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(Foto: picture-alliance) Glaube, Liebe, Handeln

Islam-Debatte - Glaube, Liebe, Handeln

Die Muslime dieser Welt verbindet kaum etwas miteinander außer dem Koran. Doch der enthält einen wichtigen Beitrag zum Zusammenleben auch in Europa: das Ideal einer gerechten Welt. Neues von Navid Kermani, Tariq Ramadan und Kristiane Backer

Wer heute über abendländischen Identitätsverlust und Multikulturalismus jammert, male sich einmal aus, wie es auch hätte kom­men können: Nehmen wir an, die Bundesrepublik hätte in den fünfziger Jahren Arbeiter nicht von den Rändern des Mittelmeers, sondern aus Indien oder Thailand angeworben. Nicht über das Kopftuch würde dann gestritten, sondern über den Sari, die traditionelle Tracht der Inderinnen; nicht über Minarette, sondern über vielarmige Götterbilder. Nicht Döner Kebap dominierte unsere Straßen, sondern die indische Küche hätte die hiesigen Speisekarten wie einst die britischen schleichend vegetarisiert. Anstelle der Frage «Wie viel Islam verträgt Europa?» hieße es in Talkshows und Magazinen: «Wie viele Gottheiten verträgt Europa?» Wem schon der Islam verwirrend fremd scheint, den hätte die Vielfalt hindu­istischer oder buddhistischer Traditionen vermutlich vollends aus der Bahn geworfen.

Nach diesem Gedankenspiel erscheinen Deutschlands Muslime in einem neuen Licht: Monotheisten wie die Christen, meist westlich gekleidet, mit einer Heiligen Schrift und Geschichten, die man aus der Bibel kennt. Die islamischen Propheten, der islamische Offenbarungs- und Jenseitsglaube, selbst der gelegentliche apokalyptische Fanatismus sind dem Abendländler relativ vertraut. Dass die Muslime bereits mit vier Millionen, wie es oft heißt, Deutschland bevölkerten, ist eine Übertreibung. Nicht bei allen Menschen mit türkischem, marokkanischem oder iranischem Hintergrund darf man davon ausgehen, dass sie sich dem Islam zugehörig fühlen. Viele von ihnen glauben nicht mehr an Gott (arabisch: Allah), und gerade aus dem Iran sind viele gekommen, die schon früher nicht inbrünstig an ihn geglaubt haben.

Vielleicht ist also die interessante Frage nicht: wie nah oder fremd sind den alteingesessenen Deutschen die Muslime?, sondern: wer sind sie überhaupt, diese deutschen Muslime? Eine Bevölkerungsgruppe unbekannter Größe, unterschiedlichster Abstammung, mit Vertretern in allen sozialen Schichten – was hält sie zusammen, falls es dieses eine Verbindungsglied für alle überhaupt gibt? Denn sogar das, woran die Muslime jeweils glauben, ist mangels Papst und verbindlichem Katechismus alles andere als klar. «Wer ist Wir?» fragt Navid Kermani daher in seinem neuen Buch über die deutschen Muslime, zu Recht.


Deutsche Muslime im Dialog mit sich selbst

Das Wir dieses Titels ist ein doppeltes: Wer sind einerseits diese Muslime, vor denen das Fernsehen mal warnt, weil der Koran so viele gewalttätige Verse enthielte und die Moscheen so viele «Schläfer» beherbergten – und mit denen dasselbe Fernsehen, oft derselbe Sender, zum «Dialog» aufruft und über die es fahrlässig vereinfachte Informationen bringt: «Im Islam heiraten Männer vier Frauen» oder «Muslime beten fünfmal am Tag»? Wenn man derart unterkomplexe Kriterien anlegt, schrumpft übrigens der Anteil der Muslime nicht nur an der deutschen, sondern auch an der Weltbevölkerung rasant.

Wer ist aber andererseits jenes zweite Wir, das diesen Sätzen lauschen und durch sie zum «Dialog» verlockt werden soll? Denn viele Muslime sind ja längst Deutsche. Das Plädoyer für den Dialog sei löblich, schreibt Kermani, «nur bedeutet es für etwa drei Millionen Menschen in diesem Land, dass sie den Dialog mit sich selbst führen müssten». Noch im gutgemeinten Aufruf zur völkerverständigenden Toleranz erkennt der hellsichtige Beobachter Ker­mani – der in Deutschland aufgewachsen ist, der das dauerverregnete Siegen als seine Heimatstadt bezeichnet und dessen Essays, Erzählungen und Romane in deutscher Sprache entstehen –, dass die deutsche Öffentlichkeit ihre Muslime noch nicht als Teil eines gemeinsamen Wir ins Herz geschlossen hat.

