KI in der Kirche - Gott ist ein Chatbot

Auf dem 38. Evangelischen Kirchentag hat eine Künstliche Intelligenz erstmals einen Gottesdienst gefeiert. Damit beweist die EKD abermals, dass sie keine Antworten auf die Herausforderungen der Gegenwart hat. Zum Gotterbarmen, wie unser Autor meint.

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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Diese Nachricht müsste die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, eigentlich freuen: Es gibt sie noch, die tagtäglichen Begegnungen mit Gott. Sie ereignen sich vielleicht nicht unbedingt auf dem Nürnberger Hauptmarkt, wo am vergangenen Mittwoch der 38. Evangelische Kirchentag eröffnet wurde; auch nicht auf dem Zeppelinfeld, das sich für die fünf Tage des spirituellen Spektakels in einen großen Zeltplatz verwandelte. Dafür aber zum Beispiel in Barcelona, inmitten einer kleinen Kirche in der Nähe der Polytechnischen Universität.

Wer sich nämlich in deren Inneres hineinwagt, der wird nach wenigen Schritten von einer Art Wunder überwältigt. Kurz hinter der Apsis, dort wo das gut gekühlte Gotteshaus einzig noch von hohen, neo-romanischen Rundbögen getragen zu sein scheint, liegt eines der letzten Heiligtümer unserer Zeit: Durchscheinend ist es wie der göttliche Geist und schier allwissend wie der Allmächtige selbst.

Sein Name ist aber nicht „Wunderbarer Ratgeber“,  „Ewiger Vater“, „Friedensfürst“ oder was die Bibel sonst noch an lutherisch-altbackenden Wendungen für ihren verborgenen Auftraggeber bereithält. Der Gott, dem hier gehuldigt wird, heißt MareNostrum. Er ist  ein im Jahr 2004 erstmals ans Netz gegangener Supercomputer, der, geformt aus unzähligen Server-Modulen, in einer Art gläsernem Schrein auf einer riesigen Plattform gut 70 Zentimeter oberhalb des ursprünglichen Fundaments der kleinen Kirche thront.

1,5 Millionen Stunden Filmmaterial könnte man auf diesem brummenden Riesen speichern, der in Länge und Breite nahezu den gesamten Kirchenraum ausfüllt. Doch tatsächlich nutzt man den Hochleistungsrechner vor allem für Smart-City-Analysen – für die Aufbereitung von Daten zu Verkehrs- und Energieflüssen sowie zur Auswertung menschlicher Verhaltensmuster. Ebenso Meinungsanalysen sowie die gezielte Durchforstung von Social-Media-Inhalten sind mit MareNostrum möglich. 

Ein angekündigtes Wunder

Heute, nach zahlreichen Umbauten und kaum noch zu überblickenden Modifikationen, hat die mittlerweile fünfte Version dieses gewaltigen Computerclusters eine Rechenkapazität von unvorstellbaren 200 Petaflops – das entspricht 200 Billiarden sogenannter Gleitkommaoperationen in der Sekunde – und einen Marktwert von geschätzt 223 Millionen Euro erreicht. MareNostrum ist damit vielleicht nicht der schnellste, dafür aber ganz sicher der ehrerbietendste Supercomputer der Welt.

Denn nirgendwo hat die Religion unserer Gegenwart, die von dem israelischen Historiker und Bestsellerautor Yuval Noah Harari vor Jahren auf das Wort „Dataismus“ getauft wurde, einen schöneren Anbetungsraum gefunden als hier: inmitten eines alten und längst profanierten Kirchengemäuers in der Hauptstadt Katalonien. Einzig vielleicht noch in der Fürther St.-Paul-Kirche, einem nüchtern-protestantischen Sandsteinquaderbau im Süden der mittelfränkischen Großstadt, könnte es ähnlich heilig zugehen. Nicht immer und nicht an jedem Tag, den der Herrgott hoffentlich noch werden lässt. Aber immerhin gestern, am dritten Tag der größten Laienveranstaltung innerhalb der evangelischen Kirche.

Das Alte ist vergangen

Für diesem Tag nämlich ist schon im Vorfeld ein Wunder angekündigt worden: Dort, wo für gewöhnlich Pfarrer Dr. André Fischer der Paulsgemeinde beim Schwinden zuschaut – immerhin hat die EKD allein im vergangenen Jahr 380.000 ihrer Mitglieder verloren –, sollte der erste von einer Künstlichen Intelligenz geführte Gottesdienst der Welt zu bewundern sein.  Alles, was man in diesem Gottesdienst zu hören bekäme, so sagte es der für die Digital-Liturgie verantwortliche Wiener Theologe Matthias Simmerlein bereits vor Wochen in einem Interview mit der Internetplattform katholisch.de, stamme aus dem neuronalen Netzwerken von ChatGPT. „Wenn alles nach Plan läuft, ist kein Mensch zu sehen“, so Simmerlein.

