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Fußball-WM - Der Jubel der Toren

Was 1990 in Italien mit einem Tänzchen begann, ist inzwischen zur unerträglichen Pose geworden: Eine kleine Kulturgeschichte des Torjubels

Autoreninfo

Wolf Reiser (64) lebt und arbeitet in München als Buchautor, Reporter und Essayist. Mehr hier

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Seit dem sogenannten Sommermärchen 2006 muss konstatiert werden, dass sich die deutsche Frau, zumal deren aufgeklärtere Variante, im Besitz profunden Fachwissens wähnt. Unlängst, umgeben von ein paar hierzulande nicht ganz unbekannten und dem Prosecco nicht abgeneigten Medienschaffenden, gab es also zwei mal 45 Minuten Juwelen jener Art zu hören: „Ach, ist der süß, würd ich nicht von der Bettkante stoßen! Was steht denn da auf dem Tattoo von dem Negerlein? Der ist doch ein Kolumbianer....Prösterchen, die wievielte Halbzeit kommt jetzt, Schatz? Abseits, das geht ja – gar - nicht...“

In diesen Tagen stößt der allmählich genervte Macho auf eine hohe Zahl weiblicher Twitterbeiträge, wie etwa jene beiden von letzter Woche: „Was ich vom Spiel Uruguay – Costa Rica mitbekommen habe: Es gibt Nippel zu sehen. Den Spielstand weiß ich nicht.“ Und: „Diese Trikots. Diese Oberkörper. Dieses Uruguay. Alle vier Jahre läuft mir da aufs Neue das Wasser im Mund zusammen!“ Anderen Menschen kommt hingegen die Galle hoch, auch wenn Angela Merkel im Kreis der debil grinsenden Mercedes-Außendienstler die Kosten für ihren auch alle vier Jahre stattfindenden Wahlkampf spart.

Aber nun zum eigentlichen Thema, dem Jubel, dem Torjubel, der Freude schöner Götterfunken. Es gab vor langer Zeit mal einen Gerd Müller, es machte ständig bumm, es gab ein Tor und dann noch ein paar und danach klatschte man sich beim ruhmreichen FCB kurz ab, reckte vielleicht noch die Faust in die Höhe und zog sich still und leise wieder in die eigene Hälfte zurück. Auch ein Marco Bode erledigte ein paar Jahre später die Dinge recht unspektakulär, ein Tor gut, okay, prima, schön, aber das war ja nun auch sein Job.

Bei der aktuellen Fifa-Sponsorenveranstaltung erleben wir zum Beispiel den zauberhaften Lombarden Pirlo, der trotz seiner Genialität immer so melancholisch dreinschaut, als wäre er noch an einem zweiten Spiel in einer anderen Dimension beteiligt. Seine Pässe und vor allem diese luziden Freistöße sind Gesamtkunstwerke und seine abgeklärte Art den Torerfolg zu feiern, bildet einen tröstlichen Kontrapunkt zu den grauenvollen Amokläufen seiner meisten Kollegen. Ziemlich genau 100 Jahre nach der skandalösen Premiere von „Sacre de Printemps“ könnte man heute meinen, beim dampfenden Fruchtbarkeitstanz habe lediglich eine Geschlechtsumwandlung stattgefunden und es seien nun eben die jungen Männer an der Reihe, einem aufgegeilten Damenpublikum zu dienen, halb Table-Dance, halb Blocksberg mit ein wenig zuviel Crystal-Meth im Halbzeittee.

Wie alles begann


Den Auslöser für die neuzeitlichen Männerorgien erlebten wir bei der WM 1990 in Italien.  Es war der große Auftritt des Roger Milla, der seine Kameruner bis ins Viertelfinale schoss und mit seinem Lambadatanz mit der Eckfahne das Sinnbild von Freude, Passion, Jubel, Aufbruch und Unschuld geschaffen hatte. Dieser starke Moment der Fußballgeschichte wurde dann tausendfach kopiert, auch von Titan Kahn, allerdings in einer reichlich ungeschlachten Triumphdarbietung.

Allemal nahm diese Form der explosiven Jubelpose Schwung auf. Klose feierte seine Tore meist ganz gelungen mit seinem Salto – bis auf jenen im Ghanaspiel – und der freche Luca Toni hielt sich die Hand wie eine Muschel ans Ohr, vermutlich, um seinen tausendfach gerufenen Namen besser zu hören, während Wayne Ronney es vorzieht, gut 200 Meter weit auf den Knien Richtung Puff zu rutschen. Die Brasilianer, die beim finalen Elfmeterschießen gegen Italien die im konkreten Fall auch funktionierende Voodoo-Mauer eingeführt hatten, erfanden bei derselben WM das Lutschen am Daumen – heute eine der wenigen Unarten von Messi - sowie das Schaukeln irgendwelcher Bebes, auch das in die Luft gemalte Herzchen und den Gruppentanz im Samba, den später die vom Schuhplattler beeinflussten Bayernspieler entsprechend hölzern interpretierten.