Doch auch wo der Autor kritisiert, wird er nicht ungerecht. In dem Band «Wer ist Wir?» sind frühere Texte des Orientalisten Kermani zu einer flüssigen, fairen Reflexion über «Deutschland und seine Muslime» zusammengefügt. Nicht an der Sprache, nicht an etwaigen Schwankungen im konstant hohen Niveau erkennt man die unterschiedliche Herkunft der Texte, sondern an ihrem jeweiligen Gegenüber, an jener Hälfte des Wir, dem der Spiegel vorgehalten wird. «Die geistige Aufrüstung, die in Teilen der Gesellschaft betrieben wird, ist unübersehbar. Die Berichterstattung zum Islam in einzelnen Medien hat längst den Charakter einer Kampagne angenommen», schreibt Kermani einmal. Und an anderer Stelle beschwichtigt er die Muslime, sie sollten nicht ständig jammern: «Ja, es gibt ein Feindbild Islam. Aber die Muslime sollte es mehr beunruhigen, dass es einen Islam gibt, der sich als Feind gebärdet.»


Sufis und Scheinheilige, Machos und Feministen

«Muslimisch» und «deutsch», das jedenfalls zeigt Ker­mani, sind keine einander ausschließenden Attribute. Verwirrend wird dieses Spiel der Identitäten nur für jemanden, der jedes Individuum exakt einer Schublade zuordnen will: entweder – oder. Das Ankreuzen mehrerer Kästchen ist hier nicht gestattet: Angeblich muss der Mensch wissen, woher er kommt und wohin er gehört. Wobei dieser Identitäts­diskurs nicht etwa nur von Kulturkonservativen ohne Kontakt mit der multikulturellen Wirklichkeit gepflegt wird, sondern auch von jungen europäischen Muslimen. Sie sind hier aufgewachsen, sie sind keine Terroristen, sondern Demokraten, wollen Ingenieur werden oder studieren Zahnmedizin. Und als ihre wahre Heimat nennen sie den Islam.

Die umma, das ist jene vielbeschworene Gemeinschaft aller Muslime, die es in der Geschichte nie gab und bis heute nicht gibt. Man mag sich fragen, was es sein könnte, das alle Muslime gemein haben – von Marokko bis Malaysia, vom pakistanisch-stämmigen Börsenmakler in London bis hin zum Viehtreiber in Sudan. Die Antwort ist: Kaum etwas außer jenem Buch, das für sie das Wort Gottes enthält, das sie aber unterschiedlich übersetzen und auslegen. Dasselbe Buch, das Muslime weltweit jeweils zur Grundlage ihres Kapitalismus oder Sozialismus, ihres Machotums oder Femi­nismus machen, das aus ihnen Sufis, Scheinheilige, Fromme, Eiferer oder Tolerante werden lässt. Wiederum: Kein Argument funktioniert im Islam, auch im europäischen Kontext, ohne dieses Buch, die Niederschrift einer Offenbarung, die im Laufe von 23 Jahren des siebten (christlichen) Jahrhunderts an Mohammed erging. Auch wer meint, man müsse manche Verse heute anders verstehen als zu Mohammeds Zeiten, wird sich auf den Koran rückbeziehen.


Gutes Gewissen bei möglichst großen Gewinnen

Ein moderner Schweizer Muslim und Islamwissenschaftler, der seit langem versucht, den Koran vor heutigem, europäischem Lebens­hintergrund zu interpretieren, ist Tariq Ramadan. Ausgerechnet ihn haben vor einigen Jahren regelrechte Kampagnen deutscher und französischer Medien des Fanatismus und der Heuchelei zu beschuldigen versucht. Wer bis heute diese Mär vom Wolf im Schafspelz glaubt, den wird Ramadans neues Buch «Radikale Reform» eines Besseren belehren. Niemand würde ein derart grundsätzliches, gewagtes Buch veröffentlichen, ohne dessen Inhalt selbst zu vertreten. Ein Buch, das die Muslime dazu aufruft, Schluss zu machen mit der Buchstabengläubigkeit, das dazu aufruft, die ethischen Grundsätze hinter dem bloßen Handeln zu finden – und mit dieser Ethik Ernst zu machen.

