Fußballweltmeisterschaft in Katar - Ja, ich schaue die WM! Aus Überzeugung!

Der Proteststurm gegen die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar kommt nicht nur Jahre zu spät, er pfeift auch völlig am Thema vorbei. Letztlich ist er nichts anderes als ein Zeichen westlicher Verunsicherung.

Lusail-Stadion in Katar: Austragungsort des Finales der Fußball-WM 2022 / dpa
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Matthias Heitmann ist freier Publizist und schreibt für verschiedene Medien. Kürzlich hat er das Buch „Entcoronialisiert Euch! Befreiungsschläge aus dem mentalen Lockdown“ veröffentlicht. Seine Website findet sich unter www.zeitgeisterjagd.de.

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Am 20. November 2022 beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar. Natürlich wird sie, wie immer, flächendeckend im Fernsehen übertragen, natürlich auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Gleichzeitig wird den Menschen, die sich dafür interessieren, die Frage gestellt, ob sie das Wüsten-Spektakel nicht vielleicht doch lieber nicht schauen sollten. Es ist ein groteskes Schauspiel. Die Medien verhalten sich, als genössen sie ihre vermeintliche Machtposition: Sie bieten dem Fußballvolk moralisch-verwerfliche Ware an und wollen es gleichzeitig darüber belehren, wie schändlich es sei, ein so blutbeflecktes Turnier überhaupt ansehen zu wollen. Sie agieren wie Drogenhändler, die ihren Stoff mit Beipackzettel verticken und mit erhobenen Zeigefingern über Risiken und Nebenwirkungen aufklären.

Die öffentliche Erregung über das Fußballturnier hat einen Pegel erreicht, in dem der Sport endgültig zum Nebengeräusch einer moralingetränkten Dauer-Gerichtsverhandlung zu verkommen droht. Vier Wochen lang werden der Gastgeber Katar und der Fußballweltverband Fifa nicht auf der Auswechsel- sondern auf der Anklagebank sitzen, und mit ihnen zusammen der Teil der Öffentlichkeit, der sich noch nicht vom Dauergetröte der westlichen Moral-Vuvuzelas vertreiben ließ. Die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar wird zu einer zweiten Klimakonferenz werden und gemeinsam mit dieser die öffentliche Meinung in die Zange nehmen. Klimaschutz, Umweltschutz, soziale und Arbeitsstandards, Unterdrückung, Demokratie, Frauenrechte, Umbau der Industriegesellschaft – wer in diesem Spätherbst den Fernseher anschaltet, fühlt sich wie in einem pseudoakademisch-jungsozialistischen Blockseminar.

Nun ist die Politisierung – oder besser: die Moralisierung des Sports, und insbesondere des Fußballs, wahrlich kein neues Phänomen. Und man kann ja den Fernseher auch ausschalten, wenn einem die einseitige Dauerberieselung zu viel wird. Was aber tatsächlich „neu“ ist, ist die Omnipräsenz und die Intensität, mit der „Katar“ als perfektes Symbol für nahezu alles Böse und Verwerfliche über den Bolzplatz der Meinungs- und Kommentarspalten gekickt wird. Die besondere Stärke dieser Moralisierung geht einher mit einer fortschreitenden politischen Amnesie der modernen Gesellschaft und einer wachsenden Unsicherheit, Ereignisse in historische, politische oder kulturelle Kontexte einzuordnen. Verfolgt man die verbalisierten Erregungsstürme angesichts der anstehenden Weltmeisterschaft, so hat man den Eindruck, als läge nunmehr ein Moral- und Tabubruch vor uns, den der globale Sport so noch nie gesehen hätte.

Katar ist kein Einzelfall

Ein flüchtiger Blick in die Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaften offenbart jedoch das Gegenteil. Das letzte Weltturnier fand 2018 in Russland statt – vier Jahre nach der Annexion der ukrainischen Krim. Noch Fragen? Die WM 2014 in Brasilien mag in den deutschen Fußballseelen als strahlend und fantastisch abgespeichert sein – war sie aber nicht, zumindest nicht für die Bewohner der Favelas und anderer Teile von Rio, die unter einzigartigen Säuberungsaktionen der Stadt zu leiden hatten, damit die Granden der Fifa und die Welt keine negativen Bilder zu sehen bekamen. Ähnliches wurde auch anlässlich der WM 2010 in Südafrika bemängelt.

