Dekontaminationsübung bei der Bundeswehr / picture alliance
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Fehler passieren! Da kann man streng genommen nichts gegen machen. Denn seien wir ehrlich: Kleinere Missgeschicke können sich selbst dann noch ereignen, wenn man im Vorfeld auf größtmögliche Vorsicht und höchste Sicherheit bedacht war. Schon dem großen schottischen Aufklärer David Hume wird daher nachgesagt, dass er sich mit einer einfachen Sprachfloskel gegen das in die Welt einfach schon von Natur aus eingeschriebene Unglück zur Wehr setzen wusste: „Stercus accidit!“, soll er dann gesagt haben. Oder auf gut Englisch: Shit happens!

Nun ist dieser Mist, der eben für gewöhnlich passieren kann, allein schon wenn man morgens das Haus verlässt oder später leicht angeschickert wieder nachhause fährt, eigentlich das Fundament für eine recht gesunde Form von Lebensgelassenheit. Nicht alles, was in der Welt vor sich geht, ist notgedrungen kontrollierbar oder folgt einer höheren Idee, gar einem verschwörerischen Hintergrundrauschen. Wer derlei wirklich zu glauben meint, der ist von einer pathologischen Zwangsneurose nicht weit entfernt. Und doch, es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die sollten, aller Gelassenheit zum Trotz, am Ende doch besser nicht passieren. 

Anthrax aus dem Labor

Von derlei Dingen können etwa jene 75 US-Forscher berichten, die im Jahr 2014 laut eines Berichts des amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) einem Übermaß lebender Milzbrandbakterien ausgesetzt waren. Der unglückliche Zwischenfall soll sich dem Bericht zufolge in einem Labor der US-Gesundheitsbehörde in Atlanta ereignet haben und war eigentlich nur einer Verkettung unglücklicher Umstände geschuldet: Ein Hochsicherheitslabor hatte Proben des besagten Anthrax-Bakteriums zu dem wenig gut ausgestatteten Labor in Atlanta geschickt (erster Fehler!). Das Ganze war natürlich nur möglich gewesen, weil man geglaubt hatte, die Bakterien seien inaktiv und somit nicht mehr gefährlich (zweiter Fehler!). In Atlanta dann trug man keine Schutzkleidung (dritter Fehler!). Und zu guter Letzt (vierter Fehler!) sollen die Proben auch noch schlecht verschlossen gewesen seien.

So kam es wie es kommen musste: Das Sporen bildende und hochgefährliche Bakterium Bacillus anthracis geriet in die Umwelt und löste bei einigen der Wissenschaftler möglicherweise eine brandgefährliche Infektion aus. In freier Wildbahn zumindest, ohne Antibiotika-Behandlung und Milzbrand-Impfung, verläuft  die durch das Bakterium ausgelöste Blutvergiftung zumeist tödlich. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an jene gefährlichen Briefsendungen aus dem Jahr 2001, in deren Folge fünf US-Amerikaner aufgrund von tödlichen Milzbrandsporen ihr Leben verloren. Und noch gefährlicher: jene sicherlich ungewollt freigesetzte Wolke von Milzbrandsporen, die 1979 ein sowjetisches Biowaffenlabor in Swerdlowsk verließ und die später den 66-fachen Tod von Menschen bedeutet hatte.

Von Pest bis Ebola

Doch wie gesagt: Stercus accidit! Manchmal indes passiert ein Unheil derart häufig und zugleich erschreckend intensiv, dass man sich ab einem bestimmten Punkt ein paar grundsätzliche Fragen stellen sollte. Eine aktuelle Studie des Oxforder Tropenmediziners Stuart Blacksell, veröffentlicht im Wissenschaftsmagazin The Lancet, kommt etwa zu dem Schluss, dass das, was da damals in Atlanta passiert ist, wahrlich keine Seltenheit ist. Nach Überprüfung unzähliger Medienberichten sowie nach Durchsicht zahlreicher, von Experten begutachteter Fachzeitschriften kommt das Forscherteam um Blacksell zu dem Ergebnis, dass sich in den Jahren zwischen 2000 und 2021 insgesamt 309 Personen in 94 Bereichen mit im Labor erworbenen Infektionen (LAIs) angesteckt hätten. 51 unterschiedliche Krankheitserreger seien in diesem Zusammenhang auf den oftmals ahnungslosen Menschen übergesprungen: vom Ebola-Virus bis zum Pestbakterium Yersinia pestis. Traurige acht Todesfälle seien in diesem Zusammenhang zu verzeichnen gewesen.

Wer jetzt indes schon Zeichen von panischer Ansteckung oder zumindest  Beunruhigung zeigt, der sollte an dieser Stelle die Lektüre des Artikels besser abbrechen. Denn es kommt noch ärger: In den besagten 21 Jahren wurde sogar ganze 16 mal das Entweichen eines Erregers gemeldet. Zweimal ging es um den Erreger der Maul- und Klauenseuche, dreimal um das Bacillus anthracis, dreimal aber auch um die mittlerweile so traurig-berühmten SARS-CoV-Erreger.