Weiter in Mode kam das Küssen des Vereinswappens, meistens drei Wochen vor dem Transfer, oder das bescheuerte Deuten auf die Rückennummer: Ich, ja, ich war das, ich habe das Tor gemacht, so ein bisschen wie Burt Lancaster in Atlantic City. Der scheue Gomez gab stets und immer den edlen Matador, kein echtes Bekenntnis zum Deutschtum, was er dann ja auch zügig zu spüren bekam. Nur einmal, 2009 beim Torjubel fabrizierte er eine Geste des Dosenöffnens nebst anschließendem Flügelschwingen, für die er vom DFB wegen unabgesprochenem Product Placement ordentlich zusammengefaltet wurde.

Die juristische Ahndung nicht korrekten Jubelns


Sportgerichte agieren nämlich bei Jubelmissbrauch politisch sehr korrekt. Man zeigt sich besonders schockiert, wenn ein Mandzukic seine Tore mit kroatischen Ustaschagesten feiert oder Bösbube Anelka antisemitische Quenelle-Grüße an seinen Freund Dieudonne M’bale verschickt. Das gibt dann vereinsintern eine deftige Geldstrafe, die dem Stundenhonorar des durchschnittlichen Profis entspricht. Indessen ist mit der Fifa in Sachen Verbindung von Unterwäsche und Religion überhaupt nicht zu spaßen.

Auslöser dafür war Didier Drogba, der in seiner Zeit bei Galatasaray Istanbul nach einem Tor ein T-Shirt unter dem Übertrikot hervorzog, um dem eben verstorbenen Nelson Mandela zu gedenken. Die Konsequenz des Weltverbands für Ballkultur und Schlussverkauf lässt sich im hauseigenen Gesetzbuch nachlesen: „Ein Spieler oder eine Mannschaft, die auf der Unterwäsche politische, religiöse oder persönliches Statements oder Bilder beziehungsweise Werbung mit Ausnahme des Ausrüsterlogos zeigen, werden vom Veranstalter oder der Fifa bestraft.“

So nach und nach brachen aber dennoch alle Dämme und immer neue Kapriolen der Jubeltoren kamen auf den Markt. Da helfen natürlich die TV-Bilder überall auf der Welt mit,  von deren semifaschistoider Inszenierung selbst Leni Riefenstahl noch etwas lernen könnte. Jeder Treffer zwischen Barcelona und Buenos Aires läuft in zigfacher Wiederholung nonstop auf und ab und in endloser Wiederholungsschleife zelebrieren unsere Helden ihre Größe, ihr Ego und ihren Marktwert, der sich so nach und nach an die 100-Mio-Euro-Grenze pro Stück vorschiebt. Und eben jener Gareth Bale bemüht sich seit einem Jahr darum, seinen Torjubel, also sein Logo, markenrechtlich zu schützen. Es ist - natürlich - ein geformtes Herz, in das er irgendwie seine Nummer 11 integriert. Seine Agentur rechnet mit jährlich vier Millionen Euro Umsatz.

Aus den Emotionsäußerungen wurden immer häufiger penibel eingeübte Choreographien. In logischer Konsequenz gibt es heute auch die offizielle Trainingseinheit Gruppentanz. Manche entscheiden sich für rockiges Luftgitarrenspiel, andere mimen gemeinsam den Hole-In-One-Golf- , Eishockey- oder Basketball-spieler, wiederum andere geben die Angler am Wolgastrand oder spielen auf Knien eine Art Violine. Ganz und gar nervig indessen ist die mitten im selbstverliebten Wahn gezeigte Geste des quer über die Lippen gelegten Fingers. Wer soll’s Maul halten? Das Publikum? Der Trainer? Die Ehefrau? Putin? Gott?  Im Falle der französischen Nationalspielers Samir Nasri im Spiel vor ein paar Tagen gegen England galt diese Idiotenpose den kritischen Pariser Medienvertretern. Als ihn sein Coach später zur Brust nahm, rechtfertigte Nasri sein Verhalten mit dem Zustand seiner kranken Mutter.

Was mit Roger Milla als originelles und belebendes Spaßelement begann, ist inzwischen jedem Kicker bis hinunter in die nieder-bayerische Hopfenliga in Fleisch und Blut übergegangen. In peinlicher Hilflosigkeit werden da hintereinander gleich vier, fünf, acht Elemente aus dem Affentheaterarchiv abgeliefert. Und dass da einem mal versehentlich eine Art Nazigruß rausrutscht, meine Güte, Sport und Politik muss man trennen, zudem sind das ja noch junge und nicht gänzlich ausgereifte Leute, wie Robin von Persie bei Arsenal etwa, der jene überdeutlich präsentierte Armübung den Briten reuelos als „Ausdruck reiner Freude“ verkaufte. Kranke Mütter, reine Freude, das passt irgendwie gut zusammen. Letztlich erinnern diese lächerlichen und krampfhaft einstudierten Pflichtübungen an den Bühnenspuk ganz schlechter Chargen der Provinztheater in den Fünfziger Jahren.