1982 fand die Weltmeisterschaft in Spanien statt. Zu diesem Zeitpunkt war das Land zwar bereits eine Demokratie, wenn auch noch eine recht instabile – die Vergabe des Turniers an Spanien erfolgte jedoch bereits im Jahr 1966, als das Land noch von Franco diktatorisch geführt wurde und niemand von einer baldigen Demokratisierung des Landes sprechen konnte. Auch die WM 1978 fand in einem Land statt, in dem eine Militärdiktatur herrschte. Aber selbst wenn die Fifa ein demokratisches Land auswählte – wie etwa Deutschland im Jahre 2006 –, so war dies noch lange keine Garantie dafür, dass es bei dieser Vergabe dann mit rechten Dingen zuging. Wenn heute hierzulande kritisiert wird, Katar habe sich die WM 2022 gekauft, dann ist dies nichts als ein hoheitliches Ablenkungsmanöver von den damaligen „kaiserlichen“ Bemühungen, der damals wirtschaftlich krankenden und hochgradig depressiven bundesrepublikanischen Gesellschaft ein Sommermärchen zu verschaffen – koste es, was es wolle.


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Dass mit Katar nun ein Land die Weltmeisterschaft ausrichtet, das nicht unbedingt flächendeckend europäischen Standards hinsichtlich Demokratie, Gleichberechtigung, Arbeitsschutz und Menschenrechten entspricht, ist bekannt, sollte nicht überraschen und ist auch kein wirklicher Grund für die öffentliche Erregung, die die westliche Welt gerade ergreift. Auch die Geschichte der Olympischen Spiele der Neuzeit belegt, dass Veranstaltungen von globaler Bedeutung besonders gerne von autoritären Regimen ausgerichtet werden – und sich auch sehr gerne von diesen ausrichten lassen.

Die moralische Doppelzüngigkeit des Westens

Dass Katar jetzt so in der Kritik steht, hat mit dem Wüstenstaat selbst wenig zu tun. Weder stellt das Land, das rund 2,6 Millionen Einwohner hat und kleiner ist als Schleswig-Holstein, eine militärische Bedrohung für irgendjemanden dar, noch herrschen im Land bürgerkriegsähnliche Zustände, die die Stabilität der Welt gefährden. Zwar macht der fast märchenhafte Reichtum des Staates ihn zu einem wichtiger werdenden Player in der Region, jedoch ist sein Machtzuwachs nicht durch zwielichtige Außenpolitik, sondern eher durch das Hofieren vonseiten westlicher Staaten zu erklären. Wenn sich Katar darüber hinaus in die globale Welt des Sports und insbesondere in westliche Fußballligen einkauft, so ist das ebenfalls keine unabwendbare Naturkatastrophe, sondern ein Geschäft, das gegen den Willen der Verkäufer nicht zustande gekommen wäre.

Katar ist keine Bedrohung, auch nicht für die dort stattfindende Weltmeisterschaft. Tatsächlich ist Katar in erster Linie ein Zerrspiegel, in dem die westliche Welt mitsamt ihrer Ökonomie, ihrer moralischen Doppelzüngigkeit und ihrem Verlust an Orientierung und Ambitionen sich selbst erkennt und vor sich selbst zurückschreckt. Die Kritik an Katar wird an zwei großen Themensträngen festgemacht: Zum einen werden Zustände wie Unterdrückung, fehlende Demokratie und miserable Arbeitsbedingungen kritisiert, wie sie auch in vielen anderen und erheblich einflussreicheren Staaten (leider) an der Tagesordnung sind. Hinzu kommt ein hohes Maß an Gier, Korruption und Vetternwirtschaft auf höchstem Niveau. Es ist also das Spiegelbild der westlichen Welt, das ungeschminkt ins Scheinwerferlicht der medialen Weltöffentlichkeit gezerrt wird.

