Kurz und Bündig - Joseph Vogl: Über das Zaudern

Beim Bart des Moses kam sogar Freud ins Grübeln. In sei­nem Aufsatz «Der Moses des Michel­angelo» nähert er sich fasziniert dem Rätsel des in Stein gehauenen Stammvaters. In der Darstellung Michel­angelos hatte Moses keineswegs in gravitätischer Ruhe Modell gesessen. Von der Figur geht eine irritierende Unruhe aus. Gegen alle Materialgesetze hat Michelangelo ein Bewegungsbild hergestellt, das Freud in eine Serie von Stills auflöst.

Beim Bart des Moses kam sogar Freud ins Grübeln. In sei­nem Aufsatz «Der Moses des Michel­angelo» nähert er sich fasziniert dem Rätsel des in Stein gehauenen Stammvaters. In der Darstellung Michel­angelos hatte Moses keineswegs in gravitätischer Ruhe Modell gesessen. Von der Figur geht eine irritierende Unruhe aus. Gegen alle Materialgesetze hat Michelangelo ein Bewegungsbild hergestellt, das Freud in eine Serie von Stills auflöst. Moses in Ruhestellung, dann aufgestört und aufbrausend und schließlich der verbleibende Rest einer zuckenden Be­wegung hin und her, vor und zurück. Es ist die Dynamik einer als störend angesehenen menschlichen Eigenart, eher Marotte als klar identifizier­bare Handlung, die der Berliner Kulturwissenschaftler Joseph Vogl aus der Freud’schen Beschäftigung mit dem Moses des Michelangelo gewinnt. Zauderer können sich nicht entscheiden. Es ist nicht einmal ihre Langsamkeit, die sie als Sonderlinge erscheinen lässt. Es sind gleich starke, widerstreitende Regungen, die den Zauderer lähmen. Zaudern, so war man sich bereits in der Antike gewiss, führt zu nichts. In einem charakte­rologischen Wörterbuch dürfte man das Zaudern wohl unter Willensschwäche finden.
«Im Zeichen eines allgemein gewordenen Systemhandelns oder Handlungsystems», schreibt Vogl, «haben sich, jedenfalls in den Augen der Psychiatrie, Enklaven, schwarze Löcher und Leerstellen gebildet, an denen dieser Aktionszusammenhang in flagranter Weise abbricht, stockt oder schlicht kollabiert, und zwar in einer Willens-Pathologie», die von bloßer Willenlosigkeit über Willenslähmung bis zu einem sich selbst blockierenden Willen reicht. Da muss man es rausholen – so könnte man salopp Vogls Versuchs­anordnung in eine Handlungsanleitung für theoretische Heimwerker überführen. Dass er dabei mit allerlei philosophischen Wässerchen hantiert, ist seiner Profession geschuldet. Für den nicht-akademischen Leser, der im eigenen Zaudern verborgene Kräfte wittert, bleiben genügend Erkenntnisreiz und beglückende Lektüremomente übrig. «Über das Zaudern» ist eine kleine Schrift mit großer Inspirationskraft. Vogl sucht das Zaudern an seinen literarischen Quellen auf und entdeckt ein poetisches Verfahren. Im Zaudern entsteht ein Zwischenraum, ein Schwellenbereich, in dem sich Handeln und Nichtstun widerspruchslos aneinanderfügen. Die großen Zauderer der Literatur – Hamlet, König Lear, aber auch Schillers Wallenstein – erscheinen so nicht länger als tragische Figuren, sondern als schöpferische Grenz­gänger. Und auf der Grenze, bemerkte Lichtenberg einmal, liegen immer die seltsamsten Geschöpfe. Es geht Joseph Vogl weder um zoologische Entdeckungen oder psychologische Launen der Na­tur. Bei seinem wundersamen Ausflug in mehr oder weniger bekannte Literaturgegenden stößt man am Ende auf handfeste politische Deutungsangebote. Er schlägt vor, das Zaudern gegen die Politiken einer gesteigerten Schlag-Fertigkeit aufzubieten. Schlag­fertigkeit meint hier mehr als nur ein sprachliches Gewappnet-Sein. Es herrscht längst ein Klima geistiger Mobilmachung, in dem die düsteren Gestalten politischer Feindschaft – Saddam Hussein, die Taliban – wechseln mögen. «Peilung, Adressierung und der fortgesetzte Suchlauf zur Identifikation des Feindes kennzeichnen den Ausnahmezustand und die Infrastruktur einer Weltinnenpolitik, die im Zeichen eines neuen Militarismus agiert.» Dem Zauderer hält Joseph Vogl zugute, nicht bloß ein Aktionsallergiker zu sein. Er verfüge vielmehr über einen spezifischen Gefahrensinn und eine phantastische Genauigkeit. Schön gezaudert, möchte man ihm zurufen und versprechen, künf­tig allen Grüblern und Hadernden gegenüber mehr Nach­sicht zu üben. Die Zauderkraft wird noch gebraucht.

 

Joseph Vogl
Über das Zaudern
Diaphanes, Berlin 2007. 128 S., 12 €

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