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Und damit wären wir bei Corona. Längst nämlich hat sich herumgesprochen, dass die anfangs für plausibel gehaltene und in Deutschland besonders vom Charité-Virologen Christian Drosten aufgestellte Zoonose-Theorie zum Ursprung der Pandemie nicht mehr nur auf wackeligen Füßen steht, sondern immer mehr in die Defensive geraten ist. Während China die politisch durchaus brisante Alternativhypothese von einem Laborunfall noch immer von sich weist und auch die WHO sie zunächst für „extrem unwahrscheinlich" hielt, gab ein vor längerer Zeit bereits ausgestrahltes Interview mit dem FBI-Direktor Christopher Wray der Labor-Theorie neue Nahrung: „Das FBI geht schon seit geraumer Zeit davon aus, dass der Ursprung der Pandemie höchstwahrscheinlich ein möglicher Laborvorfall in Wuhan ist", so Wray im März 2023 gegenüber dem TV-Sender Fox News. Kurz darauf wurde die viel beachtete Aussage auch von einem Bericht des US-Senators Richard Burr gestützt. 

Eine lange Geschichte von Unfällen

Wie es dann überhaupt zu der populären Geschichte von der Fledermaus und der zoonotischen Übertragung auf einem Wildtiermarkt in Wuhan kommen konnte? Im Cicero-Interview mit dem deutschen Genetiker Günter Theißen sagte der vor einigen Monaten, dass man in der Politik berechtigte wissenschaftliche Einwände nicht habe hören wollen. „Es gab diese kleine Clique weniger hochkarätiger Corona-Forscher“, so Theißen, welche sich „mit einigen anderen politisch hoch angesiedelten Personen“ auf ein bestimmtes Szenario festgelegt hätten. Und viele andere Virologen, die sich ihren Kollegen nicht hätten anschließen wollen, seien nie gehört worden. „Das heißt, das Ganze ist mehr ein mediales Phänomen als ein wissenschaftliches Phänomen.“

Der sich schnell verbreitende Irrglaube also, nachdem Corona nur im unwahrscheinlichsten Fall aus einem Labor hätte entweichen könne, war so gesehen nicht mehr als ein von populären Wissenschaftlern gestützter urbaner Mythos, der im Frühjahr 2020 von zahlreichen Medien aufgegriffen und befeuert wurde. Und das, obwohl die Geschichte der sogenannten Lab Leaks weit zurückreicht und auch die Forschung, die zu diesen oft verheerenden Unfällen betrieben wurde, eine lange Vorgeschichte hat: Bereits 1941 nämlich wurde die erste Untersuchung angestrengt, die damals das Auftreten von 50 im Labor erworbenen Typhusfällen aus dem Jahr 1885 aufklären sollte. Acht Jahre später hatte eine weitere Untersuchung ergeben, dass 222 Laborinfektionen allein in den USA zu 21 Todesfällen geführt hatten. Und 1951 wurden durch eine weitere Befragung bei 5000 Laborbetreibern deutlich, dass in dem untersuchten Zeitraum 1342 Laborinfektionen zu 39 Todesfällen geführt hatten. 

Unsichere US-Labore

Sind die Fälle von im Labor erworbenen Infektionen (LAI) oder gar von entwichenen Krankheitserregern aus Laborumgebungen (APELS) also wirklich so „sehr selten", wie es 2014 noch in zahlreichen Zeitungsartikeln über den Milzbrand-Unfall von Atlanta zu lesen und später eben auch bei Corona zu hören war? Blacksells Studie lässt diesbezüglich aufhorchen: Demnach ist das unerwartete Auftreten von Brucellose, Q-Fieber, Hepatitis, Typhus, Tularämie, Tuberkulose oder Kokzidioidomykose in zahlreichen Fällen durchaus einer unachtsamen biologischen Forschung zuzurechnen. Und, wider gängigen Erwartungen, sind die meisten Unfälle nicht in China oder zumindest in Asien protokolliert. 45,7% ereigneten sich in den USA, 26,6% in Europa. Wobei kritisch hinzuzufügen ist, dass es aufgrund der freiwilligen Berichterstattung immer wieder auch zu Verzerrungen kommen kann. „Ohne globalisierte formelle Meldepflichten könnten die hier zusammengefassten Daten nur die Spitze des Eisbergs darstellen", schreiben denn auch die Autoren des Lancet-Papers. Eine Spitze, die es in der jetzigen Form aber bereits in sich hat: „Die Ergebnisse dieser Scoping-Überprüfung zeigen, dass LAIs und APELS regelmäßig auftreten."

Bis vor wenigen Monaten noch hätte eine solche Aussage skandalös geklungen. und das nicht, weil man es von Virologen und anderen Grundlagenforschern anders überliefert bekommen hätte; man wollte eine solche Binse schlicht nicht wahrhaben. Dabei wird sie seit langem schon von der Geschichte bestätigt - auch und gerade in Deutschland. So ist bereits von dem Bakteriologen und Hygieniker Friedrich Löffler, dem späteren Namensgeber des Bundesforschungsinstituts für Tiergesundheit, überliefert, dass dessen frühen Forschungen zur Maul- und Klauenseuche gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder zu Ausbreitungen des zumindest für Tiere gefährlichen Erregers im Umfeld seines Greifswalder Forschungsinstituts geführt hätten. Unfälle, die erst mit der Verlegung von Löfflers Labor auf die Ostseeinsel Riems unterbunden werden konnten. Dort nämlich wurde 1910 das weltweit erste virologische Forschungsinstitut eröffnet, das Vorbild für viele andere Institute auf der ganzen Welt werden sollte.