Arroganz vermeintlicher Besserwisser

Es gibt aber einen weiteren Zusammenhang, in dem Katar einen hervorragenden Sündenbock und Buhmann abgibt: Es ist die Ambitioniertheit des katarischen Vorgehens, das zur Schau getragene Selbstbewusstsein und die grenzenlose Verfügbarkeit von Mitteln, mit denen der Mini-Staat der Welt vorführt, was möglich ist, wenn man etwas tatsächlich erreichen will. Es ist dieses unbeugsame Streben nach Erfolg und Fortschritt, dass der von Selbstzweifeln zerfressenen westlichen Welt übel aufstößt. Was hierzulande als Höher-Schneller-Weiter bestenfalls als altertümlich belächelt und verunglimpft, schlimmstenfalls kriminalisiert und verunmöglicht wird, ist in Katar wie auch an einigen anderen Orten Asiens und auch Afrikas tagtägliche Wirklichkeit und mit Händen zu greifen. Dort wird das Unmögliche in Rekordzeit möglich gemacht und im Wortsinn nach den Sternen gegriffen. Wir scheitern indes heute häufig daran, effizient Flughäfen zu errichten und grundlegende Verkehrssysteme instand zu halten. Viel lieber debattieren wir über die flächendeckende Errichtung unwirtschaftlicher Windmühlen und über den Schutz seltener Käferarten an Baustellen. Während in Katar in mit sauberer Solarenergie betriebenen und klimatisierten Fußballstadien um den WM-Titel gekämpft wird, werden in deutschen Wohnzimmern die Heizungen heruntergedreht. Man kann natürlich auf die Kataris schimpfen, weil es einfach ist, doch verantwortlich für diese Lage sind andere. Randnotiz: Dass die Klimakonferenz in Ägypten ebenfalls vollklimatisiert abläuft und ablaufen muss, scheint offenbar kein Stein des Anstoßes zu sein.

Das Unwohlsein gegenüber Katar, das zuweilen in offene Ablehnung ausartet, reflektiert die westliche Verunsicherung, die Zerrissenheit zwischen offenem Neid und moralisch begründeter (Selbst-)Ablehnung und die schleichende Erkenntnis des eigenen Niedergangs im Vergleich zu anderen Regionen der Welt. Was einst vom früheren Fifa-Chef Sepp Blatter als naiv-wohlgemeinte Globalisierung des Fußballs mit der Vergabe von Fußball-Weltmeisterschaften an nicht-europäische und nicht-südamerikanische Verbände wohlwollend beäugt wurde, wird inzwischen mit kulturpessimistischen und antiglobalen Argumenten bekämpft. Wie man darauf kommen konnte, die Weltmeisterschaft an ein Land zu vergeben, in dem kaum Fußball gespielt wird, lautet eine populäre Fragestellung im aktuellen Katar-Diskurs. Nun, warum denn eigentlich nicht? Der Sport kommt in Katar sicherlich nicht zu Schaden. Hier mischt sich ökologisch-verpackte Kritik mit lupenreinem Eurozentrismus.

Glücklicherweise entwickelt sich die Welt nicht so, wie sie von zeitgeistigen Macht-, Kultur- und Moraleliten gedacht und geplant wird. Und dies ist der Grund, warum ich diese Weltmeisterschaft genießen werde: Weil sie ein Zeichen dafür ist, das die Welt mehr zu bieten hat als kultur-moralisch-wutschnaubende Arroganz vermeintlicher Besserwisser und niederschmetternde Verzichts- und Boykottaufrufe zivilisations- und fortschrittsfeindlicher Paranoiker. Ich werde Fußball schauen, weil ich Fußball liebe – und ich werde das Fußballschauen als einen politischen Akt zelebrieren. Und ich kündige schon jetzt an, dies auch im Jahr 2026 so zu halten, ganz gleich, wer dann in den USA, in Mexiko und in Kanada an der Macht ist.

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