Ramadan fordert auch den Westen heraus – allerdings nicht aus fundamentalistischer, sondern aus kapitalismuskritischer Perspektive: Sein Koranstudium verbindet sich nahtlos mit Globalisierungskritik à la «Attac». Der Islam verbietet bekanntlich, Zinsen zu nehmen, und die meisten Muslime richten es sich nach Kräften so ein: etwas weniger Zins hier, ein bisschen mehr Almosen da, in dem Bemühen, den alten Regeln treu zu bleiben. Das aber, sagt Ramadan, ist nicht Sinn der Sache. Die bestehende Wirtschaftsordnung sei ungerecht, sie produziere Reiche und Arme und Kriege und Hunger. Den Muslimen dürfe es nicht um eine Pflege des eigenen Gewissens bei möglichst großen Gewinnen gehen, sie müssten sich um die Herstellung von mehr Gerechtigkeit für alle bemühen. Statt innerhalb der globalen Wirtschaftsordnung «Schutzbereiche» einzurichten, «in der Hoffnung, Gläubige bestmöglich vor den unmoralischen Realitäten der gegenwärtigen Weltordnung zu schützen», sollte eine islamische Ethik dazu motivieren, «die Welt zu ändern».

Auch in anderen ethischen Fragen wirkt Ramadan aufwühlend. Er ruft die islamischen (und nicht-islamischen) Länder zu einer neuen Politik in Sachen Aids-Behandlung und -Vorbeugung auf: Ohne Aufklärung und Kondome geht es nicht – egal, welche sittlichen Bedenken man gegen anderer Leute Sexualpraxis hegen mag. Dann erinnert Ramadan die Muslime an das tier-ethische Erbe der Scharia, kritisiert die heutige Massentierhaltung und schreibt für manche Ohren geradezu ketzerisch: «Was entspricht ethisch gesehen eher den ‹islamischen› Gebräuchen, ist eher als ‹halal› (rein) zu bezeich­nen: Wenn einem zwangsernährten und unter qualvollen Bedingun­gen gehaltenen Huhn, das nie das Tageslicht erblickt hat, nach den islamischen Regeln unter Aufsagen der rituellen Formel die Kehle durchtrennt wird? Oder wenn einem Tier, das artgerecht gehalten und biodynamisch ernährt wird, ohne Aufsagen der rituellen Formel der Hals durchgeschnitten wird?»

Von den Muslimen Europas, so Ramadan, werde meist nur erwartet, sich zu integrieren, seltener, etwas Eigenes einzubringen – zum Beispiel das koranische Gerechtigkeitsideal, zum Beispiel Mohammeds tier-ethische Hadithe. Und zu einem weiteren Komplex schreibt Ramadan: Dem Buch Koran habe der Koran selbst schon immer ein zweites beigesellt, nämlich das «Buch» der Schöpfung. Um Letzteres zu studieren, bedürfe es der modernen Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften.


Die Rituale als Hülle des Glaubens

Wer Ramadans «Radikale Reform» liest, bekommt das Gefühl, einer bedeutenden Grundsteinlegung beizuwohnen – auch wenn ein derart umfangreiches, komplexes Unterfangen wie das hier vorgeschlagene fast ebenso viele Fragen aufwirft, wie es beantwortet. Ungeklärt bleibt vorerst etwa, ob eine religiös begründete Ethik je in dem Maße rational und frei von transzendenten Prinzipien sein kann, wie es die moderne universale Moral für sich zumindest beansprucht. Wird nicht jede islamische Ethik das Wesen des Menschen bestimmen müssen, unter anderem im Hinblick auf die Sexualität und die Rollen der Geschlechter? Wird der Gläubige auch bei anderen Fragen nicht doch schließlich auf ein Zitat, eine Offenbarung, auf ein «Gott will es so» zurückgreifen, weil dies nun einmal der letzte Grund seines Handelns ist?

Neben der vielbeschworenen muslimischen Identität ist die Ethik jedenfalls ein anderer möglicher Kern dessen, was es heißt, dem (europäischen) Islam zuzugehören. Nicht, wer die Muslime sind, wäre demnach die Frage, sondern: Wie handeln sie? Das kann man herkömmlich und äußerlich beantworten – «Zieh dir ein Kopftuch auf», «Wasch dich vor dem Gebet» – oder radi­kal und sinnbezogen, wie Ramadan es tut: Ändere die Welt so, dass sie gerechter wird, statt dir darin nur selbst den Weg zum Paradies zu ebnen.