Biowaffenforschung aus Deutschland?

Es war ein Sicherheitsfortschritt, der die Forschung an Viren und Bakterien aber nicht notgedrungen harmloser gemacht hat. Im Gegenteil: Der deutsche Veterinärmediziner Erich Traub, ein Nachfolger Löfflers auf der Insel Riem, soll in den 1940er-Jahren damit begonnen haben, die kleine idyllische Insel vor der alten Hansestadt Greifswald mit Biowaffenforschung zu belegen. Im direkten Dienst von Heinrich Himmler soll Traub hier damals an Rinderpest-Viren aus Anatolien sowie an der kriegerischen Nutzung der Maul- und Klauenseuche beim Einsatz auf Rinder und Rentiere in Russland geforscht haben. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg, so sagen es heute zahlreiche Historiker, soll der deutsche Grundlagenforscher seine Untersuchungen im Dienste der US-Armee fortgesetzt haben. Schließlich galt Deutschland bereits vor dem Ersten Weltkrieg als führende Nation auf dem Gebiet der Biowaffenforschung. Unter anderem, so schreiben es etwa die US-Forscher Glen Yeadon und John Hawkins, soll Traub auf der Insel Plum Island gearbeitet haben, wo die US-Armee damals mit zahlreichen tödlichen Erregern am biologischen Kriegswaffen geforscht haben soll. Lange Zeit wurde das von staatlichen Stelle bestritten. In den 1990er Jahren dann veröffentlichte das Magazin Newsweek erstmals Dokumente, die die gefährliche Forschung zu belegen schienen.

Unfälle in der militärischen Forschung

Aus eben diesen Experimenten, so behauptete es 2019 ein republikanischer Abgeordnete des US-Repräsentantenhauses sowie die Autorin Kris Newby von der Stanford School of Medicine, sollen in den 1950er-Jahren Zecken und Insekten als biologische Waffen entwickelt worden sein. Diese sollen die für Menschen gefährliche Lyme-Borreliose übertragen haben und sind vermutlich durch einen ungewollten Ausbruch von der Insel entkommen. Wiederum war es das Magazin Newsweek, dass der Geschichte nachging und dabei zahlreiche Belege wie auch Widersprüche fand.

So ist die Geschichte bis heute umstritten. Fakt ist: die militärische wie die Dual-Use-Forschung an Krankheitserregern, die oft auch mit sogenannter Gain-of-Function-Forschung verbunden ist, hat Labore nicht unbedingt sicherer gemacht. An die immense Gefahr dieser Forschung, die trotz der 1972 von zahlreichen Staaten unterzeichneten Biowaffenübereinkunft weiterhin besteht, erinnert wurde die Weltbevölkerung zuletzt im Jahr 2019, als in einem russischen Hochsicherheitslabor südöstlich von Novosibirsk eine Gasflasche explodierte und ein Feuer in der Anlage ausbrach - in einem Labor, in dem bis heute unter anderem HIV, Ebola- und Pockenviren lagern sollen.

Zweihundert waffenfähige Erreger

Einige Jahre zuvor war es in den USA zu ähnlichen Schlampereien gekommen. Im Biowaffen-Forschungslabor der Texas A&M hatte sich eine Forscherin mit einer gefährlichen Tierseuche infiziert. Die Behörden hatten diesen Vorfall über lange Zeit zu vertuschen versucht. Schließlich sind mit der Forschung nicht nur Risiken, sondern ebenso immense Gelder wie auch sicherheitspolitische Geheimnisse verbunden.

Es sind nur einige Geschichten von vielen, die die enge Verknüpfung von akademischer Forschung und militärischem Interesse belegen. Immerhin sollen gegenwärtig rund 200 Erreger bekannt sein, die sich als biologische Waffe vorwiegend gegen zivile Ziele verwenden ließen. Und laut einer Studie des US-Kongresses von 2008 wird angenommen, dass China, Kuba, Ägypten, Israel, Nordkorea Russland, Syrien, Taiwan und der Iran weiterhin an biologischen Waffen forschen. Und damit ist über Bioterrorismus noch kein Wort verloren.

Unvorstellbar also, was alles passieren könnte, wenn es hier zu ungewollten Ausbrüchen von möglicherweise sogar künstlich veränderten Erregern käme. Man muss das ja nicht einmal unbedingt wollen. Manchmal geschieht derlei einzig und allein durch einen dummen Fehler. Aber Fehler, die aktuelle Lancet-Studie beweist es, passieren. Und weil das so ist, sollte man zumindest den Druck zur Beendigung und Offenlegung militärischer Forschungsprogramme in diesem Bereich weiter erhöhen.
 

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