Kritik an „Napoleon“ - Ridley Scotts Waterloo

Wenn sich ein Brite ein französisches Nationalheiligtum vorknöpft, stieben schnell einmal die Funken. So auch im Film „Napoleon“ von Ridley Scott. Der ist so voller historischer Fehler, sodass er in Frankreich nun sogar zum Politikum geworden ist.

Regisseur Ridley Scott (r.) und Napoleon-Darsteller Joaquin Phoenix / dpa
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Stefan Brändle ist Frankreich-Korrespondent mit Sitz in Paris. Er berichtet regelmäßig für Cicero.

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Es beginnt schon mit Marie-Antoinette. Dass Napoleon Bonaparte am 16. Oktober 1793 der Guillotinierung der österreichischen Königsgattin auf dem Pariser Platz der Revolution beigewohnt haben soll, ist eine pure Erfindung. Aber so beginnt der Film „Napoleon“ des britischen Starregisseurs Ridley Scott („Blade Runner“, „Thelma & Louise“, „Gladiator“). 

Die französische Presse stürzt sich nicht nur deswegen auf das historisch wenig verbindliche Biopic. Weitere Fehler durchziehen das zweieinhalbstündige Epos: Napoleons Schlacht in Ägypten fand nicht vor den Pyramiden statt. Um Austerlitz, wo Napoleon die zahlenmäßig überlegenen Österreicher und Russen schlug, gibt es keine Berge. Bei Waterloo führte Napoleon seine Soldaten nicht mit gezücktem Säbel in die Schlacht, plagten den erschöpften Generalissimus doch mehrere körperliche Leiden.

Schroffe Kritik aus Paris

Was die britische BBC ein „großartiges Résumé von Napoleons Karriere“ und „eine herrlich illustrierte Wikipedia-Seite“ nennt, bewirkt in Paris schroffe Kritik: Der wichtigste Napoleon-Kenner Jean Tulard sagt, er würde jungen Schülern davon abraten, den Streifen anzuschauen. Nichts stimme in dem Film – weder die Details noch die große Linie

Napoleons Kriegsglück oder -pech auf seine Beziehung zu Joséphine de Beauharnais zurückzuführen, sei widersinnig und unbelegt. Wenn die Tochter reicher Plantagenbesitzer in der Karibikinsel Martinique einen Einfluss gehabt habe, dann auf die Entscheidung Bonapartes, die (von der Revolution 1794 abgeschaffte) Sklaverei 1802 wieder einzuführen. Dieser Umstand komme aber in dem Film nicht einmal vor.

Womit gesagt sei: Napoleon-Kritik ist in Frankreich durchaus anerkannt. Der selbstgekrönte Kaiser, der per Staatsstreich an die Macht gekommen war und die Errungenschaften der erst zehn Jahre alten Revolution damit verraten hatte, hat ein ambivalentes Erbe hinterlassen. Nicht von ungefähr besuchte seit Valéry Giscard d’Estaing in den 1970er Jahren kein französischer Präsident – weder François Mitterrand noch Jacques Chirac oder François Hollande – Napoleons Sarkophag im Invalidendom. Mit dieser Tradition brach erst Emmanuel Macron, der seine bonapartistische Ader nicht verhehlen kann.

Unser Tyrann

Die Zeitung Le Monde fragte beim 200. Todestag des französischen Kaisers vor zwei Jahren stellvertretend für viele, ob Napoleon „Tyrann oder Held“ gewesen sei. Andere Pariser Medien fragten etwas ratlos: „Muss man diesen Anlass feiern?“ Die Illustrierte Paris-Match bejahte zwar, aber mit einer ironisch unterlegten Begründung: „Napoleon war ein Tyrann – aber es war unser Tyrann!“

Die Frage, wem Napoleon gehört, ist auch in der Debatte um Scotts Film der springende Punkt. Den Franzosen stößt vor allem auf, dass ausgerechnet ein Brite, also ein Vertreter des „perfiden Albions“, wie man in Frankreich seit dem hundertjährigen Krieg sagt, sich an die Nationalfigur von Napoleon I. macht. 
 

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Ridley Scott (86) beschreibt den kleinen Korsen als infantilen, herumquieckenden Lustmolch. In politisch-historischen Belangen stellt er ihn in einem Interview in eine Reihe mit Alexander dem Grossen, Hitler und Stalin. Eine solche Sicht ist in Großbritannien, das Napoleon mit einer Kontinentalsperre zu ruinieren versucht hatte, bis er von den Briten auf Elba ausgesetzt wurde, verbreitet. Im Filmabspann werden denn auch die 320.000 Toten der napoleonischen Schlachten aufgezählt.

Das Despotische sei aber nur seine Seite Napoleons, relativiert Tulard. Gleichzeitig habe der Kaiser in Europa die Früchte der französischen Revolution wie etwa das Zivilrecht verbreitet. In Frankreich habe er die Zentralbank, die Mittelschulen und den ganzen Staatsaufbau mit den Präfekturen in den Departementen geschaffen.

Patriotische Zwecke

In diese Kerbe haut auch die konservative Pariser Zeitung Le Figaro, die in den letzten Jahren durchaus ausgewogene Beiträge zu Napoleons egomanischen Eroberungszügen gebracht hatte. Sie hält dafür, dass Großproduktionen wie Scotts „Napoleon“ nicht nur der Volksunterhaltung dienten, sondern unterschwellig politische oder patriotische Zwecke verfolgten. 

So sei es kein Zufall, dass der Film „Alexander“ (der Große) von Oliver Stone kurz nach dem Irakkrieg erschienen sei; obwohl dies der politisch unkorrekte Regisseur in Abrede gestellt habe, vermittle der Unterton des Films letztlich eine Botschaft der „guten“ Eroberer aus dem Westen – passend zu den amerikanischen Militäreinsätzen im Mittleren Osten. Und die Regime Chinas oder Russlands seien, so Le Figaro, auf nationalistische Historienfilme wie etwa „Die Schlacht um Changping“ (2008) oder „Die Schlacht am Kulikowo-Feld“ (2022) spezialisiert.

Le Figaros Schlussfolgerung an französische Adressen: „Lancieren wir ebenfalls Superproduktionen über unsere Geschichte, um in den Informations- und Einflusskampagnen mit Filmen, Serien und Videospielen vertreten zu sein.“ Es muss ja nicht gleich Napoleon sein: Mitte Dezember erscheint weltweit die Fortsetzung des letztjährigen Blockbusters „Die Drei Musketiere“. Mit internationaler Starbesetzung, aber garantiert mit einem französischen Regisseur.
 

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