Kampf gegen das Coronavirus - Diesen „Krieg“ gewinnen wir nur als Bürger, nicht als Soldaten

Mit Kriegsrhetorik, wie sie Emmanuel Macron in seiner Ansprache an die französische Nation benutzte, macht man es sich zu leicht. Im Kampf gegen das Virus braucht es keine Soldatentugenden, sondern die Tugend des Bürgers. Die müssen sich viele Wohlstandsverwöhnte aber erst wieder aneignen.

Emmanuel Macron meint, es brauche Tapferkeit und Gehorsam / dpa
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Michael Sommer lehrt an der Universität Oldenburg Alte Geschichte und moderiert gemeinsam mit Evolutionsbiologe Axel Meyer den Cicero-Wissenschafts-Podcast

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Nous sommes en guerre, „Wir sind im Krieg“: Diesen Satz schleuderte Emmanuel Macron den Franzosen vor rund einem Monat gleich ein halbes Dutzendmal in die Wohnzimmer – und sparte auch sonst nicht mit militärischen Metaphern. Der „Feind“ sei zwar unsichtbar, aber auf dem Vormarsch. Der Präsident rief den „Gesundheitskrieg“ aus und verhängte zur Bekämpfung der Corona-Pandemie eine der schärfsten Ausgangssperren Europas.

Tatsächlich haben wir Fünfzigjährige das Gefühl, zum zweiten Mal in unserem Leben Geschichte zu erleben. Das erste Mal war die bei vielen, auch bei mir, von Euphorie begleitete Umbruchperiode zwischen der Parlamentswahl in Polen 1989 und dem Ende der Sowjetunion 1991, die Mauern stürzen ließ und zig Millionen im Osten Deutschlands und Europas die Freiheit brachte. Diesmal ist es das Gegenteil: Ein Lockdown, der uns zu Haus einmauert und bei vielen Ängste weckt. Uns allen nimmt er die Freiheiten, die doch so selbstverständlich wirkten. Von hier, von der Disruption des scheinbar Selbstverständlichen bezieht Macrons martialische Rhetorik ihren Sinn.

Unvorstellbares wird mit einem Federstrich Realität

Für Jacob Burckhardt hatten Krisen karthartische Wirkung: Durch sie bleibe kein Stein auf dem anderen. Alles werde sozusagen auf null zurückgesetzt, weil sich in der Krise der Gang der Geschichte enorm beschleunigt. Krisen generierten so, oft unter unerträglichen Schmerzen, historische Größe. Die Beschleunigung ist in diesem Frühjahr mit Händen zu greifen, die Größe noch nicht.

Unvorstellbares wird mit einem Federstrich Realität, Politiker jonglieren mit hunderten von Milliarden, so als wäre es Monopolygeld. Was groß ist und was verzagt, was vorausschauend und was vielleicht nur betriebsblind, wird die Geschichte entscheiden. Im Moment fahren alle nur auf Sicht: Wissenschaftler und Journalisten und, ja, auch die Politiker.

Man nennt das Verantwortung

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Das aber tun sie gar nicht einmal so schlecht. Sicher, Deutschland war auf die Pandemie schlechter vorbereitet als Taiwan. Und warum Kirchen geschlossen, Baumärkte dagegen offen, Geschäfte ab 800 Quadratmeter zu, kleinere dagegen geöffnet sein sollen, erschließt sich zumindest nicht auf den ersten Blick und schon gar nicht jedem. Aber ist Taiwan wirklich der Maßstab? Im Prinzip hat die Regierung das getan, was ihr Job ist: Sie hat sich wissenschaftliche Expertise geholt und dann gehandelt. Die Wissenschaftler waren sich nicht einig, aber das liegt in der Natur von Wissenschaft und damit müssen wir leben, ob es nun um den Klimawandel geht oder um die Pandemie.

Wie ich zu dem stehe, was jetzt nach Ostern die Landesregierungen in Politik umsetzen, hängt davon ab, ob ich Vorerkrankungen habe oder vielleicht pflegebedürftige Eltern oder ein Café, das jetzt geschlossen ist. Damit wiederum müssen die Regierungen leben: Dass es immer Interessen gibt, auf die sie keine Rücksicht nehmen können, und Leute, die ihr das übelnehmen werden. Es ist der Grundsatz von Politik, dass sie trotzdem handeln und entscheiden muss. Man nennt das Verantwortung.

Die Tugend des Bürgers

Allerdings macht es sich zu leicht, wer meint, nur die Regierenden trügen in der Krise Verantwortung. Da das Virus vor allem die Alten schädigt, aber die Wahrscheinlichkeit statistisch viel größer ist, dass jemand, der jung ist, im Club oder beim Après-Ski zum Superspreader wird, erleben wir das Dilemma, dass vor allem diejenigen verantwortlich mit ihrer Freiheit haushalten müssen, die persönlich das geringste Risiko tragen. 

Das bringt uns zurück zu Emmanuel Macron. Seine Kriegslogik suggeriert, dass wir, um die Krise zu meistern, die Tugenden des Kriegers brauchen: Tapferkeit und Gehorsam. Ich meine, hier irrt der Herr Präsident. Das Problem, dass SARS-CoV-2 uns für andere zum Risiko macht, kann keine Regierung lösen, das können nur wir selbst. Deshalb braucht es nicht die Tugend des Kriegers und schon gar keinen Kadavergehorsam, um die Krise zu bestehen. Was es braucht, das ist die Tugend des Bürgers.

Krisen schaffen historische Größe

Keiner definiert sie besser als Aristoteles: Der gute Bürger versteht gleichermaßen zu herrschen und beherrscht zu werden. Er ist der Souverän seiner Polis und ordnet sich trotzdem diszipliniert dem unter, was beschlossen ist. Die Tugend des Bürgers ist Verantwortung. Viele in Deutschland haben in Jahrzehnten der Bevormundung und Gängelung, auch der Wohlstandsverwahrlosung nie gelernt, was Verantwortung ist. Wer aus Gesinnung oder Gedankenlosigkeit Memes mit dem Hashtag „boomerremover“ postet, der offenbart hier ein erschütterndes Defizit. Wer Corona-Partys feiert, „weil ich’s kann“, der hat in puncto Bürgertugend noch viel Nachholbedarf.

Wird Hans lernen können, was Hänschen nicht gelernt hat? Hoffen wir es, denn ob der Lockdown schrittweise einer Politik weichen kann, die auf weniger Zwang und mehr Freiwilligkeit setzt, wird genau davon abhängen. Krisen schaffen historische Größe. Es wäre wahrhaft groß, wenn wir als Deutsche und Europäer durch Corona den aufrechten Gang des Bürgers wieder lernen würden.

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