Wenn also mit Navid Kermani von muslimischer Identität die Rede ist und mit Tariq Ramadan von islamischer Ethik – wie steht es um den Glauben selbst? Ähnlich wie das Judentum und anders als das Christentum ist der Islam eine Religion, die eher auf richtiges Handeln ausgerichtet ist als auf den rechten Glauben, eher auf Orthopraxie als auf Orthodoxie. Die Dogmen des Islam kann man an wenigen Fingern abzählen, und der muslimische Glaube manifestiert sich ohnehin nicht im Glaubensbekenntnis, sondern in dem auf Gott bezogenen Vollzug des Alltagslebens. Die Regeln, Rituale und Konventionen sind für den Glauben, wie insbesondere die Sufis es beschrieben haben, das Kleid, die Hülle – oder, wie in einem weiteren neu erschienenen Buch zu lesen ist, «die Ränder des Wegs».


Wo bleibt die Spiritualität?

Es handelt sich um ein erstaunliches Buch, überraschend zunächst wegen der Autorin: In «Von MTV nach Mekka» erzählt die ehemalige TV-Moderatorin Kristiane Backer von ihrer Konversion und ihrem Leben mit dem Islam. Entgegen allem, was man von der Berufsgruppe der MTV-Mitarbeiter sowie vom Buchtitel erwarten würde, handelt es sich um einen subtilen, inspirierenden und wohltemperiert gefühlvollen Bericht. Mitte der neunziger Jahre begann sich Backer mit dem Islam zu beschäftigen, konvertierte, bereiste unter anderem Pakistan, Ägypten, Marokko und die Türkei, lernte die unterschiedlichsten Muslime in diesen Ländern und an ihrem Wohnort London kennen, sie las die Werke der islamischen Mystiker, lernte beten, nahm Arabisch-Unterricht, machte die Pilgerfahrt nach Mekka.

Gelegentlich treten Größen der Rock-und-Pop-Welt auf, was dem Buch einen leicht surrealen Touch gibt, doch nie wird der Tonfall eitel. Für einen «geborenen» Muslim ist diese Lektüre vielmehr berührend und beschämend zugleich – weil man sieht, wie sich jemand voller Hingabe dem Studium einer Religion, dem Aneignen ihrer Praktiken, dem Einüben aller möglichen Tugenden widmet. Auch wenn Gläubige vieles davon kennen – wann haben sie sich zuletzt mit solcher Kraft darum bemüht? Meist sind sie damit beschäftigt, um Moscheen zu streiten oder über die Teilnahme am Schwimmunterricht. Sie grenzen sich ab von anderen Muslimen, definieren sich als dies oder jenes, werfen bei ihren Beweisführungen mit Koranversen um sich. Doch wo bleibt bei alledem der Glaube, oder, moderner ausgedrückt: die Spiritualität?

Auch zum Thema «europäischer Islam» hat Backer einiges beizutragen, aber Definitionsfragen stehen nicht im Mittelpunkt ihres Buches. Das Leben mit dem Glauben, so der Eindruck, erfüllt sie genug. Angeregt von Kristiane Backer, möchte man wieder einmal Gedichte von Rumi, dem persischen Mystiker, lesen – oder Verse des 1980 gestorbenen persischen Künstlers Sohrab Sepehri, den Navid Kermani zitiert: «Mein Mekka ist eine rote Rose / Mein Gebetstuch eine Quelle, mein Gebetsstein Licht. / Die Steppe mein Gebetsteppich.»

 

Hilal Sezgin ist Muslimin, Philosophin und Autorin und lebt in der Lüne­burger Heide. Zuletzt erschienen «Typisch Türkin? Porträt einer neuen Generation» und (gemeinsam mit Nasr Hamid Abu Zaid) «Mo­hammed und die Zeichen Gottes. Der Koran und die Zukunft des Islams».

 

Navid Kermani
Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime
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Tariq Ramadan
Radikale Reform. Die Botschaft des Islam für die moderne Gesellschaft
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Nina zu Fürstenberg
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Kristiane Backer
Von MTV nach Mekka. Wie der Islam mein Leben veränderte
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Cornelia Filter
Mein Gott ist jetzt Allah und ich befolge seine Gesetze gern. Eine Reportage über Konvertiten in Deutschland
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Bärbel Beinhauer-Köhler, Claus Leggewie
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