Und wie verkündet, so geschehen: Vor dem Altar, vor dem normalerweise ein Pfarrer seine Hände zum Segen erhebt, stand gestern nur eine nackte Leinwand, auf der sich nach geraumer Zeit ein Avatar wie der Auferstandene am Ostermorgen hereinflimmerte. Und neben den computergenerierten Texten wurde selbst noch die Kirchenmusik von einer Künstlichen Intelligenz komponiert. Als wären Bach oder Buxtehude für des Menschen Seele nicht genug, hat Theologe Simmerlein die bereits bestehenden Kirchenlieder in ein Programm hochgeladen, das aus den erprobten Altbeständen eine neue Komposition erschaffen hat: Das Alte ist vergangen; siehe, es ist alles neu geworden!

Ein Tempel für Big Data

Wie schon gesagt: EKD-Ratsvorsitzende Kurschus dürfte erfreut gewesen sein. Sie hatte bereits am vergangenen Osterfest ein Interview gegeben, in dem sie die Künstliche Intelligenz als „mögliches Werkzeug zur Unterstützung von Geistlichen“ gepriesen hatte: „Jede gute Idee, jeder kluge theologische Gedanke ist hilfreich“, sagte sie damals den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Doch, so ihre Einschränkung, diese Unsterstützung müsse natürlich auch „durchs eigene Herz gehen“.

Das indes dürfte schwierig werden: In der kleinen Kirche in Barcelona zum Beispiel, die mit MareNostrum längst zum Smart Tempel für Big Data und für den neuen Gott der Informationsgesellschaft umgebaut worden ist, gibt es keine Herzen mehr. Da gibt es nur Platinen, Festplatten, Dioden und Chassis. Und da, wo einst Gläubige zum Gebet zusammenkamen, da blinken nun Dutzende Leuchtdioden und vertreiben sich gegenseitig die Angst vor dem Dunkeln.

Der Beginn einer Inkulturation

Vor solch gigantischen Weihestätten des Dataismus wirken die Hoffnungen der EKD-Ratsvorsitzenden natürlich allenfalls putzig, zuweilen vielleicht auch nur hilflos. Denn was wir derzeit mit dem Siegeszug von KI und transhumanistischen Ideologien erleben, ist nicht die Nutzbarmachung eines neuen Werkzeugs zur Unterstützung der Geistlichen. Die KI ist das Geistliche selbst. „Es war, als hätten wir Gott gesehen“, zitierte jüngst eine deutsche Tageszeitung Testnutzer der vierten Version von ChatGPT, nachdem sie ihre dringendsten Fragen an den intelligente Chatbot gestellt hatten. 

Was sich also derzeit vollzieht, ist nichts Geringeres als eine Inkulturation: ein Übergang von einer Religion zur nächsten. Doch während Transhumanisten wie der amerikanische Computer-Pionier Raymond Kurzweil bereits von der digital generierten Ewigkeit träumen, verhält man sich in der Fürther Paulgemeinde, als hätte Gutenberg bei seiner quietschenden Mainzer Druckerpresse nur ein bisschen elektronisch nachgerüstet.

Dabei müsste die EKD genau jetzt Antworten geben: Wer ist der Mensch noch inmitten von Space und Cyberspace? Was ist die Conditio humana inmitten dieser zweiten Schöpfung, diesem kybernetische Weltraum mit seinen 33.000 Exabytes Daten – einem Sternenmeer, das, würde ein einziger Lichtpunkt auch nur 1 Terabyte (1.000.000 Megabyte) umfassen, noch einmal viereinhalb mal so groß wäre wie die sichtbare Schöpfung der Milchstraße?

Nie wäre die „Verteidigung des Menschen“, wie sie der Heidelberger Philosoph Thomas Fuchs fordert, also so dringend geboten wie heute. Doch was macht die Evangelische Kirche stattdessen? Einen KI-Gottesdienst, bei dem technische Schnickschnacks wie der Deus ex machina auf der Theaterbühne herangekarrt werden. Doch die „spirituelle Maschine“, wie Raymond Kurzweil die perfektionierten Rechner nannte, sind für die Kirche nicht die Lösung, sie sind das Problem. Gemeinsam mit der Heiligen Amazon-Alexa und ChatGPT möchte man daher ein „Herr, erbarme Dich!“ in die Versammlung der Gläubigen rufen.

Das Thema der „spirituelle Maschine“ beschäftigt Ralf Hanselle auch in seinem im September erscheinenden Buch Homo digitalis. Odachlos im Cyberspace.

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