Was sagen uns nun aber diese Gesten und Posen? Geht das tiefer in kollektive seelische Schichten und damit über die bloße Hampelei hinaus? Was wollen die Tänze dem Publikum vermitteln? Geht es doch nur um öffentliche Selbstbefriedigung? Steckt eventuell ein geheimer Code dahinter? Oder sind das feinstoffliche Warnungen oder gar apokalyptische Vorzeichen? Müssen wir schon wieder an den alljahrhundertjährlichen Tanz auf dem Vulkan denken?

Das archaische Ritual


Wie immer, wenn der öffentliche Diskurs nicht so recht weiterkommt, fühlt sich, wie meistens ungefragt, die Schreibfabrik in Karlsruhe unter der Regie von Peter Sloterdijk auf den Plan gerufen. Angesichts der grassierenden „Torschützen-Orgasmen“ beschleicht ihn das Gefühl, dass im Manne noch immer der Steinzeit-Jäger wohne. Und nur so, beschleicht ihn das Gefühl weiter, könnten die Kumpels nach einem erfolgreichen Schuss derart ungestüm und schamlos übereinander herfallen. Danach kommt sein messerscharfer Verstand ins Spiel. Diese Rituale wiesen eindeutig auf das „älteste Erfolgsgefühl der Menschheit“ hin, nämlich den Jagderfolg. 

Der enigmatische Philosoph, der da immer so lässig zwischen Alexandria und Hofbräuhaus hin- und herschwebt, führt in Sachen Jubelamok die „Archäologie der Männlichkeit“ an und sieht die Jagd nach dem Tor in logischer Konsequenz der mehr oder weniger 7000 Jahre zurückliegenden Jagd nach dem Wild. Man möchte ihm fast Glauben schenken, wenn man an den hypersensiblen Mädchenbeschützer Frank Ribery  denkt. Hat er ein Tor erzielt hat, dann nimmt er gerne wie ein panisches Wildschwein sehr seltsame Fluchtwege, hinaus auf die Tartanbahn, rein ins Gittergehege, ein paar Meter übers Grün robben, dann querfeldein zurück, durch die Felder, durch die Auen, dabei die anderen zehn zweibeinigen Werbeflächen aggressiv wegschubsend und sich jeder Berührung erwehrend, noch einen Haken, dann der Boxenstop an der Trainerbank, Knutschen in die Kameras, selbst bei einem Van Gaal, anschließend wieder zurück Richtung Südkurve, noch ein paar Bocksprünge dort und dann verharrt er, von firmeneigenen Jägern umgeben, ermattet wie Belmondo in Außer Atem.

In diesem Zusammenhang möge auch die Frage erlaubt sein, wieso nicht jeder Käsehändler in einen solchen Irrentanz verfällt, nachdem er samstags seine letzten 100 Gramm Gouda verkauft hat oder jeder deutsche Briefträger laut aufschreiend sein Firmenemblem küsst, nachdem er eine Postkarte erfolgreich in einen Schlitz gesteckt hat. Oder warum sich Siggi Gabriel nicht nach einer gelungenen Energiewendenrede das immer so knallenge Trikot auszieht, die Brust aufpumpt und eine Kingkong-Grimasse schneidet.

Warum nur die?


So wie unser geliebter Mario Balotelli, dessen manische Ichbezogenheit ziemlich genau widerspiegelt, wohin wir alle treiben. Erfolg ohne Limit, Bereicherung ohne Ethik, gelebter Zynismus bei kompensatorisch inszenierter Selbstgerechtigkeit – die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Der Jubel des neuen Jahrtausends berichtet uns in seiner animalistischen Theatralik vom jenem Zustand, den wir uns geschaffen haben und den wir alle ohne Zwischenruf zuließen. Das ist recht trostlos und da helfen zum einen weder diese zurechtge-zimmerten Fifa-Kampagnen in Sachen Respekt und Anti-Rassismus weiter noch zum anderen die Human-Touch-Sonntagsreden und die bleiernen Bibelstunden aus Bellevue.

Der Jubel in seiner, ja, das kann man sagen, Entartung, ist nur ein weiteres winziges Indiz für unseren Zeitgeist, der für den puren Egoismus steht und für das Primat, zunächst einmal die eigene Haut zu retten. Balotelli, der ja gerne auch seine Mannschaftskollegen verprügelt oder Jugendspieler mit Dartpfeilen bewirft, brachte es nach einem entscheidenden Tor gegen ManUnited ganz wortlos und leise auf den Punkt, als er unter seinem Nippel-Trikot ein T-Shirt entblößte, auf dem stand: „Why always me?“ Er erhielt dafür eine gelbe Karte.

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